5
Später am Abend saß Jack im Lehnstuhl in seiner Bibliothek, trank ein Glas Brandy und hielt sich den schmerzenden Kopf. Der Tag hatte eigentlich hoffnungsvoll, halbwegs vielversprechend für ihn begonnen. Er war zuversichtlich gewesen, dass er richtig gehandelt hatte und sich alles bald einrenken würde.
Jetzt war er sich jedoch nicht mehr sicher, vielmehr bestand Grund zu der Annahme, dass er Clarice um Rat bitten musste, und zwar in den Angelegenheiten, bei denen er sich jede weitere Einmischung verbeten hatte.
Er schloss die Augen und versuchte entschlossen, das starke Pochen in seinem Kopf zu vertreiben. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie schwierig es werden würde, sie zu bezirzen und umzustimmen, aber niemand sonst, so hatte es den Anschein, konnte ihm bei irgendeinem Problem helfen.
Weder Howlett noch Mrs. Connimore oder Griggs. Und er brauchte sich erst gar nicht die Mühe zu machen, James darauf anzusprechen.
Er hatte Griggs nach einer angemessenen Mitgift für Mary Wallace gefragt, aber Griggs, ein eingefleischter Junggeselle, der sein Leben lang auf dem Gut gearbeitet hatte, hatte nie zuvor mit so etwas zu tun gehabt und wusste daher nicht mehr als er.
Die Sache auf sich beruhen lassend, hatte er sich nach Jones und seinem Angebot erkundigt. Griggs hatte bestätigt, dass Jones in den vergangenen fünf Jahren hergekommen war, den er als anmaßend und als schwierigen Verhandlungspartner erlebt hatte. Daher hatte Griggs sich Hilfe suchend an Lady Clarice gewandt, die ihm geholfen hatte, Jones loszuwerden. Aber in den vergangenen Jahren hatte Clarice auf Griggs Bitte hin allein mit Jones verhandelt. Griggs bestätigte, dass bislang nichts von der Apfelernte von Avening an Jones gegangen war. Die Sonderzahlungen, die sie für die Ernte erhalten hatten, stammten von den Händlern in Gloucester, mit denen Clarice über Griggs korrespondiert und im Namen der Bauern von Avening verhandelt hatte.
Griggs jedoch kannte sich nicht mit den Einzelheiten von Clarice’ Übereinkunft mit den Händlern aus Gloucester aus.
Die Lage ähnelte einem Schlachtfeld, auf dem jeder Schritt verheerende Folgen haben konnte.
Ohne Kenntnis dessen, was Clarice wusste, konnte er nicht angemessen auf die Schwierigkeiten reagieren. Als er an die Szene im Obstgarten dachte, nicht nur an seine Worte, sondern auch an seinen Tonfall, schloss er die Augen und stöhnte.
Er würde wohl oder übel zu Kreuze kriechen müssen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, überlegte er sofort, wie er am besten vorging, ohne dass sein Stolz zu großen Schaden nahm. Bei jeder anderen Frau hätte er sich keine größeren Sorgen gemacht, hätte sich auf seinen Charme verlassen, aber bei Boudicca … er hatte ihr diesen Spitznamen nicht ohne Grund gegeben.
Nachdenklich nippte er beim Frühstück an seinem Kaffee, als ein Lakai kam, um den Tisch abzuräumen. Jack beobachtete die vertraute Szene, war in Gedanken aber woanders – bis der Lakai einen Silberlöffel in die Tasche seiner Livree steckte.
Jack richtete sich auf, ließ die Tasse sinken und starrte den Lakaien an. Der Mann, der einen Stapel Geschirr in den Händen hielt, drehte sich gerade um, um das Zimmer zu verlassen.
»Einen Moment.« Der Mann war neu im Haus, Jack kannte ihn jedenfalls nicht und wusste auch nicht seinen Namen.
Der Mann drehte sich gehorsam zu Jack um, seine Miene war ausdruckslos, wie man es von Lakaien erwartete.
»Mylord?«
Jack deutete zum Tischende.
»Stellen Sie die Sachen dort ab.«
Der Lakai tat, wie ihm geheißen.
»Wie heißen Sie?«
»Edward, Mylord.«
»Leeren Sie Ihre Taschen, Edward.«
Edward blinzelte und gehorchte langsam. In seiner Miene spiegelte sich Verwirrung wieder, als er den Silberlöffel hervorholte. Er starrte ihn an, als handelte es sich um eine Schlange.
Jack lehnte sich zurück.
»Läuten Sie nach Howlett.« Er sprach mit ruhiger tonloser Stimme und beobachtete, wie Edward nunmehr ängstlich zur Klingelschnur ging und daran zog.
Eine Minute später erschien Howlett. »Ja, Mylord?«
Er blickte Edward kaum an, aber nachdem er Jacks Gesicht gesehen hatte, schaute er noch einmal hin.
Edward ließ den Kopf hängen.
Jack seufzte innerlich.
»Ich habe soeben mit eigenen Augen beobachten müssen, wie Edward mit einem Silberlöffel in seinem Rock das Zimmer verlassen wollte. Ich schlage vor, Sie begleiten ihn aus dem Haus.« Damit erhob Jack sich und ging an Edward vorbei zur Tür. Neben Howlett blieb er stehen. »Holen Sie von Griggs den Lohn, der ihm zusteht, und schicken Sie ihn fort.«
Howletts Augen waren weit aufgerissen.
»Äh … ja, Mylord.« Er wirkte erschüttert, ja bestürzt.
Jack nickte und ging in die Diele und wunderte sich. Dachte Howlett etwa, dass er ihn verantwortlich machte, einen nicht vertrauenswürdigen Diener eingestellt zu haben? Sicher nicht! Edwards Akzent verriet, dass er aus London kam; es war leicht, eine ruchlose Vergangenheit zu verbergen, wenn man den Wohnort wechselte.
Immer noch unsicher, wie er Clarice am besten ansprechen sollte, trat Jack auf die Terrasse, um frische Luft zu schnappen. Auf der anderen Seite des sorgsam gestutzten Rasens lockte der Rosengarten, und er gab der Versuchung nach. Obwohl er wusste, dass er sich noch schuldiger fühlen würde, weil er ihr angesichts ihrer Hilfe nicht mehr Dankbarkeit entgegengebracht hatte, begab er sich dorthin.
Eine halbe Stunde später kehrte er zurück und traf auf Howlett und Mrs. Connimore, die offenbar auf ihn gewartet hatten. Howlett ergriff das Wort, als er die Eingangshalle betrat. »Wenn wir einen Moment mit Ihnen sprechen könnten, Mylord?«
Jack winkte sie ins Arbeitszimmer. Howlett schloss die Tür und stellte sich neben Mrs. Connimore vor den Schreibtisch.
Jack blieb auch hinter dem Schreibtisch stehen und musterte sie.
»Worum geht es?«
»Um Edward, Mylord.« Mrs. Connimore wechselte einen Blick mit Howlett, dann holte sie tief Luft und sah Jack in die Augen. »Für den Moment ist er noch in seinem Zimmer, aber… bevor wir ihn fortschicken, wie Sie es angeordnet haben, könnten Sie da…« Mrs. Connimore rang die Hände, dann platzte sie heraus: »Würden Sie bitte seinetwegen mit Lady Clarice sprechen?«
Howlett räusperte sich, er fühlte sich ebenfalls sichtlich unwohl.
»Es gibt etwas, das Sie über Edward wissen sollten, Mylord, aber es steht uns nicht zu, es Ihnen zu sagen.«
Jack blickte vom einen zum anderen. Beide kannten ihn von Geburt an und rieten ihm dringend, sich mit Lady Clarice zu beraten, ehe er einen groben Schnitzer beging …
Erbitterung wallte in ihm auf, verschwand aber sogleich wieder. Weder Howlett noch Connimore neigten zu unvernünftigem Handeln, und niemand wusste, was zwischen ihm und Clarice vorgefallen war. Und dies stand nun störend zwischen ihnen; und, nach einer halben Stunde im beschaulichen Rosengarten, musste er zugeben, dass es seine eigene Schuld war. Seine Reaktion war von Anfang an unverhältnismäßig heftig gewesen, und er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er sich bei einer weniger Ehrfurcht gebietenden Frau nicht zu einer solchen Reaktion hätte hinreißen lassen.
Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und nickte.
»Nun gut. Ich werde mit Lady Clarice sprechen und mich mit ihr über den Vorfall mit Edward beraten.«
Mrs. Connimore seufzte erleichtert.
»Danke, Mylord. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich.«
»Ganz gewiss nicht, Mylord.« Howlett lächelte ebenfalls erleichtert.
Sie verließen das Arbeitszimmer und machten sich wieder an ihre Arbeit und überließen es Jack, sich zu wundern, was um alles in der Welt hier vor sich ging – warum seine normalerweise verlässlichen und übertrieben korrekten Bediensteten mit einem Mal der Ansicht waren, dass es eine gute Sache sei, dass ein Mitglied der Dienerschaft ein Dieb war.
Es gab nur einen Weg, eine Antwort darauf und auf alles andere zu erhalten, das ihn in den vergangenen vierundzwanzig Stunden geplagt hatte. Und es brachte gewiss nichts, noch länger zu trödeln. Ihm war noch kein perfekter Weg eingefallen, Boudicca anzusprechen, ohne dass er sich ihren Zorn zuzog; vielleicht war dieses letzte Problem der Ausweg aus seiner misslichen Lage. Wenn sie ihm erklären musste, warum er einen Dieb unter seinen Dienern hatte, würde sie vielleicht das Nachsehen haben.
Bei ihr würde er Hilfe von jedem und allem annehmen.
Er machte sich auf den Weg zum Pfarrhaus. Einem Impuls folgend verließ er, nachdem er durch das Tor von Avening Manor gekommen war, die Straße und ging durch die Lücke in der Hecke. Er fragte sich, ob Clarice erraten hatte, von wem diese Lücke stammte. Als Junge war er verrückt nach Militär und Soldaten gewesen, und James war zwar nicht sein Idol gewesen, aber doch jemand, der ihn inspiriert hatte. Mit dem Segen seines Vaters hatte er zahllose Nachmittage zu James’ Füßen hockend verbracht und gebannt seinen Schilderungen dieser Schlacht und jenes Feldzuges gelauscht. Strategisches Denken hatte er von James gelernt, ebenso wie einen großen Teil des Verständnisses und der Geduld, die ihn dazu befähigt hatte, die letzten dreizehn Jahre zu überleben.
Er ging an der Eiche vorbei und überquerte das Feld, während er in Gedanken ganz mit seinen Fragen beschäftigt war. Als er zu dem Durchgang in der Hecke kam, schaute er auf.
Eine Bewegung zu seiner Linken lenkte seinen Blick dorthin. Das Haus lag rechts von ihm, die Gärten dahinter erstreckten sich bis zu mehreren Gemüsebeeten am Ende des Grundstückes. Zwischen ihnen und der schattigen Rasenfläche lag ein Grasstreifen, der von der Sonne beschienen war und über den Wäscheleinen gespannt waren. Die Bewegung, die er aus den Augenwinkeln bemerkt hatte, war ein Laken gewesen, das jemand glatt strich, abnahm und zusammenlegte.
Es war Boudicca.
Die Vorstellung, dass die Tochter eines Marquis Wäsche abnahm, faszinierte ihn, und er schlug ihre Richtung ein, ehe er nachdenken konnte. Die Wäscheleine war weit genug vom Haus entfernt, damit sie ungestört sein konnten. Zu dieser Stunde war es unwahrscheinlich, dass jemand im Küchengarten dahinter war.
Sie hörte seine Schritte und schaute auf. Ihre Blicke trafen sich. Ihre Miene wurde kühl und ausdruckslos wie eine Marmormaske, unergründlich und undurchschaubar … ein Schutzwall. Sie griff nach der nächsten Wäscheklammer und schüttelte den Kopfkissenbezug aus.
Innerlich seufzte er und ging um die gespannte Leine herum zu der Stelle, wo eine niedrige Steinmauer die Rasenfläche von den Gemüsebeeten trennte.
»Guten Morgen, Lady Clarice.«
»Guten Morgen, Lord Warnefleet. James finden Sie wie gewohnt in seinem Studierzimmer.«
Er unterdrückte eine unwillkürliche Reaktion auf ihre kühle und abwehrende Begrüßung und setzte sich ein Stück weit entfernt auf die Mauer.
»Ich bin gekommen, um Sie zu sehen.«
Darauf erwiderte sie nichts.
Er beobachtete, wie sie den Kissenbezug zusammenfaltete und in einen Korb zu ihren Füßen legte. Als sie nach der nächsten Klammer griff, fragte er: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, warum ich in meinen Diensten den Lakai Edward habe, der aus London stammt und offenbar ein Dieb ist?«
Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu und schaute dann wieder auf die Wäsche vor sich.
»Er ist Griggs’ Neffe.«
Jack blinzelte verwirrt. Eine Antwort, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte.
»Griggs’ Neffe?« Griggs war so ehrlich und korrekt, wie man es sich nur wünschen konnte.
»Sein einziger lebender Verwandter.« Nachdem sie ein widerspenstiges Laken erfolgreich zusammengefaltet hatte, sprach sie weiter. »Griggs hat vor etwa zwei Jahren die Nachricht erhalten, dass seine Schwester gestorben war. Er machte sich Sorgen um ihren Jungen, ihr einziges Kind. Der Vater war nicht lange genug bei ihr geblieben, um die Vaterschaft anzuerkennen.« Sie legte das nächste Wäschestück zusammen und schaute Jack ins Gesicht. »Griggs ist alt. Er hat sich solche Sorgen gemacht, sich so aufgerieben, dass wir uns um seine Gesundheit zu sorgen begonnen haben. Mit Hilfe von James und über die Kirche haben wir den Jungen, eben Edward, ausfindig gemacht und ihn hergeholt. Nach einer Weile stellten wir fest, dass er stiehlt, aber…« Sie machte eine Pause, die Lippen zusammengepresst, dann fuhr sie fort: »Das Stehlen ist offenbar zwanghaft. Er scheint einfach nicht aufhören zu können, und genau genommen sind wir uns nicht sicher, ob er überhaupt weiß, dass er etwas genommen hat.«
Jack erinnerte sich wieder an die Verblüffung auf Edwards Gesicht, als er den Löffel aus seiner Tasche geholt hatte. »Aber …« Er runzelte die Stirn. »Er ist trotzdem ein Dieb.«
»Ja, aber er ist auch die einzige Familie, die Griggs hat. Alle auf Avening Manor, mit Ausnahme natürlich von Griggs, wissen, dass Edward sich Sachen einsteckt. Jede Woche durchsuchen Connimore und Howlett seine Kammer und bringen die Sachen zurück, die er genommen hat, dorthin, wo sie hingehören. Edward ist jetzt seit mehr als anderthalb Jahren im Haus, und in der ganzen Zeit ist nichts dauerhaft verschwunden.«
Jack setzte sich und dachte über das Gehörte nach. Er betrachtete den Fall von allen Seiten und erwog, welche Wege ihm offenstanden … und kam schließlich zu der Einsicht, dass er wohl Edward erlauben musste, weiter als Lakai für ihn zu arbeiten. Griggs war zu alt und gebrechlich. Er lag allen im Haus und besonders Jack zu sehr am Herzen, als dass er seinen inneren Frieden leichtfertig gefährden wollte.
»Was werden Sie seinetwegen unternehmen? Wegen Edward?«
Jack schaute zu Clarice, die geschäftig Servietten faltete. Er blies die Backen auf und grinste.
»Nichts – was sonst?«
Er hatte den Eindruck, als hätte sie gelächelt – nur flüchtig. »Gibt es Probleme mit James’ Hausmädchen?«
Sie warf ihm einen Blick zu.
»Warum fragen Sie? Weil ich Wäsche abhänge?«
Er nickte.
»So wenig vertraut ich zugegebenermaßen mit dem bin, was vornehme Damen so tun«, er beachtete ihr ungläubiges Schnauben nicht weiter, »so bin ich mir doch recht sicher, dass Wäsche zu waschen keine offiziell abgesegnete Betätigung für höhere Töchter ist.«
»Die höhere Tochter empfindet die Tätigkeit als entspannend. Während meine Hände etwas zu tun haben, kann ich nachdenken.«
Er sehnte sich danach, sie zu fragen, worüber sie nachdachte. Stattdessen schaute er ihr eine Weile zu, wie sie geschickt die Klammern von der Leine pflückte, die Wäschestücke ausschüttelte und zusammenlegte, und entschied, dass sie recht hatte. Die schlichte Hausarbeit hatte etwas Beruhigendes.
»Es gibt eine Reihe von Punkten, bei denen ich Sie um Rat fragen muss.« Die Worte kamen ihm ohne größere Mühe über die Lippen und ohne dass er lange nachdenken musste. Er hielt inne, überlegte und entschied dann, dass er die richtigen Worte gewählt hatte, es war schließlich die Wahrheit.
Sie blickte ihn kurz an, aber er konnte nichts in ihren Augen oder ihrem Gesicht lesen.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel der Blumenschmuck für die Kirche.« Seine Erbitterung war deutlich zu hören. Um ihre Lippen spielte ein leises Lächeln, und eine heiße Welle unerwarteter Lust durchdrang ihn. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie sich anfühlte, wie sie schmeckte. Seine Gereiztheit verlieh seinem Ton eine gewisse Schärfe. »Können Sie mir erklären, was es mit diesem vertrackten Turnus auf sich hat?«
Clarice seufzte, schüttelte ein weiteres Laken aus und ließ ihren Blick vom Garten zum Haus wandern.
»Es geht um Ansehen, fürchte ich.«
Und dann erklärte sie ihm genau, was hinter Mrs. Swithins’ Wunsch steckte, bevorzugt zu werden. »Der arme Swithins – seine Mutter hatte so viel mehr von ihm erwartet, aber obwohl er lediglich ein Hilfsgeistlicher ist, ist sie wild entschlossen, das meiste daraus zu machen, ja, aus dem Status im Dorf, den ihr seine Stellung verschafft, das Maximale herauszuholen. Die Kirche für die Sonntagsmesse, die wichtiger ist als die Mittwochsmesse, mit Blumen zu schmücken, ist nur eine Feder, die sie entschlossen ist, sich an ihren Hut zu stecken.«
»Und so Betsy, Mrs. Candlewick und Martha vor den Kopf zu stoßen.«
Sie blickte zu Jack.
»Nicht nur den dreien. Sie werden feststellen, dass Mrs. Swithins auf die eine oder andere Weise mit nahezu allen weiblichen Wesen in der Gemeinde auf Kriegsfuß steht.«
Er stöhnte.
»Solange ich nicht ständig zwischen ihnen vermitteln muss.«
Darauf sagte sie nichts. Sie war sich seiner Nähe überdeutlich bewusst, wie er da keine zwei Meter von ihr entfernt, groß, schlank und unglaublich vital, auf der Mauer saß und sie beobachtete.
»Und was ist mit Ihnen?«, erkundigte er sich. Sie schaute ihn an und fand einen verdächtig unschuldigen Blick auf sich gerichtet. »Versucht Mrs. Swithins auch Sie herumzukommandieren?«
Sie schaute ihm in die Augen. Dann schüttelte sie eine Serviette aus, das Tuch knallte wie ein Peitschenhieb.
»Noch nicht einmal Swithins ist so dumm.« Sie faltete die Serviette, bückte sich und legte sie in den Korb. »Nein, zu mir ist sie von kriecherischer Freundlichkeit, die ich ebenso lästig finde.« Sie blickte ihn an, bemerkte erschreckt, dass seine Augen tiefer gewandert waren – zu ihrem Busen, der in dem Ausschnitt halb zu sehen war. Rasch richtete sie sich auf. »Hat sie sich Ihnen gegenüber nicht genauso verhalten?«
Er rümpfte die Nase; sein Blick kehrte langsam wieder zu ihrem Gesicht zurück.
»Ja, jetzt, da Sie es erwähnen … Sie könnte sich im Speichellecken mit den Besten messen.«
Sie wandte sich wieder der Wäscheleine und der nächsten Serviette zu. Sie würde ihre Perlen darauf wetten, dass er überhaupt nicht bemerkt hatte, dass er ihren Busen angestarrt hatte.
»Was also sollte ich wegen des Turnus’ unternehmen?«
Sie nahm die Serviette ab, faltete sie und hielt den Blick darauf gerichtet.
»Sagen Sie allen, dass Sie nach reiflicher Überlegung beschlossen haben, wieder zu dem ursprünglichen Turnus zurückzukehren. Swithins bekommt jeden zweiten Sonntag und Mittwoch, dann bleiben den anderen drei die restlichen Sonntage und Mittwoche. Mrs. Cleever und die Dienstmädchen hier, alle außer Mrs. Swithins, nehmen Blumen von Avening Manor, um die Kirche zu schmücken.«
Ohne ihn anzusehen, ließ sie die Serviette in den Korb fallen und griff nach einem Tischtuch.
»Nun gut. Kommen wir zum nächsten Punkt: Wie hoch sollte Mary Wallace’ Mitgift sein?«
Sie blickte ihn an, konnte aber überraschenderweise keine Anzeichen von Verärgerung entdecken, dass er gezwungen war, seine Entscheidung zu widerrufen und zu dem von ihr bestimmten Turnus zurückzukehren. Sie hob höflich die Brauen.
Er erklärte: »Wallace hat mir erzählt, seine Mary und Roger Hawkins wollen heiraten. Ich nehme an, das hat er Ihnen bereits gesagt?«
»Das wissen alle hier, aber ich habe nicht weiter nachgefragt.«
»Er versucht sich über die angemessene Höhe der Mitgift klar zu werden – unter Berücksichtigung der Verbindung, der zukünftigen Eheabsichten seiner anderen Töchter und des Erbes seines Sohnes, aber ich habe keine Ahnung, welche Summe angemessen wäre.«
Sie schaute über seine Schulter hinter ihn, während sie das Tischtuch zusammenlegte, rechnete im Geiste.
»Dreißig Guineen. Das ist eine hübsche Summe, die Wallace sich leisten kann, nicht nur für Mary, sondern auch später für ihre Schwestern. Eine solide Unterstützung für ein junges Paar, und Hawkins kann ebenfalls so viel beisteuern, ob nun in Münzen oder in anderer Form.« Sie erwiderte Jacks Blick. »Es ist wichtig, dass keine Familie es mit der Großzügigkeit übertreibt.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Daran hatte ich nicht gedacht.«
Das Leuchten in seinen Augen, als sie einander ansahen, freute sie auf fast schon alberne Weise. Beinahe konnte man meinen, er sei dankbar für ihr Einfühlungsvermögen, ja, als schätzte er es.
»Gut. Dann wäre als Nächstes Jones, der Apfelhändler an der Reihe.«
»Jones?« Sie machte eine Pause und dachte kurz nach. »Ja, ich denke, er kommt immer zu dieser Zeit.«
»Was hat es mit ihm auf sich? Griggs hat mir berichtet, Sie hätten mit dem Mann für ihn in den vergangenen drei Jahren die Verhandlungen geführt.«
Clarice legte das Tischtuch in den Korb, strich es glatt, während ihre Gedanken rasten. Er hatte zwar ihren Rat im Falle des Blumenturnus und wegen Marys Mitgift angenommen, aber diese Angelegenheit, bei der sie gewissermaßen direkt in seine Rechte eingegriffen hatte, war wesentlich heikler und würde viel eher an seinem männlichen Stolz kratzen.
Aber warum sollte sie das kümmern? Männer, besonders solche seines Standes, hatten sich schließlich nie um ihren Stolz geschert.
Sie atmete tief durch, richtete sich auf und erwiderte seinen Blick.
»Das Erste, was Sie über Jones wissen müssen, ist, dass er auf andere Druck ausübt – jedenfalls auf die, die er glaubt, einschüchtern zu können.«
Seine Augen wurden schmal.
»Sie offensichtlich nicht, aber Griggs?«
Sie nickte und wandte sich wieder der Wäsche zu.
»Das erste Jahr, in dem Jones hier auftauchte, vor fünf Jahren war das, kam Griggs völlig aufgelöst zu mir. Er stand kurz davor, einfach so Jones die gesamte Apfelernte zuzusagen, weil er glaubte, es bliebe ihm nichts anderes übrig.« Ihre Lippen wurden schmal, als sie daran dachte. »Ich bin eingeschritten und habe mir von Jones alles noch einmal erklären lassen. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass die Situation und Jones’ Angebot nicht ganz so waren, wie er es dargestellt hatte.«
»Wie genau sah denn sein Angebot damals aus? Dieses Mal ist es ein Schilling pro Scheffel über dem aktuellen Marktpreis.«
Sie nickte.
»In jenem Jahre waren es acht Penny mehr. Es ist natürlich ein Schwindel, in gewisser Weise wenigstens. Nicht, dass Jones und seine Hintermänner nicht zahlen würden, was sie versprechen, aber sie bezwecken damit noch etwas anderes. Sie brechen die bewährte Handelsbeziehung zwischen den Obstbauern in Avening und den Händlern von Gloucester auf. Avening beliefert mehr als zwanzig Prozent des Marktes in Gloucester. Wenn die Ernte statt dorthin an Jones verkauft wird, wären die Händler in Gloucester gezwungen, sich andere Lieferanten zu suchen – sie könnten den Ausfall nicht anders auffangen. Aber sobald sie neue Lieferabkommen mit anderen Bauern getroffen hätten, würde Avening in der nächsten Saison an Jones verkaufen müssen, weil der Markt in Gloucester nicht mehr auf die Ernte von Avening angewiesen wäre.«
»Also könnten dann Jones und seine Auftraggeber jeden Preis bieten, der ihnen gefällt, und Avening müsste zu diesem Preis verkaufen, auch wenn es dann ein Schilling unter dem Marktpreis ist.«
»Exakt.« Sie schüttelte einen weiteren Kissenbezug aus. »Die Händler in Gloucester haben immer faire Preise gezahlt. Sie haben sich zusammengeschlossen, und sie haben kein Interesse daran, unvernünftig zu feilschen, besonders da Avening zu ihren verlässlicheren Lieferanten zählt, sowohl in Hinblick auf die Menge als auch auf die Qualität der Äpfel.«
Er schwieg einen Moment, dann stand er auf. Sie blickte ihn an, als er näher trat, die Hände in den Taschen. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte, aber sein Blick war auf den Boden gerichtet.
»In den letzten vier Jahren hat es Mehreinnahmen bei der Apfelernte gegeben. Griggs sagt, sie stammten von den Händlern in Gloucester. Wie kam es dazu?«
Jetzt wurde es immer komplizierter. Sie holte einmal tief Luft und sagte:
»Als Jones im zweiten Jahr wieder auftauchte, begriff ich, dass er nicht aufgeben würde. Daher habe ich den Händlern in Gloucester geschrieben und, ohne eine genaue Summe zu nennen, die Lage geschildert, erwähnt, wie hin- und hergerissen die Obstbauern hier sind, dass wir natürlich am liebsten weiter Gloucester beliefern würden, wir aber andererseits auch Geld für Verbesserungen benötigten und so weiter.«
»Und so haben sie ihr Angebot erhöht.«
»Ja und nein.« Sie schaute ihn an. »Wir haben uns auf eine Staffelung geeinigt. Sie haben in den vergangenen vier Jahren eine sinkende Prämie gezahlt, aber in der Zeit ist der Gesamtertrag von Avening angestiegen. Es sind mehr Bäume gepflanzt worden. Wir haben die Prämie auf Basis der Ernte aufgeteilt und dann allen Bauern geraten, das Geld für den Ausbau der Anbaufläche für Obstbäume zu verwenden. Das haben sie getan.«
Jack dachte an die Zahlen, die er den ganzen gestrigen Tag zu verstehen versucht hatte.
»Also wo stehen wir jetzt?«
»Nun, in diesem Jahr werden wir die gewohnte Apfelernte an die Händler in Gloucester liefern können, zu dem üblichen Marktpreis, und können gleichzeitig ungefähr die gleiche Menge an Jones verkaufen, zu seinem überhöhten Preis.«
Man musste nicht sonderlich viel rechnen, um zu erkennen, was für ein warmer Regen das für die Apfelbauern von Avening sein würde.
»Und nächstes Jahr?«
»Wenn Jones versucht, niedrigere Preise durchzusetzen, müssen wir ihn nicht beliefern – die Händler aus Gloucester werden uns die Äpfel zum Marktpreis abnehmen.«
»Das ist brillant.« Jack sagte das ganz unüberlegt, aber es entsprach der Wahrheit. Er sah sie an, zögerte, dann fügte er leiser hinzu: »Ich nehme an, Avening würde besser dastehen, wenn ich mehr rückgängig machte als den Turnus für den Blumenschmuck der Kirche.« Er atmete tief ein, erstaunt, dass seine Lungen sich so eng anfühlten, und zwang sich, weiterzusprechen. »Vielleicht kehren wir einfach grundsätzlich dazu zurück, wie die Dinge gehandhabt wurden, bevor ich zurückkam. Sie haben alles so gut im Griff gehabt, dass ich es eindeutig in Ihren Händen belassen kann.«
Diese Hände mit der zarten Haut und den schmalen Fingern, die bis dahin unermüdlich Servietten zusammengelegt hatten, verharrten. Er stand fast Schulter an Schulter neben ihr, aber sie schaute nicht hoch, und er konnte keine Reaktion auf seine Worte in ihrem Profil erkennen.
Es war ihm gelungen, dass seine Äußerung ganz sachlich geklungen hatte.
Clarice zog das Schweigen in die Länge, während sie sich nur zu bewusst war, dass er sehr dicht neben ihr stand. Wenn sie nur an sich dachte, war sein Angebot in der Tat verlockend und sogar vernünftig. Wenn sie wieder die Verantwortung trug, würde das das Leben aller hier wieder einfacher machen, bequemer, so wie es vorher gewesen war … aber was war mit ihm?
Sie sah ihn an und merkte, dass sie ihn durchdringend anblickte. »Sie gehen wieder?«
Er hielt ihrem Blick stand.
»Nein.«
Sie nickte und wandte sich wieder der Serviette in ihrer Hand zu … dann zwang sie sich, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich will Ihre Stellung nicht. Ich habe keinen wie auch immer gearteten Ehrgeiz, der Herr hier zu sein.«
Er blinzelte, seine Lider mit den unwahrscheinlich langen Wimpern senkten sich über die ausdrucksvollen haselnussbraunen Augen. Dann hob er sie wieder und erwiderte ihren Blick ebenso offen, ebenso ernst.
»Ich möchte Ihre Stellung auch nicht.« Seine Lippen zuckten; sie musste sich Mühe geben, sie nicht anzustarren. »Genau genommen, nach meinem kurzen Abenteuer mit den Damen der Pfarrgemeinde vermute ich sogar, dass, wenn ich Ihre Position übernehmen würde, mich das binnen einer Woche in den Wahnsinn treiben würde.«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog. Sie schaute nach unten und ließ die Serviette auf die Wäsche im Korb fallen.
»Vielleicht…« Er klang unentschieden – unsicher, wie sie reagieren würde. »Im Interesse von Avening könnten wir – Sie und ich – doch eine Übereinkunft treffen.«
Jetzt war sie an der Reihe, erstaunt zu blinzeln. Sie sah ihn an; seine Augen verrieten ihr, dass es ernst meinte, aber wie sie war er sich nicht sicher, wie so eine Übereinkunft – zwischen ihm und ihr – funktionieren würde. Dennoch hatte er ihre Gedanken laut ausgesprochen. Wenn sie es beide wollten, konnten sie vielleicht miteinander auskommen… irgendwie.
»Was hatten Sie im Sinn?« Sie gab sich keiner Illusion hin, wusste, dass er ein arroganter, befehlsgewohnter Herr ihres gesellschaftlichen Ranges war. Allerdings war er nicht so übel wie andere seines Standes, und schließlich war es sein Vorschlag. Sie war nicht bereit, sich aus Prinzip ins eigene Fleisch zu schneiden.
Er betrachtete sie; etwas an dem Ausdruck seiner Lippen, die kühle Geradlinigkeit seines Blickes, versicherte ihr, dass sie mit ihrem früheren Eindruck, dass er sie durchschaute, nicht ganz falschlag. Er schätzte ihre Stärke und wusste, wie eisern ihr Wille sein konnte.
Er hatte ihr ganz bewusst ein Angebot gemacht – und ging noch weiter.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr fast ein wenig schwindelig.
Seine Brauen hoben sich nachdenklich.
»Alles, was ich vorschlagen kann, ist, dass wir es drauf ankommen lassen und von Fall zu Fall entscheiden. Sie gehören kaum zu den Leuten, die stumm vor sich hin leiden.« Sein schelmisch einnehmendes Lächeln blitzte auf. »Und ich auch nicht. Warum probieren wir es nicht einfach und befassen uns damit, wenn es so weit ist?«
Das war die einzig vernünftige Lösung. Sie nickte knapp, wie um ein Geschäft abzuschließen, und hielt ihm die Hand hin. »Einverstanden.«
Sein Blick senkte sich auf ihre Hand und wanderte wieder zu ihrem Gesicht hoch. Seine Finger schlossen sich um ihre. Er hielt sie fest und zog sie mit einer fast anmutigen Bewegung an sich.
Ehe sie nach Luft schnappen konnte, lag sie in seinen Armen, ihr Busen an seiner Brust; ihre Augen weiteten sich, als er den Kopf senkte.
»Einverstanden«, stimmte er zu. Seine Lippen verzogen sich zu einem vollkommen männlichen Lächeln, dann pressten sie sich auf ihre, nahmen sie gefangen.
Vollkommen gefangen. Sie begriff nicht, wie das geschehen konnte, wie er es anstellte, aber in dem Moment, als seine Arme sich um sie schlossen und seine Lippen ihre berührten, wankte der Boden unter ihr.
Heute Morgen hatte sie immer noch ein leises Gefühl des Verletztseins gespürt und sich in Erinnerung gerufen, dass seine Einstellung ihr gegenüber sie nicht überraschen sollte. Herren aus ihren Kreisen mochten Frauen nicht, die die Führung übernahmen – gleichgültig, wie erfolgreich sie waren. Aber tief in ihrem Inneren, dort, wo sie das verbarg, was sie als ihr unverbesserliches Ich bezeichnete, war sie doch enttäuscht gewesen.
Seine Lippen wurden fester, und sie erwiderte den Druck, spürte, wie dieser Teil von ihr ihrer eisernen Kontrolle entglitt und übermütig tanzte.
Dieser sinnliche Austausch hatte eigentlich nichts mit der Abmachung zu tun, die sie getroffen hatten, aber trotzdem war diese Abmachung sowohl faszinierend als auch verlockend.
Irgendwie unerwartet.
Wie er auch.
Seine Arme schlossen sich um sie, er presste sie langsam, aber unaufhaltsam fester an sich – und sie gab nach. Ohne zimperliches Zögern, sondern wissentlich. Sie legte ihre Arme auf seine breiten Schultern, nahm seinen Nacken zwischen ihre Hände und küsste ihn wieder. Dann öffnete sie die Lippen und ließ ihn die Führung übernehmen, wohin auch immer.
Sie versanken in einem Strudel, der Hunger und Verlangen verriet, in dem sie gegenseitig ihre Lust stimulierten.
Tiefe Gefühle übermannten sie, von denen sie immer gedacht hatte, sie würden ihr verwehrt bleiben. Gefühle, die sie, obwohl sie sie nie erlebt hatte, sehr wohl kannte.
Er verbarg nichts, spielte ihr nichts vor, ließ sie sein Verlangen, seinen Hunger spüren. Ließ seinem Begehren freien Lauf und liebkoste sie mit seinen heißblütigen Fingern.
Um ihre Lust zu wecken. Sie auf eine Weise zu erregen, wie es ihr nie zuvor passiert war. Körperliches Verlangen hatte sie noch nie erlebt, und die Erkenntnis erstaunte sie. Er wurde fordernder – der Druck seiner Lippen, das raffinierte Necken seiner forschenden Zunge verstärkte sich –, und sie selbst, und nicht ihr närrisches, unverbesserliches Ich, gab sich ihm bewusst hin.
Warum sollte sie es nicht wissen, es nicht erleben? Warum sollte sie es sich nicht nehmen?
Sie schmiegte sich enger an ihn, Brust an Brust, Hüften an Hüften, Schenkel an Schenkel. Durch die schamlose Vereinigung ihrer Münder spürte sie seine Reaktion, ein kurzes Innehalten, während er Luft holte und um Selbstbeherrschung ringen musste. Sie hatte ihn mit ihrer zügellosen Reaktion aus der Fassung gebracht.
Faszinierend. Ihr wiederentdecktes Interesse an körperlicher Lust wuchs. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schickte sich an, die hitzigen Liebkosungen zu erwidern, mit denen er sie überschüttete.
Jack kam ihr entgegen, tat es ihr nach und rang mit ihr um die Vorherrschaft; ein Tauziehen, das keiner wirklich gewinnen konnte. Sie hielt seine Aufmerksamkeit derart gefangen, dass es ihm fast Angst machte. Er konnte nicht mehr klar denken. Mit ihr in seinen Armen, mit ihren Lippen auf seinen, ihrem Mund so freizügig dargeboten, einem sengend heißen und lustvollen Miteinander – einer unglaublich erregenden Mischung von Lippen, Zungen und heißem Atem – vernebelten ihm diese berauschenden Empfindungen den Verstand. Nur ein Gedanke kam ihm in den Sinn, der Gedanke, in sie einzudringen.
Er wollte, dass sie unter ihm lag, sich windend und aufbäumend, während sie ihn tief in ihren festen, verlockend üppigen Körper aufnahm, in ihre sengende weibliche Hitze.
Er wollte sie nackt und zügellos. Wollte sie mit einem Verlangen, einem elementaren Hunger, der ihn erschütterte. Der ihn so sehr lockte, dass er gar nicht so genau herausfinden wollte, warum es ausgerechnet sie sein sollte. Von all den Damen, mit denen er eine Affäre gehabt hatte oder die er nun haben konnte, war ausgerechnet der hochnäsige Quälgeist, mit dem er im täglichen Leben äußert vorsichtig würde umgehen müssen, war ausgerechnet sie diejenige, die ihn wie Zunder brennen ließ.
Alles, was er wusste, war, dass er mit ihr, für sie brannte.
Und sie wich keinen Millimeter zurück. Sie ermutigte ihn, nicht mit dem eifrigen Drängen einer jungen Frau, sondern mit der reifen, selbstsicheren, fast unverhohlenen Einladung einer Dame, die wusste, was sie wollte, die wusste, dass sie ihn wollte.
So wie er sie wollte. Sie war das perfekte Gegenstück zu ihm, die Antwort auf seine Wünsche und Sehnsüchte, die Nahrung für seinen Hunger.
Der Drang, seine Hände wandern zu lassen, den nächsten Schritt zu machen, den sie beide so eindeutig wünschten, blühte auf und wuchs … aber sie befanden sich im Freien, die zusammengelegte Wäsche neben ihnen im Korb. Jeder, der zufällig den Garten betrat und an den Bäumen vorbeiging, die den Rasen säumten, würde sie sofort entdecken. Eines der Hausmädchen konnte vorbeikommen, um sich zu erkundigen, ob Clarice Hilfe brauchte …
Aufzuhören, dem Verlangen Einhalt zu gebieten und sich von ihrem sinnlichen Mund zu lösen, erschien ihm als eine der härtesten Herausforderungen, die je an ihn gestellt worden waren.
Es gelang ihm, den Kopf etwas zu heben, spürte schmerzlich den Verlust ihrer Verbindung. Sein Verstand war immer noch gefesselt, seine ganze Konzentration galt ihr. Ihre Lider flatterten, dann hoben sie sich. Aus ihren dunklen Augen schaute sie ihn an.
»Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass Sie den Garten meiner Mutter wieder so schön hergerichtet haben.«
Das reichte als Vorwand, sie erneut zu küssen, sie ein letztes Mal zu kosten, die Leidenschaft, die in ihr schlummerte und eine starke Weiblichkeit ausstrahlte, genau die richtige Mischung aus arroganter Willenskraft und vielversprechender Verheißung, um seinen Hunger zu stillen.
Aber… er zog sich aus den Flammen zurück, ließ von der sengenden Verlockung ab. Behutsam löste er sich von ihr. Er musste sich zwingen, seinen Griff um sie zu lockern, sie loszulassen.
Sie holte Luft, trat zurück und öffnete die Augen, blinzelte und musterte ihn. Wie er schien sie verwirrt, und gleichzeitig war ihre Neugierde erwacht.
Er blickte ihr tief in die dunklen Augen und war sich bis in sein Innerstes bewusst, wie sich ihre Brüste hoben und senkten, während sie tief Luft holte. Er fühlte sich … nicht so sicher, wie er sich sonst immer in solchen Situationen fühlte.
Vermutlich weil sie es war – Boudicca. Besser, dies stets zu berücksichtigen.
Sein Blick fiel auf den Wäschekorb mit dem Berg zusammengelegter Wäsche. Er bückte sich und hob ihn hoch.
»Ich werde Ihnen den Korb zum Haus tragen.«
Sie sah ihn an, aber bis auf ein amüsiertes, alle Überheblichkeit unterdrückendes Zucken ihrer Lippen gab sie darauf keine Antwort. Sie war neben ihm, hielt mit ihren langen Beinen mühelos mit ihm Schritt, während sie unter den Bäumen und über den Rasen gingen.
Als sie die Veranda auf der Rückseite erreichten, hatten sie sich wieder in ihre gewohnten Rollen eingefunden; der gewohnte höfliche Abstand zwischen ihnen war wieder da. Er stellte den Korb auf den hölzernen Tisch neben der Hintertür und drehte sich zu ihr.
»Ich habe Jones gesagt, er solle morgen Nachmittag zurückkommen. Ich denke, es wäre am besten, wenn Sie bei dem Treffen dabei wären. Vielleicht könnten Sie mir morgen zum Lunch Gesellschaft leisten, dann hätten wir Zeit und Gelegenheit, zu besprechen, wie wir am besten mit ihm verfahren.«
Sie erwiderte offen seinen Blick offen und nickte.
»Gut.« Sie zögerte und sagte: »Wie gewöhnlich haben die anderen Obstbauern ihr Einverständnis gegeben, dass Avening Manor den Preis für das ganze Tal aushandelt. Griggs hat bestimmt bereits die Schätzungen von den anderen Bauern vorliegen, er wird eine Aufstellung über die zu erwartende Ernte haben.«
Er nickte zustimmend.
»Ich werde ihn um die Einzelheiten bitten.«
Wieder zögerte sie, dann fragte sie:
»Wie geht es dem jungen Mann?«
Er verzog das Gesicht.
»Immer noch bewusstlos.« Er erwähnte nicht, dass sein Zustand umso Besorgnis erregender wurde, je länger die Bewusstlosigkeit anhielt. »Ich nehme nicht an, dass Ihnen eingefallen ist, an wen er Sie erinnert?«
Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn.
»Ich … ich werde ihn mir morgen noch einmal ansehen.«
Jack vermutete, dass sie eigentlich vorgehabt hatte, heute Nachmittag vorbeizukommen, aber das hieße auch, dass sie ihm wieder begegnen würde… und das war zu früh, das sah selbst er ein.
Zu früh für sie beide.
Mit einer eleganten Verbeugung verabschiedete er sich von ihr. Er entfernte sich, während er sich ihres Blickes auf seinem Rücken überdeutlich bewusst war. Er ging durch die Lücke in der Hecke und tröstete sich damit, dass, was auch immer sich zwischen ihnen entwickelte, Boudicca mindestens ebenso verunsichert war wie er.
Am nächsten Tag verbrachte Clarice eine für sie ungewöhnlich lange Zeit damit, sich für den Lunch auf Avening Manor anzukleiden. Sie sagte sich, ihr dünnes apfelgrünes Musselinkleid mit dem herzförmigen Ausschnitt würde Jones’ Konzentration vermutlich stören, wunderte sich aber gleichzeitig über ihren neuen Hang zum Selbstbetrug.
Sie wusste genau, wen sie ablenken wollte und warum. Sie war selbst erstaunt über den Hunger, den sie in Jack weckte, und die Reaktion, die er bei ihr auslöste.
»Reine Neugier«, teilte sie ihrem Spiegelbild mit, als sie ihre Frisur überprüfte. Ihre geflochtenen und zu einem Knoten zusammengerollten Haare lagen schwer auf ihrem Nacken. Sie dachte an seine starken Finger, wie sie unter die Haare glitten, über ihre empfindsame Haut … und erschauerte.
»Ein vorübergehender Wahnsinn – der zweifellos wieder vergeht.« Mit diesem laut ausgesprochenen Urteil stand sie auf und öffnete die Tür ihres Schlafzimmers.
Mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf, der ihre helle Haut vor der Sonne schützen sollte, und einem leichten Schal über den Ellbogen, ging sie kurz darauf über die kurze Auffahrt vom Pfarrhaus zur Straße.
Eine Form von Wahnsinn. Ihre Einschätzung ihres Zustandes war unleugbar zutreffend. Sie wussten beide, dass sie hoch auf einem Drahtseil auf zwei verschiedenen Ebenen balancierten, was die Erregung noch zu steigern schien.
Die Gefahr.
Und sie wussten beide nicht, in welche Richtung sie sich bewegten, weder in Bezug auf die körperliche Anziehung, die zwischen ihnen aufloderte, noch was ihre »Abmachung« betraf. Ob Letzteres funktionierte, konnte man nur raten – sie waren es beide nicht gewohnt, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, und keiner von ihnen war geduldig oder anspruchslos. Sie besaßen beide eine gute Portion Arroganz, waren es gewohnt, die Führung und die Verantwortung zu übernehmen.
Was Ersteres anging … da war der Ausgang völlig offen.
Es war lange her, seit sie irgendetwas derart in den Bann gezogen hatte, wie wenn sie in seinen Armen lag.
Sie wusste nicht, was sie dachte, und musste sich erst noch eine Meinung bilden über das, was sie da eigentlich tat, was sie wollte. Die nackte Wahrheit war jedoch, dass sie, wenn sie in seinen Armen war, nicht denken konnte – überhaupt nicht, wie es aussah.
So eine Situation hätte sie beunruhigen müssen, das fand sie jedenfalls, aber das war nicht der Fall. Als sie in die Auffahrt zum Herrenhaus einbog, verspürte sie nicht den geringsten Anflug von Verzagtheit, und sie konnte auch keine innere Stimme ausmachen, die sie zur Vorsicht ermahnte und ihre Vorfreude dämpfte. Sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen, wollte wissen, was als Nächstes geschah. Und sie wollte beobachten, welche Wirkung sie auf ihn hatte, wollte erleben, welche Wirkung er auf sie hatte.
Es war schockierend.
Sie war neunundzwanzig, und es scherte sie keinen Deut.
Das Leben war längst an ihr vorbeigegangen. Solange weder er noch sie Schaden dabei nahmen, worin lag das Problem?
Zuversichtlich und selbstsicher erreichte sie die Haustür und läutete.
Howlett öffnete die Tür und lächelte strahlend.
Clarice erwiderte sein Lächeln und entdeckte Warnefleet – Jack – in der Eingangshalle hinter seinem Butler.
Fast schien ihr, als hätte er darauf gewartet, dass es läutete.
Howlett trat einen Schritt zurück, und sie kam herein. Ihre Miene war perfekt geschult – ruhig, gelassen und nur mit einem Anflug von Wärme und Herzlichkeit. Sie gab Jack die Hand und war sich überdeutlich bewusst, dass, als er sich darüberbeugte, sein Blick über sie glitt, von oben nach unten und langsam wieder zurück, als er sich aufrichtete.
Er lächelte, ein teuflisches Glitzern in den haselnussfarbenen Augen.
»Sie sehen hinreißend aus. Ich habe den Eindruck, dass Mrs. Connimore ein kleines Festmahl vorbereitet hat …«
Er brach ab und schaute zur Tür. Sie drehte sich um und blickte in seine Richtung, als das Rattern von Rädern auf der Auffahrt zu ihnen drang.
»Ich frage mich, wer das wohl ist …« Jack runzelte die Stirn. Er ergriff Clarice’ Hand und zog sie mit sich zur anderen Seite der Eingangshalle, wo er freie Sicht auf die Eingangstür hatte, die der Butler gerade wieder öffnete.
Der Anblick, der sich ihm bot, machte ihn einen Moment lang sprachlos: Eine schlichte schwarze Kutsche, die eindeutig aus einer Poststation stammte, fuhr vor und blieb an den Eingangsstufen stehen.
Boudicca, die wie er an Howlett vorbeispähte, fasste seine Überlegungen in Worte.
»Vielleicht hat sich jemand verfahren?«
Der Kutschenschlag öffnete sich, und ein junger Gentleman stieg aus. Er war von durchschnittlicher Größe und durchschnittlicher Gestalt, hatte hellbraunes Haar und ein freundliches Gesicht. Mit dem Hut in der Hand stand er da und schaute sich neugierig um, dann bemerkte er Howlett und kam zur Tür.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, erkundigte sich Howlett.
»Das hoffe ich doch«, erwiderte der Gentleman. »Ich suche Lord Warnefleet.«
Jack trat vor. Da er ihre Hand nicht losgelassen hatte, hatte er Boudicca im Schlepptau.
»Ich bin Warnefleet.«
»Oh!« Der junge Herr schaute ihn an, und in seinem offenen Gesicht spiegelte sich ein gewisser Argwohn. »Ich … äh, ich bin Percy Warnefleet. Sie haben nach mir geschickt.«
Plötzlich begriff Jack, um wen es sich bei seinem Besucher handelte.
Mit einem nervösen kleinen Lächeln bestätigte Percy es: »Ich glaube, ich bin Ihr Erbe, Sir.«