12

Nicht nur interessant, sondern auch aufschlussreich.

Dalziel erreichte die Haustür und blieb stehen, bevor er die Anwesenheit von jemandem spürte. Er drehte sich zum Salon um; von der Stelle, an der er stand, hatte er einen ungehinderten Blick in das Zimmer.

Jack trat zu ihm, und weil er ihn beobachtete, entging ihm das unmerkliche Versteifen von Dalziels Schultern unter dem eleganten Rock nicht, aber dann verbeugte er sich, korrekt und distanziert, in Richtung Salon, ehe er sich umwandte.

Jacks Miene blieb ausdruckslos und unbekümmert, als habe er von dem kleinen Zwischenfall nichts mitbekommen. Er öffnete die Tür und ließ seinen früheren Vorgesetzten hinaus. Dann begab er sich neugierig in den Salon.

Clarice stand vor dem Fenster, spähte durch die Vorhänge und blickte Dalziel hinterher. Jack schloss die Salontür. Sie drehte sich zu ihm um, die inzwischen vertraute Falte auf der Stirn.

»Wer ist das?«

Clarice schaute ihn an und blinzelte verwundert. »Weißt du das nicht?«

»Ich habe dir doch erzählt, wir kennen ihn nur als Dalziel.«

»Das ist dein früherer Kommandant?«

»Ja.« Jack blieb vor ihr stehen und betrachtete ihr Gesicht eindringlich. »Du hast ihn wiedererkannt, oder? Er hat dich auf jeden Fall erkannt.«

»Verdammt!« Die Falte wurde steiler. »Ich hasse das.«

»Was?«

»Dass er weiß, wer ich bin, mir aber sein Name nicht einfallen will.«

»Aber du kennst ihn?«

»Nein, nicht näher. Ich habe ihn schon einmal getroffen, aber das war vor vielen, vielen Jahren, bei Miranda Ffolliots Geburtstagsfeier. Ich war …« Sie unterbrach sich, dachte nach. »Ich war neun Jahre alt. Es war einer dieser Anlässe, an denen man teilnehmen musste. Er war älter, mindestens fünfzehn. Er war mit Mirandas ältestem Bruder in Eton, denke ich, obwohl das nicht der Grund war, weshalb er dort war. Alle Gäste, auch wenn wir noch Kinder waren, waren wie üblich aus einer bestimmten Absicht eingeladen worden.«

»Eheanbahnung im Kindesalter?«

»Man hielt es für klug, dass wir uns von Kindesbeinen an kannten.« Sie lächelte selbstironisch. »Man erwartete von uns, dass wir uns in diesem Kreis unsere Partner suchten.«

Jack lächelte sie an.

»Was tust du hier?«

»Ich bin gekommen, um mit dir alles Weitere abzusprechen.«

»Ich dachte, du wolltest zu deinem Bruder gehen?«

»Ich habe entschieden, dass es wenig bringt, wenn wir das Thema der Familie gegenüber ansprechen, ohne zu wissen, wie die Vorwürfe genau lauten. Ich will schließlich nicht hysterisch wirken, als reagierte ich angesichts eines lachhaft wirkendes Umstandes über.«

Zu ihrer Erleichterung nickte er.

»Dalziel kannte nicht die Einzelheiten der Vorwürfe, obwohl er bestätigt hat, dass die Behauptung, James habe Informationen an den Feind weitergegeben, vor dem Kirchengericht verhandelt werden soll.«

Clarice sah, dass er noch eine Menge mehr zu berichten hatte. Sie ging zu einem Sessel und setzte sich, winkte ihn zu sich, damit er ihr gegenüber Platz nahm.

»Was hat er sonst noch gesagt?«

Er überlegte, wie viel er ihr mitteilen konnte, während er Platz nahm. Er lehnte sich entspannt zurück, sodass seine Schultern die weiche Lehne berührten, und erzählte ihr alles rückhaltlos. Sie hörte ihm aufmerksam zu, stellte Fragen, während er ihr in allen Einzelheiten den Kreuzzug seines früheren Kommandanten beschrieb, um den letzten Verräter zu entlarven, und warum das vermutlich der Grund für die Anschuldigungen gegen James war.

»Wie …?«, sie suchte nach dem passenden Wort, »teuflisch! James und sein Ruf, ja, sogar der der ganzen Familie wird dadurch gefährdet. Wer auch immer dieser Mensch ist, er hat absolut keine Skrupel.«

»Ich denke, davon können wir ausgehen.«

Jacks trockener Tonfall entging ihr nicht. Sie schaute ihm in die Augen.

»Ist es immer so bei Spionage? Dass man unterstellen kann, dass die andere Seite keine Skrupel kennt?«

Er dachte darüber nach, dann sagte er:

»Es ist auf jeden Fall sicherer, das als Grundlage zu nehmen.«

Sie fragte sich, wie es wohl war, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, wenn man niemandem vertrauen durfte. Das Wort »einsam« drängte sich ihr auf.

Aber solche Gedanken lenkten sie nur ab. Sie blickte zu Jack und wollte ihn gerade fragen, was sie tun sollten, als sie in seinen Augen flüchtig einen schmerzvollen Ausdruck wahrnahm. »Tut dein Kopf weh?«

Er zögerte, dann wurden seine Lippen schmal.

»Ja.« Er verzichtete darauf, es abzustreiten, und massierte seine Schläfen. »Die Fahrt in der Kutsche …«

Ganz gegen ihre Gewohnheit war sie besorgt.

»Du musst zum Arzt.« Sie stand auf und ging zur Klingelschnur. »Wie heißt er?«

»Nein, nein.« Er winkte sie zurück zu ihrem Sessel. »Ich war schon bei ihm. Gestern, nachdem ich das Hotel verlassen hatte.«

Zögernd ließ sie sich wieder auf den Sessel sinken.

»Du hattest da auch schon Schmerzen?«

Er schnitt eine Grimasse.

»Da fing es an.«

Jetzt, da er gezwungen gewesen war, es zuzugeben, schien er weniger abgeneigt, seinen Zustand mit ihr zu diskutieren. Das nutzte sie sofort aus.

»Was hat dein Arzt gesagt?«

Jack fuhr fort, sich die Schläfen zu reiben.

»Wenn du es genau wissen willst, er war von den Fortschritten beeindruckt, die ich gemacht habe.«

Sie schnaubte abfällig.

»Seit deiner Ankunft in Avening leidest du doch viel stärker unter Schmerzen.«

»Pringle sagt, es liege an der langen Kutschfahrt, verstärkt dadurch, dass ich nicht …«

Er brach ab, und ein verlegener Ausdruck flog über sein Gesicht. Er sah aus wie ein schuldbewusster kleiner Junge, der versehentlich ein Geheimnis ausgeplaudert hatte. Sie kniff die Augen zusammen und schaute ihn an.

»Dass du nicht was?«

Er wich ihrem Blick aus.

»Ach, ich bin nur einer gewissen Betätigung nicht nachgegangen. Wie es scheint, verringert sich dadurch die Häufigkeit und die Heftigkeit der Kopfschmerzen.«

»Nun gut.« Sie richtete sich auf. »Dann musst du dieser Betätigung unbedingt nachkommen.«

Verkniff er sich ein Lachen? Sie runzelte die Stirn. »Um was für eine Tätigkeit geht es denn?«

»Mach dir deswegen keine Gedanken  – es ist kein Ritt durch den Park oder ein Spaziergang durch den Garten.« Er ließ seine Hände sinken und schaute sie an. »Wenn du es genau wissen willst, ich habe vor, mich heute Abend darum zu kümmern. Bis dahin werde ich es einfach aushalten müssen.«

»Jetzt sei nicht unvernünftig!« Sie sah ihm forschend in die Augen. »Du leidest Schmerzen  – du siehst so aus, als ob dir der Kopf zu zerspringen droht. Wahrscheinlich kannst du nicht klar denken, und wir  – James, ich, die Altwoods und die Regierung  – brauchen dich in bester Verfassung. Also, was ist es? Kann man es jederzeit tun? Und wenn ja, warum dann nicht jetzt?«

Als er sie mit trotzigem Blick und zusammengepresstem Mund anschaute, wusste sie, dass er ihren Forderungen nicht nachkommen würde. Sie seufzte. »Nun gut.« Sie griff nach ihrem Retikül. »Dann werde ich wohl diesen Arzt aufsuchen müssen  – Pringle, sagtest du?  – und ihn selbst fragen, was du brauchst.«

Der Ausdruck in seinem Gesicht war unvergleichlich, eine Mischung aus Unglaube und Entsetzen.

»Das kannst du nicht tun.«

Sein Tonfall war flach, es war eine Feststellung.

Sie schaute auf ihn hinab und zog die Brauen hoch.

»Aber natürlich kann ich das.« Und sie würde es auch tun. Als sie sah, wie seine haselnussbraunen Augen sich durch den Schmerz trübten, verstärkte sich ihre Sorge mehr, als sie zugeben wollte.

Den Kopf gegen die Rückenlehne gelegt, starrte er sie an. Seine Miene war ausdruckslos. Aber trotz der schlimmen Schmerzen konnte sie die Gedanken sehen, die ihm durch den Sinn gingen, wie er abwog, es ihr zu sagen, oder es darauf ankommen ließ und sie am Ende Pringle aufsuchte. Sein Brustkasten dehnte sich, als er tief Luft holte.

»Sex.«

Sie blinzelte verwirrt. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wie ihre Miene aussah, vermutlich restlos verblüfft. »Das hilft gegen die Schmerzen?« Sie ließ ihr Retikül auf den Tisch fallen.

»Offensichtlich.« Mit fest zusammengebissenen Zähnen gab er ihr ein Zeichen, sich wieder zu setzen. »Daher werde ich es bis heute Abend aushalten, und dann kümmern wir uns darum. Ich bin sicher, morgen früh bin ich wieder ganz der Alte.«

Sie stand da und runzelte die Stirn.

»Es gibt Zeiten, da verstehe ich deine Denkweise einfach nicht. Es gibt keinen Grund, bis heute Abend zu warten, um dafür zu sorgen, dass es deinem Kopf besser geht.« Mit raschelnden Röcken kam sie zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß.

Er richtete sich jäh auf, versteifte sich, aber seine Arme schlossen sich unwillkürlich um sie.

»Clarice …« Er wirkte schockiert.

Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und sagte entschlossen:

»Sei ruhig und lass mich das in Ordnung bringen.«

Und dann küsste sie ihn.

Stürmisch.

Verlangend, der Kuss kam einer Aufforderung gleich, die er nicht zurückweisen konnte. Seine Lippen teilten sich ob ihrer Ungezügeltheit, und sie kostete ihn kühn. Eine Weile versuchte er, einen kühlen Kopf zu bewahren, dann gab er auf, legte ihr eine Hand in den Nacken und hielt sie fest, drang in ihren Mund ein und übernahm die Führung.

Sie lächelte selbstzufrieden. Die Idee, dass sie ihn heilen konnte, indem sie sich mit ihm im Geschlechtsakt vereinte und damit die Mattheit aus seinen Augen vertrieb, dass sie ihm zur Seite stehen und seine Schmerzen lindern konnte, schien ihr wie ein Wunder. Sie musste es ausprobieren. Ganz gewiss würde sie nicht bis heute Abend warten!

Hitze erfasste sie, rann durch ihre Adern, pulsierte unter ihrer Haut, sammelte sich in ihrem Unterleib. Jack unterbrach den Kuss; sein Atem ging schwer, die Kontrolle entglitt ihm. »Verdammt, Weib!«, knurrte er, während er ihre geschwollenen Lippen berührte, köstlich und so verlockend. »Die Tür hat kein Schloss.«

Sie lehnte sich unbeeindruckt zurück und griff nach seinem Hosenbund.

»Dein überaus steifer Majordomus ist viel zu gut ausgebildet, als dass er uns stören würde.« Sie öffnete den Verschluss seiner Hosen und fuhr mit der Hand hinein. »Wie machen wir es am besten? Zeig es mir.«

Er gab auf. Er hatte einfach nicht die Kraft, gegen diese Anweisung anzukämpfen, nicht solange sie mit ihren langen Beinen und den weiblichen Rundungen unruhig auf seinem Schoß hin- und herrutschte und ihn mit ihren Lippen und ihren Händen so geschickt erregte. Nicht, solange sein Kopf sich in diesem Zustand befand.

Doch als er sie an den Hüften anhob und dann auf sich senkte, seine schmerzende Erektion in den Himmel ihrer Hitze schob, dabei darum rang, ein lustvolles Stöhnen zu unterdrücken, merkte er, dass das Pochen in seinen Schläfen nachließ.

Jetzt pochte stattdessen etwas anderes.

Offenbar konnte sein Körper nicht an zwei verschiedenen Stellen gleichzeitig pochen.

Er dachte kurz daran, Pringle mitzuteilen, dass er recht behalten hatte, und ließ sich im Stuhl zurücksinken. Die Hände auf ihren Hüften, Haut an Haut unter ihren sich bauschenden Röcken, zeigte er es ihr und ließ sie dann gewähren. Er war froh, dass sie mit dem Rücken zu ihm saß und so den beseelten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen konnte.

Er wollte es nicht einmal selbst wissen, das Ausmaß der Freude analysieren, die Gefühle, die ihn erfassten, während sie ihn ritt und sie beide zu einem erschütternden Höhepunkt brachte, seine Schmerzen vertrieb und sie durch eine bis ins tiefste Innere reichende Lust ersetzte.

Als sie schließlich ermattet auf ihm lag, schlaff wie eine Puppe, und sie darauf warteten, dass ihr Herzschlag sich beruhigte, ihr Atem sich normalisierte und die beseligenden Nachwirkungen verblassten, beugte er sich vor und hauchte einen zärtlichen Kuss auf ihre Schläfen.

»Danke.«

Sie fuhr ihm sachte durchs Haar und ließ die Strähnen durch ihre Finger gleiten.

»Ich denke, nun bin ich an der Reihe, zu sagen: Es war mir ein Vergnügen.« Er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. »Geht es deinem Kopf besser?«

»Erstaunlicherweise ja.« Der messerscharfe Schmerz hatte sich zu einem Schatten zurückgebildet. Es konnte vielleicht nachher wieder schlimmer werden, aber der Unterschied zu vorher war verblüffend. Er konnte wieder klar denken, ohne dass es weh tat.

Doch während sie in seinen Armen lag, satt und befriedigt, beherrschte ihn eine Empfindung: Er konnte es nicht glauben, was sie vollbracht hatte. Keine andere Dame ihres Standes hätte das getan. So etwas passierte offenbar, wenn man sich mit einer Kriegerkönigin einließ, die, ohne mit der Wimper zu zucken, gesellschaftliche Regeln opferte, um die Schmerzen ihrer Gefährten zu lindern.

Der Gedanke entlocke ihm ein Lächeln.

Dann bewegte sie sich, und er schnappte nach Luft. Sein Körper reagierte sofort auf ihren hitzigen Körper.

Aber das Schicksal herauszufordern war nicht klug.

Er berührte sie an der Schulter und schob sie von sich. Sie erwachte, stand auf, schüttelte ihre Röcke aus und zog das Oberteil zurecht, während er ebenfalls seine Kleidung in Ordnung brachte. Dann setzte sie sich wieder auf den Stuhl ihm gegenüber. Kühl wie eine hochherrschaftliche Witwe blickte sie ihn fragend an.

»Nun gut. Womit fangen wir an? Ich denke, als Erstes sollten wir den Bischof von London aufsuchen.«

Milde belustigt über ihre Forschheit  – und die Kraft, die sie das kosten musste  – pflichtete er ihr bei. Sie verbrachten die nächsten fünf Minuten damit, ihren Plan durchzugehen, als es an der Tür klopfte und Gasthorpe mit einem Tablett eintrat.

»Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, Mylord, Ihnen Ihr gewohntes Frühstück zu bringen.«

Jack betrachtete die Auswahl an Speisen, die Gasthorpe auf das niedrige Tischchen stellte, und ihm fiel wieder ein, dass er ja noch nicht gefrühstückt hatte.

»Danke, Gasthorpe.«

Gasthorpe hatte auch eine Kanne Tee für Clarice gebracht und einen Teller mit Törtchen. Als er sie vom Tablett nahm, blickte er Jack an.

»Mylord, wir müssen schließlich dafür sorgen, dass Sie bei Kräften bleiben.«

Überaus korrekt verneigte Gasthorpe sich vor Clarice, die gnädig nickte, dann machte er eine Verbeugung vor Jack und ging.

Clarice schaute Jack mit hochgezogenen Brauen an.

Jack zuckte die Achseln und erwiderte:

»Das kannst du verstehen, wie du willst.«

Während sie aßen, überlegten sie, wie sie sich am besten an den Bischof von London wendeten. Seine Zustimmung war notwendig, damit sie sich mit James’ Verteidiger treffen und ihm helfen konnten, und ohne die ausdrückliche Genehmigung des Bischofs war es unwahrscheinlich, dass sie erfuhren, was genau James vorgeworfen wurde.

»Ohne die Details der Anklage kommen wir nicht weit.« Clarice nippte an ihrem Tee.

Jack beobachtete sie und fragte sich, ob sie bemerkte, dass sie sich gerade wie ein Ehepaar benahmen. Sie unterhielten sich beim Frühstück und besprachen Familienangelegenheiten. In ihrem dunklen Haar, wieder ordentlich aufgesteckt, schimmerte es dunkelrot auf, als ein Sonnenstrahl durch die Vorhänge ins Zimmer fiel. Sie beugte sich vor, um ihre leere Tasse auf den Tisch zu stellen, und als sie sich wieder aufrichtete, fielen ihm ihre elegante Haltung und die Verletzlichkeit ihres Nackens auf.

Nach und nach hatte sich ein Aspekt während ihres Londoner Abenteuers deutlich herauskristallisiert. Gemeinsam wären er und Clarice eine nicht zu unterschätzende Kraft, den Anschuldigungen gegen James Einhalt zu gebieten, und wenn Dalziels Instinkte sich als richtig erwiesen, konnten sie das Ablenkungsmanöver des letzten Verräters aufdecken und vielleicht sogar den Verräter selbst entlarven.

Sie würden eine Bedrohung für den Verräter werden.

Und das wäre gefährlich.

Seine Instinkte hatten sich bereits geregt, jetzt jedoch versetzten sie ihn in immer größere Unruhe. Er würde die Augen offen halten und sie gewiss nicht aus den Augen lassen.

Clarice schaute hoch, fing seinen Blick auf und betrachtete ihn forschend, konnte seine Miene aber nicht deuten. Sie zog die Brauen hoch.

»Und, sollen wir gehen?«

Beinahe zwei Stunden waren vergangen, seit Dalziel das Haus verlassen hatte. Jack wusste, wie schnell sein ehemaliger Vorgesetzter arbeitete; der Bischof musste mittlerweile Dalziels Nachricht erhalten haben. Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, sie legte ihre hinein, und er zog sie auf die Füße.

»Sicher, lass uns anfangen.«

 

Lambeth Palace, die Londoner Residenz des Erzbischofs von Canterbury, umgeben von ausgedehnten Gärten, lag an der Lambeth Bridge. Gegenwärtig residierte dort der Bischof von London, zusammen mit dem Verwaltungsapparat und seinem Haushalt. Jack und Clarice fuhren in einer Droschke zu dem beeindruckenden Tor und gingen zu Fuß über die kiesbestreute Auffahrt. Am Vorbau über dem Eingang empfing sie ein Lakai und brachte sie zu einem kleinen Warteraum.

Sie mussten nicht lange warten. Dekan Samuels, den James als die rechte Hand des Bischofs bezeichnet hatte, erschien nach weniger als fünf Minuten.

Er war ein weißhaariger Mann mit einem rundlichen, eher verhärmten Gesicht. Lächelnd stellte er sich vor und geleitete sie zur Treppe nach oben.

»Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind.« Er ging neben ihnen die Stufen hoch und blickte Jack von der Seite an. »Der Bischof hat eine Nachricht aus Whitehall erhalten. Ich muss sagen, aus meiner Sicht ist es unendlich beruhigend, jemanden mit einem professionellen Hintergrund dabeizuhaben.«

Jack nickte. Ehe er fragen konnte, sprach der Dekan weiter; sein Blick glitt zum ersten Stockwerk hoch. »Ich sollte Sie vielleicht trotzdem warnen, dass der Bischof unentschieden ist, ob er zulassen soll, dass die Einzelheiten der Anschuldigungen gegen James nach draußen gelangen.« Er seufzte leise. »Ich hoffe nur, dass er, sobald er Sie getroffen hat, seine Meinung ändert.«

Sie wurden in einen lang gezogenen Raum geführt. Am anderem Ende stand ein Thron, auf dem der Bischof saß, in rote Roben und feinstes besticktes Leinen gehüllt.

Clarice trat ein, den Kopf hoch erhoben und mit raschelnden Seidenröcken. Vor dem Thron blieb sie stehen und sank in einen tiefen Knicks. Neben ihr verneigte sich Jack, während Dekan Samuels sie ankündigte.

Auf das Zeichen des Bischofs hin richteten sie sich auf und kamen näher. Außer ihnen und dem Dekan war niemand im Audienzraum anwesend.

Der Bischof war jünger als Dekan Samuels, ungefähr in James’ Alter. Scharf blickende blaue Augen musterten erst Clarice und dann Jack. Die Lippen des Bischofs verzogen sich missfällig. »Die ganze Angelegenheit ist in höchstem Maße regelwidrig und, in der Tat, höchst beunruhigend. Bei diesen Anschuldigungen ist Vorsicht geboten. Ich hatte gehofft, sie innerhalb der Kirche belassen zu können  – ich glaube schließlich nicht ernsthaft, dass James Altwood sich irgendeines Fehlverhaltens schuldig gemacht hat, aber natürlich bin ich dazu verpflichtet, ihnen nachzugehen. Wie es aussieht, ist die Sache sogar nach Whitehall gedrungen.«

Jack hörte die Verärgerung in der Stimme des Bischofs. Er hatte Männer wie ihn schon häufiger getroffen. Sie hatten ihre Stellung wegen ihrer Beziehungen erhalten, und dass alles in geordneten Bahnen lief, war vor allem ihren Untergebenen zu verdanken  – wie beispielsweise Dekan Samuels.

Zur Verteidigung des Bischofs musste Jack allerdings einräumen, dass ein Skandal von diesen Ausmaßen einem Mann in so einem hohen Amt, egal ob kirchlich oder weltlich, nicht gefallen konnte.

Der Bischof nahm ein Blatt von seinem Schoß und überflog die Zeilen, dann sah er verdrossen zu Jack. »Whitehall lobt Sie in höchsten Tönen und legt uns nahe, dass es angesichts der Schwere der Vorwürfe und ihrer heiklen Natur der Gerechtigkeit dienen würde, wenn man Sie bei Gericht hinzuzieht, anstatt haltlosen Darstellungen neue Nahrung zu geben. Sie könnten unsere Schlussfolgerungen entsprechend beeinflussen und verhindern, dass es am Ende zu einem ernsteren und vielleicht sogar öffentlichen Fall kommt.«

Der Bischof schwieg, schaute Jack an, dann sagte er leiser: »Ich bin noch nicht überzeugt, dass dies das beste Vorgehen ist.«

Jack erwiderte den mürrischen Blick aus den blauen Augen, aber ehe er Luft holen konnte, um den Bischof mit Logik und Charme für sich zu gewinnen, ergriff Clarice das Wort.

»Mylord Bischof, dürfte ich an dieser Stelle etwas sagen?« Der Blick des Bischofs richtete sich auf sie. »Was den Punkt betrifft, Lord Warnefleet und mich einzuweihen und ins Vertrauen zu ziehen, so verhält es sich so, wie Sie es angedeutet haben. Die Vorwürfe gegen meinen Cousin, den ehrenwerten James Altwood, sind tatsächlich ernst, aber mehr noch, sie berühren Bereiche, für die Laien kein Verständnis haben und Kirchenbeamte auch nicht. Um diese Vorwürfe angemessen zu prüfen, sind weitere Erkundigungen unverzichtbar. Ich denke, es liegt doch in niemandes Interesse, wenn diese Vorwürfe nur aufgrund eines Missverständnisses aufrechterhalten werden und in der Folge die Anklage an ein bürgerliches Gericht weiterverwiesen wird, nur um sich dort als haltlos zu erweisen.

Lord Warnefleet ist bestens qualifiziert, Ihren Beamten dabei zu helfen, die Wahrheit herauszufinden«, sie nickte in Richtung des Blattes, das der Bischof zwischen den Fingern hielt, »wie seine Vorgesetzten in Whitehall Ihnen ja bestätigen. Der Umstand, dass er mit James bekannt ist, wird seine Urteilsfähigkeit in keiner Weise beeinträchtigen, berücksichtigt man seine langjährigen Dienste für die Krone. Genau genommen wäre er sogar einer derjenigen, die in höchster Gefahr schwebten, wenn die Vorwürfe der Wahrheit entsprächen.«

Sie machte eine Pause. Der Bischof runzelte die Stirn und lauschte sichtlich beeindruckt. Sie hob würdevoll das Kinn. »Was mich betrifft, so werde ich natürlich die Familie in dieser Sache vertreten. Ich werde meinem Bruder Melton berichten, was vor sich geht. Ich hoffe, wenn ich heute von hier weggehe, werde ich in der Lage sein, ihm zu erläutern, was genau für Anschuldigungen gegen unseren Cousin erhoben werden. Die Familie wird es freuen zu hören, dass diesem Angriff auf jemanden mit unserem Namen so rasch und angemessen wie möglich der Wind aus den Segeln genommen wird.«

Das Stirnrunzeln des Bischofs wich einem leicht gehetzten Ausdruck.

»Verstehe.« Es war nicht zu übersehen, dass er Boudiccas Schlachtruf deutlich vernommen und richtig gedeutet hatte.

Er blickte wieder auf das Schreiben in seiner Hand, dann zu Jack und schließlich zu Dekan Samuels. »Ich nehme an, dass unter Berücksichtigung aller Umstände es vielleicht angeraten ist«  – er neigte den Kopf in Clarice’ Richtung  – »wie Sie es bereits dargelegt haben, meine Teure, wenn Sie beide Zutritt zu unserem Gerichtshof bekommen, Lord Warnefleet als Berater und Lady Clarice als Vertreterin der Familie.«

Obwohl seine Erklärung nicht wie eine Frage klang, verbeugte Dekan Samuels sich rasch.

»In der Tat, Mylord. Das scheint mir äußerst klug.«

Jack lächelte charmant. Boudicca lächelte ebenfalls.

Nachdem sie ihre Freude über die Erlaubnis des Bischofs gebührend zum Ausdruck gebracht und die gewohnten Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, verbeugten sie sich und schickten sich an, sich zu verabschieden.

»Ich werde Lady Clarice und Lord Warnefleet mit Olsen bekannt machen, Mylord«, bemerkte Dekan Samuels.

»Sicher, sicher.« Der Bischof lächelte Clarice an. »Bitte richten Sie Ihrer Tante meine Grüße aus, meine Teure.«

Mit einem unverbindlichen Neigen ihres Kopfes erwiderte Clarice sein Lächeln. Dekan Samuels führte sie aus dem Audienzsaal in das Innere des Gebäudes.

»Olsen ist der Diakon, der James verteidigen soll.« Dekan Samuels ging voraus. »Er ist noch jung, aber ich glaube, er wird seine Sache hervorragend machen. Er wird in seinem Arbeitszimmer sein.«

Je weiter sie kamen, desto verwinkelter wurde der Palast, desto mehr glich er einem Labyrinth. Schließlich gelangten sie an einen Korridor mit lauter Türen. Dekan Samuels blieb vor einer stehen, klopfte kurz an und öffnete sie.

»Olsen? Erlauben Sie mir, Ihnen zwei Menschen vorzustellen, die, so glaube ich, eine große Hilfe sein werden, diese lachhaften Vorwürfe gegen James Altwood zu entkräften.«

Eine deutlichere Sympathieerklärung konnte man sich nicht vorstellen. Jack fing Clarice’ Blick auf, als sie an ihm vorbei das Zimmer betrat. Er folgte ihr. Das Zimmer war klein und rechteckig, hatte nackte Steinmauern und war gerade groß genug für einen Schreibtisch, vier Stühle und mehrere Stapel dicker ledergebundener Bücher. Diakon Olsen, ein Kleriker Ende zwanzig, erhob sich staunend, als sie eintraten.

Dekan Samuels stellte sie vor, beschrieb Jack als einen Experten, den Whitehall entsandt hatte, um den Bischof bei der Urteilsfindung zu unterstützen. Olsen stammelte ein paar artige Begrüßungsworte und beeilte sich, Clarice einen Stuhl zu holen. Da er sah, dass Jack und Dekan Samuels sich auf die beiden anderen Stühle gesetzt hatten, kehrte Olsen hinter seinen Schreibtisch zurück.

»Ich muss ehrlich zugeben, ich bin überaus froh, Sie zu sehen.« Er deutete auf die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Ich weiß vielleicht etwas über Krieg, aber das hier übersteigt meinen Horizont dann doch. Und obwohl ich natürlich eine Menge über James Altwood und seine Forschungen gehört habe, bin ich ihm nur einmal persönlich begegnet.«

Jack lächelte und ergriff das Wort, bevor Boudicca ihm zuvorkommen konnte.

»In welchem Regiment haben Sie gedient?«

Die Frage erwies sich als Beginn einer nützlichen Freundschaft. Olsen war vernünftig, offen und wusste, dass er mit diesem Fall überfordert war. Deshalb war er mehr als bereit, ja fast begierig, ihnen die Vorwürfe gegen Jack in allen Einzelheiten mitzuteilen.

Nachdem er wusste, dass alles glattgehen würde, ließ Dekan Samuels sie allein.

Clarice blickte zu Jack, als sich die Tür hinter dem älteren Mann schloss.

»Wie stehen die Chancen, dass er geradewegs zum Bischof geht und ihm berichtet, dass alles auf den Weg gebracht ist und reibungslos laufen wird?«

Jack grinste.

»Bei solchen Sachen wette ich nicht.«

Mit intelligenten Augen schaute Olsen vom einen zum anderen. »Der Bischof muss unbeteiligt erscheinen.« Er verzog das Gesicht. »Genau genommen sogar mehr als das  – es muss so aussehen, als ob er diese Anschuldigungen mit dem erforderlichen Nachdruck untersucht. Dafür hat Humphries gesorgt. Er hat ganz schön Aufsehen erregt mit seinen Behauptungen.«

Jack lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Erzählen Sie mir von Humphries.«

Olsen verzog erneut das Gesicht.

»Sie werden ihn kennenlernen, sobald das Gericht zusammentritt oder vermutlich sogar schon vorher  – sobald ihm zu Ohren kommt, dass man Ihnen gestattet hat, mich zu unterstützen.« Olsen dachte kurz nach. »Humphries gehört seit Jahren zu den Vertrauten des Bischofs. Er ist ein Einzelgänger, verdrießlich und auf eine eher wichtigtuerische Weise fromm, er lächelt selten und ist nie zu Scherzen aufgelegt. Er wirkt restlos davon überzeugt, dass James Altwood zumindest die vertraulicheren Ergebnisse seiner Forschung über englische Militärstrategie an die Franzosen verkauft hat.«

Olsen blätterte die Papiere auf seinem Schreibtisch durch und zog drei Seiten hervor. »Während ein Teil der Vorwürfe allgemein ist  – eher Schlussfolgerungen als belegbare Tatsachen, und bei Humphries ist eine gewisse Eifersucht im Spiel  – handelt es sich hier um schwerwiegendere Anklagepunkte.« Er reichte Jack die Blätter und beugte sich vor. »Drei Tage mit Zeitangabe und Nennung des Ortes, an denen sich Altwood angeblich mit seinem Kurier getroffen hat, und dann eine Liste mit ein paar der Informationen, die im Verlauf der Jahre weitergegeben worden sein sollen.«

Jack hielt die Blätter so, dass Clarice sie ebenfalls lesen konnte. Jack betrachtete den Kern von Humphries’ Vorwürfen. Wenn sie stimmten, würden sie Jack tatsächlich sehr belasten. Jack schaute Olsen an.

»Wie ist Humphries an solche Informationen gekommen?«

»Durch den Kurier.« Olsen lehnte sich mit einem Seufzen zurück. »Und ehe Sie fragen, zum jetzigen Zeitpunkt weigert er sich, den Namen des Mannes zu verraten.«

Jack blickte wieder auf die aufgelisteten Details.

»Ohne den Kurier, der die Richtigkeit dieser Behauptungen beweisen könnte, wird die Beweisführung auf Zeugen beruhen.«

Olsen nickte.

»Ja, und genau das kann Humphries vorweisen. Für jedes einzelne Datum hat er wenigstens zwei Zeugen, die schwören können, dass Altwood sich an dem besagten Ort aufgehalten hat, und zwar zu der genannten Zeit und immer mit einem bestimmten Mann.«

Jack starrte an Olsen vorbei, dann schärfte sich sein Blick wieder.

»Können wir eine Abschrift haben? Und haben Sie Zugriff auf die Zeugenliste?«

»Ja.« Olsen holte ein frisches Blatt Papier hervor. »Ich werde Ihnen eine Abschrift anfertigen, aber ich warne Sie, ich habe bereits mit allen Zeugen gesprochen, und sie bestätigen, dass alles stimmt, was Humphries behauptet.«

Jack lächelte.

»Es gibt einen entscheidenden Unterschied, ob Sie von Zeugen eine Bestätigung ihrer Aussage verlangen oder ob ich sie bitte, mir genau zu erzählen, was sie gesehen haben. Außerdem trage ich keinen Priesterkragen.«

Olsens Lippen formten ein O. Seine Hand erstarrte, die Schreibfeder hing über dem Papier in der Luft.

Clarice bewegte sich.

»Die Liste bitte, Diakon Olsen.« Ihrem Tonfall nach zu urteilen war sie unbeeindruckt von Jacks Fähigkeiten oder betrachtete sie als gegeben. »Je eher wir sie haben, desto eher kann Lord Warnefleet damit beginnen, die Vorwürfe zu entkräften, und desto eher kann ich meine Familie bezüglich der Lage hier beruhigen.«

Olsen wurde rot und tunkte rasch die Feder in die Tinte. »Selbstverständlich, Lady Clarice. Sofort.«

Fünfzehn Minuten später führte Olsen sie zurück zur Haupttreppe. Von Jack verabschiedete er sich herzlich, als seien sie Waffenbrüder, aber Clarice behandelte er sehr vorsichtig und mit erkennbarem Respekt.

Die Liste mit den Anschuldigungen in seiner Rocktasche stieg Jack neben Clarice die Treppe hinunter. Olsens Schritte verklangen hinter ihnen. Jack grinste.

»Olsens Instinkte scheinen bestens zu arbeiten.«

Clarice warf ihm einen tadelnden Blick von der Seite zu. Sie wusste, worauf er anspielte  – Olsens Reaktion auf sie. »Unsinn.« Sie schaute wieder nach vorn. »Er erkennt nur, was gut für ihn ist.«

Jack lachte.

Sie durchquerten das gewaltige Foyer, nickten dem Türsteher zu und gingen durch die massive Eingangstür nach draußen. Sonnenschein und Helligkeit empfingen sie; Jack kniff die Augen zusammen. Clarice blickte ihn an. »Geht es dir gut?«

Er blies die Backen auf und begann die Stufen hinabzusteigen. »Ja, bestens.«

Sie schlenderten die Auffahrt hinab, während sie beide, davon war Jack überzeugt, die Frage beschäftigte: Was jetzt? Die Auffahrt machte vor dem Tor eine Kurve, und eine hohe Hecke verdeckte die Sicht vom Bischofspalast aus. An genau dieser Stelle im Schutz der Hecke stand eine Gestalt in Klerikerkleidung und wartete.

Als sie näher kamen, verriet sein eifriger Gesichtsausdruck und eine auffällige Ähnlichkeit mit Anthony, wer der Mann sein musste. Clarice bestätigte es.

»Teddy!«

»Clarice.« Teddy grinste einnehmend, als sie sich zu ihm in den Schatten stellten. Herzlich fasste er Clarice’ Hand, die sie ihm reichte, und zog sie näher, um sie auf die Wange zu küssen. »Ich kann gar nicht sagen, wie entzückt und erleichtert ich bin, dich zu sehen.«

»Das hier ist Lord Warnefleet.« Clarice machte einen Schritt zurück, damit sie sich die Hände schütteln konnten. Dann fragte sie: »Du hast von Anthony gehört?«

Teddy wurde ernst.

»Allerdings. Danke für deinen Brief. Anthony hat ebenfalls geschrieben. Ich hatte schon begonnen, mich zu wundern, aber dann dachte ich, der Schlingel hätte meine Nachricht übermittelt und sei dann einfach zu irgendeiner vergnüglichen Gesellschaft weitergereist.«

»Nein, keine vergnügliche Gesellschaft«, murmelte Jack. »Er kann von Glück sprechen, den Unfall so gut überstanden zu haben.«

»Ach ja?« Teddy schaute zu Clarice.

Sie nickte.

»Als wir aufbrachen, war er schon deutlich auf dem Wege der Besserung. Er wird bald wieder in London sein.«

Teddy schien etwas beruhigter zu sein, sah aber immer noch besorgt aus.

»Was ist mit James?« Er schaute von Clarice zu Jack.

»Wir haben mit dem Bischof gesprochen, und wir dürfen dem Gericht beiwohnen und Einblick in das Verfahren erhalten. Gerade kommen wir von Olsen. Er hat uns die Details gegeben.« Jack musterte Teddy. Er war etwa dreißig Jahre alt und schien vernünftig und zuverlässig zu sein. »Was können Sie uns über Diakon Humphries erzählen? Wir wissen von dem Lehrauftrag, der nicht an ihn, sondern an James ging.«

Teddy schnitt eine Grimasse.

»Humphries ist der dienstälteste Diakon, was auch der Grund dafür ist, dass er mit der Anklage so weit gekommen ist. Offenbar war er immer eifersüchtig auf James, sogar noch vor der Sache mit dem Forschungsstipendium, und seitdem… nun, wenn man sagte, er sei einäugig, was seine Abneigung angeht, so wäre das eine gewaltige Untertreibung. Wann immer James nach London kommt, tun der Bischof und Dekan Samuels alles in ihrer Macht Stehende, damit die beiden sich nicht begegnen. Letztes Mal haben sie Humphries mit irgendeinem Vorwand zum Dekan in Southampton geschickt. In den fünf Jahren, die ich nun schon beim Bischof bin, habe ich nie gehört, dass Humphries ein freundliches Wort über James verloren hätte.«

Jack runzelte die Stirn.

»Von dem gegenwärtigen Vorfall einmal abgesehen hat sich Humphries schon in der Vergangenheit damit hervorgetan, James anzugreifen?«

Teddy dachte nach, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein. Genau betrachtet gibt sich Humphries sogar große Mühe, James möglichst nicht zu erwähnen.«

»Also«, Jack steckte seine Hände in die Taschen, »sind diese Anschuldigungen durchaus ungewöhnlich für Humphries und eine Veränderung seines normalen Verhaltens James gegenüber.«

»Ja.« Teddy sah ihn leicht verwirrt an.

Jack verzog das Gesicht.

»Also muss man sich fragen, aus welchem Grund Humphries sein Verhalten geändert hat, warum jetzt?«

Teddy starrte ihn weiter an, blinzelte, dann weiteten sich seine Augen, als er Jacks Schlussfolgerungen verstand.

Clarice schnaubte leise.

»Der Kurier. Er ist mit Informationen aufgetaucht, bei denen sich Humphries, selbst wenn er keine Abneigung gegen James empfände, verpflichtet fühlen musste, sie dem Bischof mitzuteilen.«

Jack nickte.

»Allerdings, und nachdem er das getan hatte, sorgte Humphries’ Abneigung gegen James dafür, dass er nicht lockerließ und nachdrücklich verlangte, dass es eine offizielle Untersuchung geben müsse.«

Er und Clarice wechselten einen Blick, dann sahen sie beide Teddy an. »Haben Sie eine Ahnung, wer dieser Informant sein könnte?«, erkundigte sich Jack.

Mit großen Augen schüttelte Teddy den Kopf.

»Bis Sie ihn erwähnten, wusste ich gar nicht, dass es ihn gab.«

Knapp berichtete Clarice ihm, was sie von Olsen erfahren hatten.

»Natürlich werden wir uns mit den Details der Informationen des Kuriers beschäftigen, trotzdem müssen wir irgendwann mit dem Mann selbst sprechen, aber bislang hat Humphries sich geweigert, seinen Namen zu verraten.«

Ein entschlossenes Funkeln trat in Teddys Augen.

»Ich werde Humphries beobachten und sehen, was ich herausfinden kann. Natürlich weiß er, dass ich mit James verwandt bin, daher werde ich vorsichtig sein.« Teddy sah Clarice in die Augen und grinste. »Er hat mich angewiesen, über die Anschuldigungen mit James nicht zu reden, aber da hatte ich Anthony schon losgeschickt.«

»Haben Sie das Humphries gesagt?«, fragte Jack.

»Nein, aber …« Teddy schnitt eine Grimasse. »Die Pförtner erstatten Humphries Bericht, und sie wussten, dass ich Anthony hergebeten hatte.«

Jack musterte Teddy und sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ:

»Folgen Sie Humphries unter gar keinen Umständen, wenn er das Gelände verlässt. Was Sie hingegen tun können, ist, auf jede verfügbare Weise zu versuchen, die Identität von Humphries’ Informanten aufzudecken. Pflegen Sie Kontakt zu den Pförtnern, bringen Sie in Erfahrung, was sie wissen. Befragen Sie denjenigen, der Humphries’ Räume putzt, ob ein Zettel mit einem Namen herumlag oder einer Adresse. Reitet er jemals aus, oder geht er immer zu Fuß? Alles, was uns irgendeinen Hinweis auf seinen Informanten geben kann.«

Teddy nickte.

»Das tue ich.« Er sah Clarice an. »Wie nimmt James das alles auf?«

Clarice versicherte ihm, dass James in seiner gewohnten Art weniger besorgt war als sie.

Teddy grinste. »Er war immer schon hervorragend darin, zu ignorieren, womit er sich nicht befassen wollte.«

Sie verabschiedeten sich von Teddy und gingen zum Tor hinaus, begaben sich zur Lambeth Bridge, um eine Droschke zu finden.

Mit gesenktem Blick und gerunzelter Stirn lief Clarice neben Jack her.

»Warum hast du Teddy davor gewarnt, Humphries außerhalb des Geländes zu folgen?«

»Weil wir schon einen Altwood haben, der sich fast das Genick gebrochen hat.« Jack schaute sich um. Die Gegend um den Palast und die Gärten war vornehm und sauber, aber nur in kurzer Entfernung lagen berüchtigte Stadtviertel, in denen nicht einmal ein Mann der Kirche sicher war. »Ich möchte nicht darüber nachdenken, was geschehen könnte, wenn Teddy unserem Gentleman mit dem rundlichen Gesicht begegnet, du aber nicht da bist, um ihn in die Flucht zu schlagen.«

»Ah.« Clarice hob den Kopf; ihre Lippen bildeten eine entschlossene Linie. »In diesem Fall schlage ich vor, dass wir uns ins Benedict’s zurückziehen und beim Lunch klären, was wir weiter unternehmen.«

Eine Droschke kam über die Brücke gerattert; Jack winkte sie an den Straßenrand, er verbeugte sich.

»Ihr Streitwagen wartet. Nach Ihnen!«

Als sie in die Kutsche kletterte, warf sie ihm einen arroganten Blick zu.

»Sind Sie sicher, dass es nicht doch ein tiefer gehendes Problem mit Ihrem Kopf gibt?«

Jack lachte nur und folgte ihr.