18

Sie blieben noch über eine Stunde auf Helens Ball. Clarice sah Moira mehrere Male, aber jedes Mal, wenn sie zu ihr schaute, drehte ihre Stiefmutter sich in die andere Richtung. Achselzuckend ignorierte Clarice sie und widmete sich der Aufgabe, ihre Erinnerungen an die Mitglieder ihrer weitverzweigten Familie aufzufrischen.

Immer wieder wurde sie um Rat gefragt. Manche baten sie sogar um ihre Meinung zu möglichen Verbindungen für ihre Töchter oder Söhne. Die Ironie entging ihr nicht, und Jack ebenso wenig. Sie schauten sich mehrmals vielsagend an, aber es gelang ihnen, ihre Belustigung für sich zu behalten. Davon abgesehen kam klar zum Ausdruck, dass die Familie in ihr die Matriarchin sah  – und nicht in Moira.

Später begaben sie sich dann zu ihrer letzten Anlaufstation an diesem Abend, zu Lady Carraways Stadthaus, in dem die Abendgesellschaft Ihrer Ladyschaft in vollem Gange war. Sie war eine flotte verheiratete Dame mit besten Verbindungen, die sie freundlich willkommen hieß und beiläufig anmerkte, Clarice werde eine Reihe alter Freunde treffen.

Die Gäste Ihrer Ladyschaft waren vorwiegend in Jacks und Clarice’ Alter. Folgerichtig waren die meisten Damen und viele der anwesenden Herren verheiratet. Nicht, dass ihr eheliches Treueversprechen für die Mehrheit der Gäste von überragender Bedeutung zu sein schien, sie wollten sich einfach amüsieren.

Clarice schätzte die Stimmung mit ein paar flüchtigen Blicken ein und wechselte ein paar Bemerkungen mit den Umstehenden. Es gab in der Tat eine Reihe Gäste hier, an die sie sich noch von früher erinnerte. Trotzdem verspürte sie nur eine vage Müdigkeit und den Wunsch, mit Jack ins Benedict’s zurückzukehren, als sie zusah, wie eine Dame, die ihr Debüt gemacht hatte, als auch Clarice ihre erste Saison hätte absolvieren sollen, heftig mit einem Gentleman flirtete, während dessen Gattin daneben saß und ihrerseits einem stadtbekannten Wüstling schöne Augen machte. Aber Lady Osbaldestone und Lady Davenport hatten darauf bestanden, dass sie sich auch in diesem Umfeld zeigen musste, und sie beugte sich der größeren Lebenserfahrung der beiden Älteren, fasste Jacks Ärmel fester und machte sich ans Werk.

Jack geleitete Clarice durch das Gedränge, während er seine Reaktion mit seiner gewohnten lässigen Freundlichkeit verbarg. Clarice hatte erwähnt, dass ihre Mentoren ihr ans Herz gelegt hatten, hier zu erscheinen, aber er nahm an, dass sie den Walzer nicht berücksichtigt hatten, den Clarice und er sich vor drei Tagen gegönnt hatten. Seitdem hatte sich die Einstellung gewisser Herren ihr gegenüber gewandelt. Man musste nur an Emsworths Antrag denken.

Obwohl er ernsthaft bezweifelte, dass andere einen so entscheidenden Fehler begehen würden und er dafür gesorgt hatte, dass die Nachricht von Emsworths Missgeschick in allen schauerlichen Einzelheiten in den Clubs die Runde machte, so war das männliche Interesse an Clarice für seinen Geschmack auf ein gefährliches Niveau angestiegen.

Als er ihre sexuelle Attraktivität den Klatschbasen gewissermaßen ins Gesicht zu schleudern hatte, hatte er nicht bedacht, dass sie Söhne und Neffen hatten, die beständig nach Damen Ausschau hielten, die sinnliches Vergnügen versprachen.

Dennoch bedauerte er den Walzer keinen Moment lang; er musste einfach dafür sorgen, dass er immer an ihrer Seite blieb.

Das gelang ihm auch, aber die Nacht war schwül geworden. Die Luft im Ballsaal wurde immer stickiger. Trotzdem sie aufrecht neben ihm stand, fühlte er, dass Clarice erschöpft wirkte. Sie hatte den ganzen Abend über fast ohne Unterbrechung im Zentrum des Interesses gestanden  – und es war noch nicht vorüber.

»Dort drüben auf der anderen Seite der Glastüren ist ein Balkon. Lass uns nach draußen gehen und ein wenig frische Luft schnappen.«

Sie nickte.

»Eine ausgezeichnete Idee.«

Sie durchquerten den Saal. Als er eine der Türen aufstieß, erblickte Jack auf der anderen Seite des Saales einen Lakai, der ein Tablett mit hohen schlanken Gläsern balancierte. Jack sah Clarice an.

»Geh du schon hinaus  – ich besorge uns noch etwas zu trinken.«

Sie nickte und trat ins Freie. Er ließ den dünnen Vorhang wieder zurückfallen und machte sich auf den Weg zu dem Lakaien.

Clarice ging auf den Balkon; die kühlere Nachtluft umfing sie, und sie atmete erleichtert auf. Sie war in die vornehme Welt hineingeboren und darin aufgewachsen, hatte unzählige Ereignisse wie diese besucht, und doch konnte sie ihnen nichts abgewinnen.

Es gab mehr im Leben, wie sie sehr wohl wusste, als Bälle und Gesellschaften. Obwohl sie in der ton wieder willkommen war und ihre frühere Stellung zurückerobert hatte, stellte sie fest, dass es ihr schwerfiel, so zu tun, als ob solche Sachen wirklich wichtig waren.

Sie legte die Hände auf das Geländer und blickte in die samtige Dunkelheit der Nacht und überlegte, was sich geändert hatte. Nicht die Gesellschaft, so viel stand fest.

»Clarice, mein Liebling.«

Sie blinzelte verwirrt; es dauerte einen Augenblick, bis sie die Stimme und die gedehnte Sprechweise erkannte. Langsam drehte sie sich um und betrachtete den gut aussehenden Mann, der aus dem Ballsaal geschlüpft war, um sich zu ihr zu gesellen. Seine aristokratischen Züge zeigten Spuren seines ausschweifenden Lebenswandels.

»Guten Abend, Warwick.« Ihr Tonfall klang kalt und desinteressiert, und das gefiel ihr. »Was tun Sie denn hier?«

Er sah sie an und ließ seinen Blick kühn an ihr abwärtsgleiten, über ihre weiblichen Formen, die heute in magentafarbene Moiréseide gehüllt waren. Clarice war insgeheim dankbar, dass sie sich gegen das pflaumenfarbene Seidenkleid entschieden hatte.

»Ich frage mich, meine Liebe, ob du, nachdem du sieben Jahre Fegefeuer erduldet hast, vielleicht herausfinden möchtest, welche Vorzüge …«

Er brach ab, als Schritte näher kamen. Sie drehten sich beide um. Clarice lächelte, als Jack durch den Vorhang kam, zwei Gläser Champagner in der Hand. Sie nahm das Glas, das er ihr hinhielt, und deutete damit auf Warwick.

»Lord Warnefleet, gestatten Sie mir, Ihnen den ehrenwerten Jonathan Warwick vorzustellen.«

Jacks Augenlider zuckten, aber sein liebenswürdiges Lächeln blieb unverändert. Clarice kannte ihn mittlerweile gut genug, um diesem Lächeln nicht zu trauen.

Warwick war nicht in dieser glücklichen Lage. Er lächelte zurück, ein freundlicher Wolf, der glaubte, über seinen Beuteanteil verhandeln zu können.

»Warnefleet.« Er hielt ihm die Hand hin.

Jacks Blick senkte sich darauf, dann wandte er sich an Clarice.

»Könntest du das bitte einen Moment halten?«

Verwundert nahm sie sein Glas.

Jack drehte sich wieder zu Warwick zurück  – und versetzte ihm einen Kinnhaken.

Clarice war restlos überrascht. Warwick stolperte rückwärts, dann brach er zusammen. Völlig verdutzt starrte er zu Jack empor.

Mit einem leichten Zucken seiner Schultern straffte Jack seinen Abendrock, zog die Ärmel glatt und nahm Clarice sein Glas wieder ab. »Danke.«

Er blickte Warwick an und hob grüßend das Champagnerglas. »Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er nippte.

Völlig verdattert blieb Warwick auf dem Boden liegen.

»Wofür war das?«

Jack lächelte, dieses Mal aufrichtig.

»Das war für Ihr Fehlverhalten in der Vergangenheit. Das und mehr wäre Ihnen widerfahren, wenn ich damals in der Nähe gewesen wäre. Das und viel mehr wird Ihnen in Zukunft widerfahren, wenn Sie so unklug sind, sich Lady Clarice noch einmal zu nähern, auf welche Weise auch immer.« Sein Lächeln wurde drohend. »Weil ich jetzt da bin.«

Jack trank einen weiteren Schluck Champagner, betrachtete Warwick und fragte dann leise: »Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

Trotz flammte in Warwicks Augen auf, aber Jacks Ton war ernst genug, dass er ihn genauer anschaute. Nachdem er Jack einen Moment in die Augen gesehen hatte, erblasste er; alle Aggression wich aus ihm.

»In der Tat.« Mit zusammengepressten Lippen warf er Clarice einen kurzen Blick zu, dann rappelte er sich ungelenk auf. Er wartete einen Moment, als wäre ihm schwindelig, dann neigte er vorsichtig den Kopf. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen?«

Er schickte sich an, zurück zur Tür zu gehen. Sein Schritt stockte, als er drei Damen und zwei Herren sah, die Jack auf den Balkon gefolgt waren; von dem Ausdruck in ihren Gesichtern zu schließen hatten sie genug gesehen, um die Gerüchteküche den Rest der Woche anzuheizen. Warwick fasste sich rasch und ging weiter, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen.

Jack wandte sich zu Clarice um, sah ihr in die Augen und verzog das Gesicht.

»Bitte entschuldige. Ich hatte nur den Eindruck, das sei überfällig, und niemand sonst schien es tun zu wollen, daher …« Er zuckte die Achseln.

Zu seiner Erleichterung lächelte sie entzückt.

»Danke.« Ihre Augen sagten noch mehr als ihr Mund. Sie legte ihre Hand auf seinen Ärmel, stellte sich neben ihn und betrachtete mit ihm die Schönheit des nächtlichen Gartens, während sie ihren Champagner tranken.

Hinter ihnen wurde geflüstert, dann jedoch begab sich die Gruppe von dem Wunsch beseelt, ihre Neuigkeiten zu verbreiten, wieder in den Ballsaal.

Jack seufzte.

»Ich wollte keinen Skandal auslösen.«

Clarice lachte leise.

»Das stört mich nicht. Und da es nun einmal unser Ziel ist, die Leute von James’ misslicher Lage abzulenken, danke ich dir für deine Hilfe.« Sie schaute zu ihm auf und drückte ihm den Arm.

»Danke, dass du ihn für mich geschlagen hast. Ich habe mir immer gewünscht, das selbst tun zu können.«

»Deine Vorgehensweise wäre auch von Erfolg gekrönt gewesen.« Jack drehte sich mit ihr zum Ballsaal um. »Aber du willst ja sicher nicht vorhersehbar werden.«

Sie lachte immer noch fröhlich, als er sie in den Saal zurückgeleitete, vor den interessierten Augen der versammelten guten Gesellschaft.

 

Sie spielten das Spiel noch eine Weile weiter, bevor sie aufbrachen.

Wieder zurück im Benedict’s mit ihm allein in ihren Zimmern, brachte Clarice ihre Dankbarkeit auf tatkräftigere und sinnlichere Weise zum Ausdruck.

Danach, als sie befriedigt in den zerwühlten Laken lag, Jack an ihrer Seite schlief, ließ sie ihre Gedanken schweifen, zu den Ereignissen der letzten Zeit und den Veränderungen, die sich daraus für ihr Leben ergaben.

Die unerwarteten Verlagerungen in ihrer Lebenslandschaft, ihre unvorhergesehenen Reaktionen.

Der Vorfall heute Abend mit Warwick nahm in ihren Gedanken wieder Gestalt an. Sie hatte keine Zweifel daran, dass er ihr ein unehrenwertes Angebot hatte machen wollen, als Jack zurückgekommen war und, ohne von der in der Luft liegenden Beleidigung zu ahnen, mit Warwick verfahren war, wie er es verdiente.

Er hatte es für sie getan. Was hätte ihn sonst dazu treiben können? Er hatte sie nicht nur verteidigt, er hatte sie gerächt.

Nie zuvor hatte jemand so etwas für sie getan. Weder ihr Vater noch ihre Brüder. Das hatte sie auch nicht von ihnen erwartet, sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie ihnen erlaubt hätte, ihr auf diese Weise zu helfen.

Jack aber hatte nicht gefragt, er hatte sich einfach zu ihrem Rächer aufgeschwungen, als hätte er das Recht dazu.

Vielleicht hatte er das Recht dazu. Sie verspürte jedenfalls keine Zweifel, hatte keine Schwierigkeiten, Hilfe von ihm anzunehmen, zuzulassen, dass er ihr Verteidiger und ihr Rächer war.

Morgen früh würde sich die Nachricht natürlich bereits überall in der guten Gesellschaft herumgesprochen haben, aber dennoch war sie nicht besorgt. Es war ihr egal, ob die ganze Welt erfuhr, dass sie bereit war, ihn in ihr Leben zu lassen. Ihr nahezukommen.

Sie schaute zu ihm, beobachtete ihn im Schlaf, ließ ihren Blick über sein Gesicht, die harten Züge, die kantigen Linien wandern. Sie spürte seine Stärke und den schweren Körper, der halb auf ihr lag.

Ihre Lippen verzogen sich; sie blickte zur Decke und freute sich unvermittelt über seine besitzergreifende Art.

Ein Aspekt seines Wesens, den er nie zu verbergen versucht hatte. Sie hatte es gleich von Anfang an bemerkt. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er keine Bedrohung für sie darstellte.

Sie war sich nicht so sicher, warum. Vielleicht hatte es etwas mit der Verbindung zwischen ihnen zu tun, die Tag für Tag, Nacht für Nacht stärker wurde. Vielleicht fühlte sie sich nicht verletzlich, weil er aufgrund ihrer Verbindung ebenso verletzlich war.

Eine gemeinsame Bindung.

Sie streckte die Hand aus und spielte mit seinen Haaren, während sie nachdachte, was so eine Bindung bedeuten konnte.

Verstandesmäßig konnte sie diese Frage nicht beantworten. Ihre Gedanken schweiften ab.

Niemand, sie selbst eingeschlossen, hatte wissen können, dass, nachdem sie ihre Stellung in der Gesellschaft wider Erwarten zurückerobert hatte, sie sie gar nicht mehr für erstrebenswert halten würde. Dass das Leben in der Gesellschaft mit dem ständigen Trubel ihr nicht länger begehrenswert erschiene. Sie war so lange fort gewesen, dass der Reiz verblasst und schließlich verschwunden war. Vielleicht sollte sie ihrem Vater dafür dankbar sein? Nicht für die Verbannung, aber dafür, dass er sie gezwungen hatte, sich zu entscheiden.

Das Leben, wie Claire gesagt hatte, bestand daraus, die Wahl zu treffen und dann mit der Entscheidung zu leben. Einen Weg zu wählen, ihm zu folgen und zu sehen, wohin er führte, während man das Abenteuer genoss.

So, wie sie und Jack es von Beginn an getan hatten, seit sie sich begegnet waren.

Wenn ihre Mission hier zu Ende war, wenn sie James entlastet und ihre Brüder vor den Altar gebracht hatten, stand sie vor einer weiteren Wahl. Sich in ihr früheres Dasein zurückzuziehen, die Gesellschaft zu wählen, oder …

Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber der Schlaf trübte ihren Verstand und übermannte sie, ehe sie sich darüber klar werden konnte, ob sie wirklich noch eine andere Alternative hatte, einen weiteren unerwarteten Weg, dem sie folgen konnte… oder ob sie einfach nur träumte.

 

»Der Bischof plant, morgen sein Gericht einzuberufen. Ich schlage vor, wir suchen ihn heute auf.« Jack blickte über den Tisch hinweg, auf dem er die gesammelten Beweise ausgebreitet hatte, Clarice an.

Es war nach zehn Uhr. Er war von einer morgendlichen Besprechung mit seinen Kameraden im Bastion Club zurückgekehrt und hatte ihr alles vorgelegt, was sie zusammengetragen hatten.

Er deutete auf die Papiere vor sich. »Das hier sind mehr als überzeugende Beweise, dass James nie an einem der Treffen teilgenommen hat, dass sie nie stattgefunden haben. Damit fehlt den Anschuldigungen jegliche Grundlage. Ich habe es mit den anderen diskutiert  – wir sind der Ansicht, dass wir, sofern die Chance besteht, die ganze Anhörung verhindern sollten.«

Clarice nickte langsam und überlegte.

»Auf diese Weise gibt es keine formelle Anklage.«

»Genau. Also, gehen wir und suchen den Bischof auf?«

Sie erwiderte seinen Blick und nickte.

»Ja, lass uns gehen.«

 

Als sie am Bischofssitz ankamen, sprachen sie erst mit Dekan Samuels und Diakon Olsen. Der Dekan brachte ihre Nachricht direkt zum Bischof. Zehn Minuten später wurden sie zu einer Privataudienz vorgelassen.

»Nun denn.« Der Bischof schaute von Jack zu Clarice. »Der Dekan sagt mir, Sie hätten Neuigkeiten?«

Anhand seines Gesichtsausdrucks war es klar, dass er von ihnen Hilfe erwartete, um zu vermeiden, dass er im politischen Treibsand versank. Jack lächelte. Geschickt unterstützt von Clarice ging er die angeblichen Treffen und die Liste der Zeugen durch, die Diakon Humphries genannt hatte. Sie legten die unterzeichneten und beeideten Widerrufe ihrer Aussagen vor und berichteten ihm, dass die Zeugen von dem vermeintlichen Kurier bestochen worden seien, damit sie logen.

»Die Beschreibung des Mannes, der sich mit Diakon Humphries getroffen hat unter dem Vorwand, ihm Informationen zu geben, passt zu der von dem Mann, der den Zeugen Geld geboten hat, damit sie schwören, sie hätten James Altwood dabei beobachtet, wie er sich mit dem Kurier getroffen hat.« Jack schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Hinzu kommt noch, dass wir wenigstens drei Zeugen für jede der Kneipen haben, die bereit sind zu beeiden, dass kein Kirchenvertreter in den letzten zwei Jahren ihre Schwelle übertreten hat.«

Er schaute auf und erwiderte den Blick des Bischofs. »Weiterhin verfügen wir über die bestätigten Aussagen von verschiedenen Mitgliedern der ton, die angeben, James bei gesellschaftlichen Ereignissen an ebenjenen Abenden gesehen zu haben.«

Jack ließ den Stoß mit den schriftlich festgehaltenen Aussagen auf den kleinen Tisch vor sich fallen und legte eine Hand auf den letzten Stapel Dokumente. »Und schließlich wissen wir, dass James die meisten aufgeführten Details tatsächlich bekannt waren, da er nun einmal Militärforscher ist. Aber es wird gesondert darauf hingewiesen, James habe Wissen über den Truppenabzug und -abbau weitergegeben.« Jacks Lächeln wurde grimmig. »Davon allerdings konnte James Altwood nichts gewusst haben.«

In allen Einzelheiten beschrieb er die umfangreichen Nachforschungen, die Dalziel angestellt hatte. »Uns liegen keine Hinweise darauf vor, auf welchem Wege James Altwood an solche Information gelangt sein könnte.«

Clarice trat vor.

»Die gesammelten Beweise belegen schlüssig, dass James an diesen drei Treffen mit einem Kurier nicht teilgenommen hat, dass er sich zur betreffenden Zeit an einem anderen Ort aufgehalten hat. Zudem kann er über einen Teil der Informationen gar nicht verfügt haben, die er angeblich dem Feind übermittelt hat. Kurz gesagt, Mylord, die Anschuldigungen gegen meinen Verwandten scheinen jeglicher Grundlage zu entbehren. Mehr noch, sie scheinen konstruiert zu sein, entweder von diesem vermeintlichen Kurier oder von jemandem, der durch ihn agiert, um die Obrigkeit zu täuschen, die Kirche eingeschlossen, und ein ungerechtfertigtes Verfahren einzuleiten.«

Der Bischof blinzelte, aber er war nicht enttäuscht. Er nickte ernst. »In der Tat, Lady Clarice. Ihre Darstellung ist stichhaltig.« Seine Miene verriet, dass er genau wusste, welche Fallstricke in ungerechtfertigten Gerichtsverfahren lauerten, selbst an seinem eigenen Hof.

Er blickte Jack an. »Lord Warnefleet, die Kirche schuldet Ihnen Dank, Ihren Vorgesetzten und den anderen, die Ihnen dabei geholfen haben, so rasch die Beweise zusammenzutragen. Wir danken Ihnen. Und Ihnen, Lady Clarice, selbstverständlich auch. Bitte teilen Sie, werte Dame, Ihrer Familie mit, dass in dieser Angelegenheit keine weiteren Schritte unternommen werden.« Der Bischof blickte auf den Stapel Papiere vor Jack. »Im Lichte all dessen, was Sie mir hier unterbreitet haben, sehe ich keinen Nutzen darin, eine formelle Anhörung weiterzuverfolgen. Alle Anschuldigungen werden als unbegründet zurückgewiesen. Ich werde Whitehall von meiner Entscheidung unterrichten.«

Clarice lächelte hocherfreut.

»Danke, Mylord.«

Die bis dahin formale Atmosphäre lockerte sich. Der Dekan und Diakon Olsen kamen vor, um Jack die Hand zu schütteln und ihr Erstaunen über die Beweise zu äußern. Clarice unterhielt sich mit dem Bischof, der sich beinahe wehmütig nach ihrer Tante Camleigh erkundigte, Fragen, die Clarice zu ihrer eigenen Verwunderung befriedigend beantworten konnte.

Etwa fünfzehn Minuten später trennte man sich einvernehmlich, Jack, Clarice und Olsen überließen es dem Bischof und dem Dekan, die Sache Humphries zu erklären.

Olsen brachte sie zur Haupttreppe, verabschiedete sich von ihnen und ging glücklich und mit dem Beweisen unterm Arm in sein Arbeitszimmer.

Lächelnd drehte sich Jack zu Clarice um, und sie gingen eingehakt die Stufen hinunter.

»So, eine Angelegenheit ist erfolgreich erledigt.« Clarice blieb auf den Stufen vor dem Palast stehen und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Ich nehme an…« Sie sah Jack an. »Nun, da wir James gerettet haben und die Sache uns nicht länger beschäftigen muss, sollten wir uns auf meine Brüder und ihre Zukunft konzentrieren.« Sie schaute ihn durchdringend und herausfordernd an. »Lady Hamilton veranstaltet heute einen al-fresco-Lunch. Lady Cowper und Tante Camleigh haben das unabhängig voneinander als ein Ereignis erwähnt, das ich keinesfalls versäumen sollte.«

Jack hob die Brauen, sagte aber nichts.

Unbeirrt ging Clarice weiter mit ihm die Treppe hinunter. »Natürlich«, gestand sie ihm, »möchten sie mich beide aus demselben Grund dort sehen.« Sie fing Jacks Blick auf. »Moira wird dort sein, und die Haverleighs und die Combertvilles. Nach Helens Ball gestern Nacht möchten unsere Tanten wahrscheinlich sicherstellen, dass Moira begreift, dass sie ihre Position nicht länger halten kann.«

Sie verzog das Gesicht.

Jack betrachtete sie.

»Es ist wie Politik, nicht wahr? Die Damen ringen um Stellung und Einfluss, verbünden sich, mal so, mal so, oder?«

Sie rümpfte die Nase.

»Es ist wie in der Politik, nur unbarmherziger. Wenn du in der Gesellschaft versagst, erhältst du selten eine zweite Chance. In der Politik sind sie da weniger nachtragend.«

Jack verkniff sich ein Schnauben. Das schmiedeeiserne Tor des Palastes tauchte vor ihnen auf.

»Möchtest du, dass ich dich heute Mittag begleite?«

Der Pförtner verbeugte sich und öffnete das Tor. Clarice trat hinaus und lächelte.

»Wenn du es einrichten kannst. Ich bin nicht sicher, was mich erwartet. Jemanden, dem ich traue, an meiner Seite zu haben, wäre tröstlich.«

Jack sah ihr in die Augen und verkniff sich die Erwiderung, dass er immer Zeit dafür haben würde, an ihrer Seite zu sein  – sah in ihre tiefen dunklen Augen und erkannte, dass sie sich dessen bewusst war. Boudicca war es nicht gewohnt, sich die tröstliche Nähe eines anderen zu wünschen, ganz zu schweigen, darum zu bitten.

Seine Lippen verzogen sich, und er hob ihre Hand und küsste sie. »Für dich würde ich mich jeder Gefahr stellen, sogar den Damen der guten Gesellschaft.«

Sie lachte und nahm sein ritterliches Angebot an. Er winkte eine Droschke heran. Sie stiegen ein und brachen zu ihrem nächsten Abenteuer auf.

 

»Moira ist nicht hier.« Clarice blickte Jack an und machte aus ihrer Verwunderung kein Hehl.

Jack suchte die fröhlich gekleidete Menge ab, die die Rasenfläche zwischen Hamilton House und dem Flussufer bevölkerte, und zuckte die Achseln.

»Vielleicht hat sie nach letzter Nacht entschieden, dass ihre Anwesenheit nicht länger erforderlich ist, dass es ohnehin witzlos ist. Ihre Töchter sind alle verheiratet, nicht wahr?«

»Ja. Aber das kann es nicht sein. Sie ist eindeutig darauf aus, eine gute Eheschließung für Carlton anzubahnen. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, sich von so einer Veranstaltung fernzuhalten.«

Clarice sah ihre Tante Camleigh in der Menge, wartete, bis sie sie ebenfalls entdeckte, und schaute sie dann mit fragend hochgezogenen Brauen an. Ihre Tante zuckte die Achseln und hob ihre Hände in einer Geste. Sie hatte ebenfalls keine Ahnung, warum Moira nicht anwesend war. Clarice verzog das Gesicht, drehte sich um und betrachtete das Gewühl. »Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich ihr einfach nicht traue. Kenne deinen Feind und all das …«

Als Jack darauf nichts antwortete, schaute sie ihn an und sah, dass er starr dastand. Er wirkte seltsam versteinert. Sie folgte seinem Blick und sah eine hochmütige Matrone mit zwei jungen Damen im Schlepptau, die auf sie wie eine nicht zu bremsende Galeone unter vollen Segeln zustrebte. Die Augen der Damen ruhten auf Jack.

Sie blieb vor ihnen stehen und lächelte Jack entzückt an. »Lord Warnefleet, nicht wahr?«

Clarice dachte nicht lange nach, machte einen Schritt vor und zwang die Dame, sie anzusehen. Sie lächelte knapp.

»Ich glaube nicht, dass wir einander schon vorgestellt wurden.«

Die Dame blinzelte, schaute Clarice an und schluckte. Dann wich sie einen Schritt zurück und knickste. Clarice blickte zu ihren Schützlingen, die daraufhin ebenfalls in einen Knicks versanken.

»Lady Quintin, Lady Clarice. Lady Hamilton ist meine Tante.«

»Ah ja. Ich glaube, sie hat Sie schon einmal erwähnt.« Clarice sah die jungen Damen an. »Ihre Töchter?«

Lady Quintin war sichtlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, die Erste zu sein, den überaus begehrenswerten Junggesellen Lord Warnefleet mit ihren Töchtern zusammenzubringen oder sich das Wohlwollen einer so einflussreichen Dame wie Lady Clarice Altwood zu sichern … die zwischen ihr und ihrem Opfer stand. Ihre Ladyschaft beugte sich dem Diktat der Vernunft und lächelte.

»In der Tat, Mylady. Amelia und Melissa.«

Mit einer Leichtigkeit, die aus jahrelanger Erfahrung resultierte, unterhielt sich Clarice mit den drei Damen, ehe sie sie freundlich, aber bestimmt entließ. Halb hinter ihr stehend musste Jack nicht mehr tun, als sich zu verbeugen. Er wirkte distanziert.

»Dem Himmel sei Dank.« Er fasste Clarice am Ellbogen, als die Damen sich entfernten, und wandte sich mit ihr zum Haus. »Lass uns …« Er brach ab, dann fluchte er tonlos. »Die Heiligen mögen mir beistehen  – da ist ja eine ganze Armee von ihnen.«

»Heilige werden dir nicht viel helfen, nicht bei so etwas.« Clarice entzog ihm ihren Ellbogen und hakte sich bei ihm unter. Sie sah ihm kurz in die Augen. »Bleib einfach dicht bei mir, und ich verspreche, dass dir nichts passiert.«

Der nervöse Blick, den er ihr zuwarf, entlockte ihr ein Lächeln.

Mit diesem Lächeln drehte sie sich zu den Müttern und ihren Schützlingen um, die schon auf der Lauer lagen. »Es ist witzlos, zu versuchen, zu entkommen. Wir werden uns durchkämpfen müssen.«

Das taten sie auch, kamen in kleinen Schritten voran, näherten sich aber beharrlich dem Haus. Jeder Schritt auf dem Weg musste bezahlt werden mit einem kurzen Gespräch mit einer Matrone und ihrer Tochter oder Nichte, wenn nicht gar beiden. Anfangs wunderte Clarice sich über Jacks Zurückhaltung, sein unverkennbares Bestreben, so überlegen wie möglich zu bleiben, statt seinen gewohnten spielerischen Charme einzusetzen. Aber dann sah sie ihn genauer an und erkannte in seinem Blick, dass er nicht seiner Wortgewandtheit, sondern seinem Temperament misstraute.

Aus irgendeinem Grund trafen die Matronen, indem sie ihm ihre Schützlinge aufdrängten, einen Nerv bei ihm… vielleicht nicht überraschend. Sie schienen sich alle einzubilden, sie könnten ihn so manipulieren, dass er sich benahm, wie sie es sich wünschten. Einen Mann wie ihn, mit seiner Vergangenheit, seinem Hintergrund, musste solch ein Verhalten verärgern, das fast schon an Verachtung grenzte. Besonders, da die Regeln der Höflichkeit es ihm verboten, so zu reagieren, wie er wollte.

Früher hatte man auch versucht, sie zu manipulieren; wenigstens hatte sie Nein sagen können. Für ihn jedoch war ein Nein keine Option. Die gute Gesellschaft ließ nicht zu, dass ein Gentleman in aller Öffentlichkeit die Fassung verlor.

Sie hingegen konnte so schonungslos sein, wie es ihr beliebte, aber aus Rücksicht auf Lady Hamilton und den Namen Altwood spielte sie nach den allgemein akzeptierten Regeln und wehrte die raubtiergleichen Mütter eine nach der anderen mit einem Lächeln, einer gezielten Bemerkung und der unbeirrbaren Weigerung, Jacks Arm loszulassen, ab.

Ein Paar jedoch  – ein echter Drachen und ihr hübscher, aber seltsam nervöser Schützling  – blieb ihr besonders im Gedächtnis haften. Nicht wegen etwas, das sie gesagt hatten, sondern wegen der Anspannung, die Jack befallen hatte, als sie vor sie traten.

Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis sie die Terrasse erreichten, dann noch einmal eine Viertelstunde, ehe sie sich in die Polster der segensreich stillen Kutsche lehnen und erleichtert aufatmen konnten.

Clarice warf Jack einen Blick von der Seite zu.

»Das war grässlich. War das vorher auch schon so?«

Er ließ den Kopf gegen das Kissen sinken.

»Ja. Ich habe dir doch erzählt, dass ich davon genug hatte, dass es einer der Gründe war, weswegen ich gegangen bin.«

Und er hatte nicht vorgehabt, zurückzukommen. Das hatte Clarice nicht vergessen.

»Die kleine Cowley? Du kanntest sie schon.«

Seine Miene wurde grimmiger.

»Sie und ihre Tante waren sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.« Mit knappen Worten beschrieb er ihr, wie sie versucht hatten, ihn hereinzulegen. Selbst ohne dass er es betonte, konnte sie begreifen, wie brenzlig die Situation gewesen war.

»Schrecklich! Und sich dir dann so frech noch einmal zu nähern.« Sie kniff die Augen zusammen. »Ich wünschte, ich hätte das gewusst.«

Er lächelte müde.

»Vielleicht ist es besser so. Die Leute haben dich sowieso schon im Visier.«

Sie sagte leise:

»Es tut mir leid. Weil du mir hilfst, begibst du dich wieder in die Schusslinie der heiratswütigen Mütter.«

Seine Lippen zuckten. Er nahm ihre Hand.

»Egal. Du hast mich gerettet. Und im Großen und Ganzen bewegen sich all diese liebreizenden unverheirateten Töchter in anderen Kreisen als du.«

Clarice nickte und ließ das Thema fallen, sie war damit beschäftigt, ihre neuerliche unerwartete Reaktion zu verstehen.

Sie war voll und ganz bereit gewesen, jedes weibliche Wesen, das den Versuch unternahm, auf Jack Druck auszuüben, ihn dazu zu bringen, sich mit ihnen und ihren Schützlingen abzugeben, gesellschaftlich unmöglich zu machen. Es war in der Tat ein glücklicher Umstand, dass sie nicht über die Cowleys Bescheid gewusst hatte; wer weiß, was sie am Ende getan hätte, wie sie dafür hätten bezahlen müssen. Mit ihrer Entschlossenheit konfrontiert, hatten alle Damen verwirrt den Rückzug angetreten. Sie waren unsicher, wie sie ihre Beziehung zu Jack deuten sollten. Anders als für die Herren und die erfahreneren Gastgeberinnen war sie in den Augen der meisten Matronen zu alt und damit auf dem Heiratsmarkt längst nichts mehr wert. Daher hatten sie beschlossen, einen günstigeren Moment abzuwarten und sich dann wieder an Jack heranzumachen, auch wenn der in Ruhe gelassen werden wollte.

Und ihre Reaktion auf ihren Angriff hatte sie innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Er  – Männer seines Standes, seiner Art  – wollten um jeden Preis Beschützer sein. Warum empfand sie dann auf einmal so für ihn?

Was das Gefühl noch seltsamer erscheinen ließ, war, dass es etwas Besitzergreifendes hatte, das sich in ihre Gedanken geschlichen hatte, in die Art und Weise, wie sie über ihn dachte. Sie hatte immer gedacht, dass so ein Gefühl ihm und anderen Männern vorbehalten war. Aber sie war sich ihrer Wünsche zu deutlich bewusst, zu sehr daran gewöhnt, entsprechend zu handeln, um sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass sie ihn wollte, ihn festhalten und nicht mehr loslassen wollte  – sie wollte ihn besitzen.

Das war alles in höchstem Maße Besorgnis erregend.

Besonders wenn man bedachte, dass sie sich bald entscheiden musste.

Was, wenn sie den Weg, der sich vor ihr auftat, ohne Jack gehen musste?

 

Auf Clarice’ Vorschlag hin machten sie einen Abstecher in den Park. Von ihrem sicheren Platz in der Droschke aus studierten sie die Insassen der Kutschen, die auf der Avenue aufgereiht standen, entdeckten aber keinen Hinweis auf Moira.

»Etwas stimmt hier nicht.« Clarice ließ sich nach hinten sinken, als Jack dem Kutscher die Anweisung gab, zum Benedict’s zu fahren.

Ihre Vorahnung sollte sich als richtig erweisen. Sobald sie das Foyer des Hotels betraten, kam ihnen der Portier mit einem Brief entgegen.

»Mylady.« Der Portier verneigte sich tief vor Clarice. »Der Marquis hat darauf bestanden, dass Ihnen diese Nachricht sofort übergeben wird.«

Clarice nahm ihm den Brief ab.

»Danke, Manning.« Sie brach Altons Siegel und entließ den Portier mit einem Nicken.

Sie öffnete das zusammengefaltete Blatt Papier und überflog es, dann hielt sie es Jack hin.

Die Nachricht war kurz.

Dekan Samuels ist hier in Melton House. Er ist auf der Suche nach Dir und Warnefleet hergekommen  – es gibt neue Entwicklungen im Fall James. Komm bitte, sobald du das hier gelesen hast.

A.

Jack blickte Clarice an.

Sie runzelte die Stirn.

»Was für Entwicklungen? Der Fall ist beendet, oder?«

»Offenbar nicht.« Jack nahm die Nachricht, faltete sie wieder zusammen und reichte sie ihr. »Wir gehen besser und finden es heraus.«

Die Droschke war noch nicht weitergefahren. Der Kutscher ließ sie gerne wieder einstiegen. Er folgte der Bitte, sich zu beeilen, und trieb seine Pferde an.

Alton und der Dekan warteten in der Bibliothek. Beide erhoben sich, als Clarice eintrat.

»Was ist los?«, fragte sie, ohne sich mit Vorreden aufzuhalten, und gab ihnen ein Zeichen, sich wieder hinzusetzen.

Mit schwingenden Röcken setzte sie sich auf den Polsterstuhl gegenüber dem Dekan. Jack nahm sich einen Stuhl und stellte ihn neben sie.

»Es hat nichts mit dem Fall gegen James per se zu tun«, beeilte sich der Dekan, sie zu beruhigen. »Ein bloßes technisches Detail, eine leichte Verzögerung, nicht mehr.«

Clarice lehnte sich zurück, die dunklen Augen auf sein Gesicht gerichtet.

»Was ist los?«

Der Dekan wirkte zerknirscht.

»Der Bischof hat Diakon Humphries zu sich gerufen und ihm unsere Funde erklärt, in der Absicht, Diakon Humphries zu bitten, seine Anschuldigungen zurückzunehmen, was der sauberste Weg wäre, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.«

Clarice nickte.

»Und?«

»Humphries war … nun, verwirrt. Er hat Ihre Ermittlungen nicht angezweifelt, sondern nicht verstanden, wie so etwas möglich ist. Er beharrte sehr stark darauf, dass seine Vorwürfe der Wahrheit entsprächen, dass die Informationen, die er erhalten hatte, stimmten, und dass sie überzeugender seien, wenn der Informant sie selbst vortrüge. Er hatte vor, den Mann als Zeugen aufzurufen, falls sich das als nötig erweist. Humphries will immer noch die Beweise des Mannes dem Bischof präsentieren. Er findet, dass jeglicher Vorstoß, die Anklage fallen zu lassen, voreilig sei. Kurz, er bat um Erlaubnis, diesen Mann vor Gericht zu laden.«

Jack beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt.

»Wir  – Whitehall  – wären sehr daran interessiert, diesen Herrn zu treffen. Hat Humphries zufällig seinen Namen genannt?«

»Nein.« Der Dekan wirkte immer aufgeregter. »Ich habe danach gefragt, der Bischof auch, aber Humphries hat sich darauf berufen, er habe sein Wort gegeben, den Namen des Informanten nicht ohne dessen Zustimmung zu nennen. Der Grund dafür ist natürlich, dass er sich als ehemaliger Kurier für den Feind selbst belasten würde… allerdings wäre das vor einem Kirchengericht nicht so bedeutsam. Wie auch immer.« Der Dekan holte tief Luft. »Ich wurde aus dem Zimmer gerufen. Während ich fort war, verlangte Humphries, dass er erst mit dem Kurier sprechen dürfe, bevor er seinen Namen preisgebe und ihn als Zeugen berufe, was ihm der Bischof gewährt hat.«

Der Dekan sah Jack in die Augen. »Humphries ist gegangen, um sich mit dem Mann zu treffen.«

Jack erwiderte den Blick des älteren Mannes ungerührt.

»Das ist nicht klug.«

Der Dekan rang die Hände.

»Das sehe ich ebenso. Ich bin sofort hergekommen, nachdem ich es erfahren hatte. Der Bischof ist nicht glücklich über Humphries’ Verhalten, aber er möchte, dass die Sache beigelegt wird. Natürlich ist es… nun, ein Ablenkungsmanöver, wenn nicht sogar schlimmer.«

»Allerdings.« Clarice beugte sich vor und legte ihre Hände tröstend auf die nervös zuckenden Hände des Dekans. »Aber Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan. Jetzt können wir nur hoffen, dass Humphries bald zurückkehrt und zu denselben Schlüssen kommt wie wir.«

Während sie ihn mit ihren dunklen Augen anblickte, beruhigte der Dekan sich. Er nickte.

»Sie haben recht. Ich gehe jetzt besser zurück.« Er stand auf, und die anderen taten es ihm nach. »Ich werde Sie benachrichtigen, sobald Humphries zurückgekehrt ist.«

Nachdem der Dekan das Zimmer verlassen hatte, sah Clarice Jack an.

»Wusste Dalziel, dass wir heute Morgen mit dem Bischof sprechen wollten?«

Jack nickte.

»Ich habe ihn informiert. Es ist möglich, dass Dalziel jemanden abgestellt hat, der Humphries beobachtet. Dalziel hat bestimmt ohnehin vorgehabt, diesen Kurier über Humphries aufzuspüren, aber vielleicht hat er nicht damit gerechnet, dass Humphries gleich heute loszieht.« Jack ging zu Altons Schreibtisch und griff nach Papier und Schreibfeder. »Ich sollte wohl besser Dalziel warnen, dass Humphries gegangen ist, um sich mit dem Mann zu treffen.«

Alton verfolgte, wie er eine knappe Nachricht kritzelte und sie versiegelte, dann rief er einen Lakaien. Jack gab ihm den Brief und sagte ihm, wie er zu Dalziels Arbeitszimmer in den Tiefen von Whitehall finden konnte.

Sobald der Lakai gegangen war, schaute Alton Jack an.

»Das ist wirklich eine ernste Sache, nicht wahr? Sie fürchten um Humphries’ Leben.«

Jack verzog das Gesicht.

»Ob es schon so weit gediehen ist, weiß ich nicht, aber dieses Spiel wird gewöhnlich mit dem Leben oder dem Tod belohnt.«

Clarice rührte sich.

»Denkst du, Humphries ist sich dessen bewusst?«

Jack erwiderte ihren Blick offen.

»Nein. Ich denke, er ist unschuldig, ist unwissentlich in das Netz von Dalziels ›letztem Verräter‹ geraten.«

Clarice nickte. Sie bemerkte, wie Alton verwirrt seinen Mund öffnete, um mehr Fragen zu stellen. Sie kam ihm zuvor:

»Welche Fortschritte habt ihr mit euren Heiratsanträgen gemacht?«

Die Frage war bestens dazu geeignet, Alton abzulenken. Er schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. Dann stand er auf und zog an der Klingelschnur.

»Lasst uns Tee trinken, dann können die anderen es dir selbst sagen.«

Edwards kam herein. Alton bestellte Tee und trug dem Butler auf, Roger und Nigel zu ihnen in die Bibliothek zu bitten. Clarice bemerkte eine ungewohnte Elastizität in Edwards’ Gang, und auch Alton wirkte entspannt. Aber sie entschied, zu warten.

Roger kam herein, und sie sah ihm an, dass seine Romanze Fortschritte gemacht hatte. Seine Augen strahlten, sein Schritt war beschwingt, seine ganze Körperhaltung ein Ausdruck freudiger Erwartung. Er nahm ihre Hände, zog sie aus dem Stuhl und tanzte mit ihr Walzer um den Schreibtisch.

»Alice hat Ja gesagt. Ihre Eltern haben Ja gesagt. Alles ist einfach wunderbar!« Er blieb mit ihr vor ihrem Stuhl stehen und küsste sie schmatzend auf beide Wangen, dann ließ er sie los und seufzte zufrieden. »Alles ist gut.«

Clarice riss die Augen auf und schaute ihn verwundert an.

»Das freut mich natürlich zu hören, aber…«

»Und was mich betrifft …« Nigel erschien auf der Schwelle, kam zu ihr und fasste sie um die Mitte, hob sie hoch und schwang sie herum, lachte, als sie sich beschwerte und ihm auf die Schultern schlug. Er stellte sie wieder auf die Füße und grinste wie ein Idiot. »Emily denkt, ich sei ein Gott. Ihre Eltern sind etwas ernster, aber ich weiß, sie halten mich auch für einen Glücksfall.« Seine Augen funkelten; er drückte Clarice die Hände und ließ sie los. Sie sank auf ihren Stuhl zurück. »Also ist alles für die große Ankündigung vorbereitet.«

»Tee, Mylords, Mylady.« Edwards kam mit dem Teetablett herein, lächelte immer noch.

Clarice schluckte ihre energische Frage hinunter: Was ist mit Moira? Sie wartete, während Edwards die Teekanne und die Tassen hinstellte, und einen Teller mit Teeküchlein, über die Jack und ihre Brüder herfielen wie halb verhungerte Wölfe. Sobald sich die Tür hinter Edwards geschlossen hatte, schaute sie Alton an.

»Was ist mit dir und Sarah?«

Alton rang darum, nicht wie ein Lausbub zu grinsen.

»Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, heute mit ihr zu sprechen  – sie ist bei irgendeiner Gesellschaft gewesen  –, aber selbstverständlich habe ich gefragt, und sie hat Ja gesagt.« Er machte eine Pause, um tief Luft zu holen. »Und ich hatte mittags eine Unterhaltung mit Conniston. Er hat meinen Antrag angenommen. Claire hat den Weg sehr gut geebnet, muss ich sagen, und daher ist nun alles geregelt.«

Er schaute Clarice an, und sie war sich bewusst, dass ihre Brüder sie erwartungsvoll ansahen. »Es ist wirklich ein glücklicher Zufall, dass dich die Nachricht des Dekan hergeführt hat. Wir wollten dich fragen, wie bald wir den Ball ansetzen können, um unsere Verlobungen offiziell bekannt zu geben? In zwei Tagen? Oder in drei? Ich weiß, es ist alles etwas überstürzt, aber wir werden alle helfen, sodass …«

»Warte!« Clarice stellte ihre Teetasse ab und sah ihre Brüder alle der Reihe nach an. Keiner verriet irgendwelche Anzeichen, dass dunkle Wolken an ihrem Horizont dräuten. Sie wunderte sich … und fragte: »Was ist mit Moira passiert?« Sie blickte von einem grinsenden Gesicht zum anderen. »Wo ist Moira?«

Alton lächelte glücklich.

»Im Augenblick ist sie auf dem Weg nach Hamleigh House.«

»Was?« Clarice war restlos verblüfft.

Ein Zustand, den ihre Brüder zu genießen schienen. Nigel lachte.

»Es war wirklich ein Erlebnis, weißt du. Der Ausbruch des Vesuvs am Frühstückstisch, Feuerwerk und Raketen  – eine Schande, dass du das verpasst hast.«

Roger grinste, unverbesserlich, aber verständnisvoll.

»Alton hat sie des Hauses verwiesen.«

Clarice konnte nicht sprechen. Ihr fehlten schlicht die Worte, und selbst wenn sie hätte sprechen wollen, wäre es ihr schwergefallen, ihre Zunge und ihre Lippen zu bewegen und sie zu formen. Sie starrte Alton an. Er grinste, so offensichtlich zufrieden mit sich, dass sie eigentlich nicht fragen wollte, aber sie musste es einfach wissen.

»Warum? Und wie?«

Sie war nicht überrascht, als alle plötzlich ernst wurden. Sie wechselten Blicke; sie hielt eine Hand hoch. »Erzählt es mir einfach. Haltet euch nicht damit auf, irgendetwas zu beschönigen, wenn es geht.«

Alton verzog das Gesicht.

»Sie kam heute Morgen hellauf empört ins Frühstückszimmer gestürmt. Sie wollte, nein, sie hat darauf beharrt, dass ich dich erneut des Hauses verweise.«

»Sie hat herumgeschrien und gekeift und mit den Zähnen geknirscht«, warf Nigel ein.

Alton nickte.

»Sie hat sich beschwert, wie die Familie sie behandelt, nachdem du zurück bist und so weiter.«

»Helens Ball war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, scheint es«, bemerkte Roger.

»Das kann ich verstehen«, erwiderte Clarice. »Aber sicherlich hast du sie nicht wegen ein bisschen Gezanke rausgeschmissen.«

Alton runzelte die Stirn.

»Es war nicht nur ein bisschen.«

»Nun, du kannst dir sicher vorstellen, was sie über dich gesagt hat«, stellte Nigel fest.

»Aber egal, das war nicht alles. Als ich mich geweigert habe, dich wegzuschicken, hat sie uns gedroht, aber nicht uns allein. Sie hat auch Sarah und die anderen mit einbezogen, vor allem aber Sarah …« Alton verzog verlegen das Gesicht. »Ich habe die Beherrschung verloren.«

»Er hat sie angebrüllt.« Nigels Miene verriet deutlich, dass er jede Sekunde davon genossen hatte.

Clarice blinzelte verwundert.

»Ich wusste gar nicht, dass er dazu imstande ist«, erklärte Roger. »Nicht in der Lautstärke jedenfalls.«

Alton starrte seinen Bruder finster an.

»Auf jeden Fall konnte es so nicht weitergehen, ständig stieß sie Drohungen gegen uns aus und versuchte alles so zu arrangieren, dass es ihrem lieben Carlton gefiel.« Seine Stimme wurde hart. »Sie hat mich so gereizt, dass ich zurückgeschlagen habe. Ich habe ihr klipp und klar gesagt, dass sie angesichts dessen, was sie über unsere zukünftigen Ehefrauen gesagt habe, nicht länger willkommen sei auf einem der Landsitze der Familie. Wenn sie wolle, habe ich ihr mitgeteilt, könne sie nach Hamleigh«  – Alton schaute zu Jack  – »ein kleines Landhaus der Familie in Lancashire, und dass ich die Kosten für die Haushaltsführung zu übernehmen bereit sei und sie selbst für alles andere aufkommen müsse, oder sie könne bei ihren Töchtern leben und deren Ehemännern, wenn sie das lieber wolle, aber sie werde keinen Fuß mehr in eines der anderen Häuser der Familie setzen und auch nicht mehr nach London kommen.«

Clarice konnte das kaum glauben.

»Und sie war einverstanden?«

Nigel grinste noch breiter.

»Das war das Beste. Ich dachte, sie würde einen Anfall bekommen, gleich hier am Frühstückstisch.«

Alton betrachtete ihn mit fest zusammengezogenen Brauen. »Natürlich war sie nicht einverstanden. Sie hat getobt und gewütet und noch mehr Drohungen ausgestoßen, bis ich ihr gesagt habe, dass wir zwar verstehen könnten, dass sie für Carlton eine möglichst vorteilhafte Heirat wolle, aber das sei eher unwahrscheinlich, wenn bekannt werde, dass er gar nicht Papas Sohn sei.«