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»Ich bin hier auf die Straße gekommen, durch diese Lücke in der Hecke.« Clarice deutete auf die Stelle, dann schaute sie zu der kaputten Kutsche, die knapp hundert Meter entfernt war. »Ich blieb stehen, überrascht, eine weitere Kutsche zu sehen, dann fiel mir wieder ein, dass ich Schreien und Rufe gehört hatte, der junge Mann hat geflucht, denke ich.«

Sie blickte ihn an und rechnete immer noch damit, dass er den arroganten Mann herauskehrte, ihr den Kopf tätschelte und ihr versicherte, dass alles in Ordnung sei, und im selben Moment alles, was sie gesehen, ja, gespürt hatte, als Hirngespinst abtat. Stattdessen hörte er ihr aufmerksam zu, und seine Miene war so grimmig, wie sie es sich nur wünschen konnte.

Statt ihre Beobachtungen dunkler Machenschaften als unbedeutend zu verwerfen, hatte er sie angesehen und gebeten, ihn zu dem Schauplatz zurückzubegleiten. Er hatte nicht versucht, ihren Arm zu nehmen, sondern war neben ihr die Auffahrt entlanggegangen. Er hatte Crabthorpes Stallburschen aufgetragen, am Tor zu warten, bis er mit der Untersuchung des Phaetons fertig war. Danach hatte er sie aufgefordert, ihm zu zeigen, wo sie die Straße betreten hatte.

Mit zusammengekniffenen Augen stand er neben ihr, schaute auf die zerstörte Kutsche.

»Beschreiben Sie mir bitte den Mann.«

An jedem anderen Tag, bei jedem anderen Mann hätte sie sich an dem barschen Befehl gestört; heute und bei ihm war sie einfach nur froh, dass er ihr angemessen aufmerksam zuhörte.

»Recht hochgewachsen  – größer als ich. Ungefähr Ihre Größe. Er war schwer gebaut, hatte kräftige Arme und Beine. Kurz geschnittenes helles Haar, vielleicht grau meliert, aber da bin ich mir nicht sicher.«

Sie verschränkte die Arme und starrte die Straße entlang, rief sich die Szene wieder ins Gedächtnis. »Er hatte einen grauen Überrock an, gut geschnitten, aber nicht von bester Qualität. Seine Stiefel waren braun und solide gearbeitet, aber nicht von Hoby’s oder hohe Soldatenstiefel. Er trug gelbbraune Handschuhe. Seine Haut war blass und sein Gesicht eher rundlich.« Sie blickte Warnefleet an. »Das ist alles, woran ich mich erinnere.«

Er nickte.

»Er ging gerade um den Phaeton herum, als er Sie näher kommen hörte, er blieb stehen und sah Sie an.« Er schaute ihr in die Augen. »Sie sagten, er habe Sie angestarrt.«

Sie erwiderte seinen Blick einen Moment lang, dann sah sie wieder die Straße entlang.

»Ja. Er starrte einfach… dachte nach. Er überlegte.« Sie widerstand dem Drang, sich mit den Händen die Arme zu reiben, um die Kälte zu vertreiben, die sie unwillkürlich wieder zu spüren meinte, wenn sie an diesen Augenblick dachte.

»Dann drehte er sich um und ging?«

»Ja.«

»Kein Zeichen, dass er Sie bemerkt hat, hat er nicht die Hand gehoben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er machte einfach kehrt, begab sich zu seiner Kutsche zurück und fuhr weg.«

Er führte sie über die Straße, aber auf der anderen Seite, sie gingen nebeneinander.

»Was war es für eine Kutsche?«

»Sie war klein und schwarz, von hinten konnte ich nicht mehr sehen. Es könnte eine dieser kleinen Kutschen gewesen sein, die Gasthöfe vermieten.«

»Haben Sie die Pferde gesehen?«

»Nein.«

»Warum glauben Sie, dass die schwarze Kutsche den Phaeton von der Straße gedrängt hat?«

Sie war sich sicher, dass genau das geschehen war, aber woher wusste sie das? Sie holte tief Luft.

»Drei Dinge: Erstens habe ich das Fluchen unmittelbar vor dem Zusammenprall gehört. Der junge Mann fluchte nicht über sein Pferd, einen Vogel oder die Sonne, sondern über jemanden. Außerdem hatte er furchtbare Angst, das habe ich ebenfalls gehört. Ich war nicht überrascht, den Zusammenprall zu hören, und ebenso wenig, die verunglückte Kutsche zu sehen.«

Sie schaute kurz in das harte Gesicht ihres Fragestellers. Er hatte scharfe ernste Züge, so aristokratisch wie ihre eigenen, und sie erkannte, dass er sich konzentrierte und jedes Wort von ihr aufnahm. »Ich habe erst auf meine Umgebung geachtet, als ich ihn fluchen hörte. Daher hatte ich auch nicht bemerkt, dass es zwei Kutschen waren, ehrlich gesagt war mir vorher gar nichts aufgefallen.« Sie schaute nach vorn. »Aber der zweite Grund, weswegen ich mir so sicher bin, dass der andere Fahrer den Unfall absichtlich herbeigeführt hat, war die Position seiner Kutsche. Er hatte in der Mitte der Straße angehalten, aber schräg zu dem Phaeton, weil er sich auf derselben Seite wie der Phaeton befunden hatte.«

Sie waren beinahe an dem Kutschenwrack angekommen; sie wurde langsamer. »Und schließlich …« Sie blieb stehen. Warnefleet blieb auch stehen und blickte sie an. Nach einem Moment sah sie ihm ins Gesicht. Das schuldete sie dem verletzten Mann, dass sie alles berichtete, was sie beobachtet hatte. »Der Fahrer der anderen Kutsche ging entschlossen zu dem Phaeton. Er war nicht aufgeregt oder besorgt. Er führte nichts Gutes im Schilde.« Sie blickte über die Straße zu dem Wrack. »Er hatte vor, das zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte.«

Sie wartete darauf, dass Warnefleet eine abschätzige Bemerkung machte, ihr sagte, dass ihre Phantasie mit ihr durchging, und sie wappnete sich, ihre Einschätzung der Lage zu verteidigen.

»Wo war die Kutsche stehen geblieben?«

Sie blinzelte verwundert, dann deutete sie auf eine Stelle, ein paar Meter weiter.

»Ungefähr dort.«

Jack nickte.

»Warten Sie hier.«

Er machte sich wenig Illusionen, dass sie tun würde, was er sagte, aber wenigstens ließ sie ihn vorausgehen, blieb mehrere Schritte hinter ihm, während er die Straße an der Stelle, die sie ihm gezeigt hatte, nach Spuren absuchte.

Einen Meter weiter fand er, wonach er gesucht hatte. Er ging in die Hocke und untersuchte die Furchen, die die Kutschenräder im Staub hinterlassen hatten, als der Fahrer gebremst hatte. Er drehte sich um und blickte zu dem Kutschenwrack zurück, schätzte die Entfernung und die Position der Kutsche ab.

Dann stand er wieder auf und ging um die Stelle herum, wo die Kutsche gestanden hatte, sich sehr wohl des Umstandes bewusst, dass Boudicca ihm mehr oder weniger buchstäblich auf dem Fuße folgte. Die Augen auf den Boden gerichtet, suchte er weiter, während er sich langsam auf den Phaeton zubewegte. Er war hier entlanggeritten, sie hatte den Braunen hier vom Phaeton weggeführt, daher hatte er nicht viel Hoffnung … aber das Schicksal war ihnen hold. Er hockte sich wieder hin und betrachtete den Stiefelabdruck, das war alles, was von dem unbekannten Fahrer übrig war.

Boudiccas Beobachtungen waren zutreffend gewesen. Der Abdruck stammte von einem gewöhnlichen lederbesohlten Stiefel eines Gentleman, der fast dieselbe Größe hatte wie er. Der überall etwa gleich tiefe Abdruck legte die Vermutung nahe, dass ihr Träger nicht sonderlich aufgeregt gewesen war. Entschlossen, hatte sie gesagt, und genau so sah es aus.

Mit zur Seite geneigtem Kopf hatte sie ihn beobachtet. Als er aufstand, hob sie die Brauen.

»Was können Sie daraus schließen?«

Er sah sie an, fing ihren Blick auf.

»Dass Sie eine genaue, umsichtige und verlässliche Beobachterin sind.«

Er sah, wie überrascht sie über diese Antwort war, was das Kompliment umso lohnenswerter machte.

Allerdings erholte sie sich rasch.

»Also stimmen Sie mir zu, dass der Fahrer der Kutsche ein unheilvolles Ziel verfolgte und wahrscheinlich den jungen Mann ermorden wollte?«

Er spürte, wie seine Züge sich verhärteten.

»Er hatte jedenfalls nicht vor, Hilfe zu leisten, denn dann wäre er nicht weitergefahren.« Er blickte von dem verunglückten Phaeton zu der Stelle, an der die Kutsche angehalten hatte. »Und Sie haben noch in einem weiteren Punkt recht: Der Fahrer hat den Phaeton absichtlich von der Straße gedrängt.«

Das war es, was sie hatte hören wollen, doch ihm entging nicht der Schauer, der sie unwillkürlich durchfuhr, obwohl sie sich abwandte, um ihn zu verbergen. Ehe er nachdenken konnte, hatte er schon einen Schritt auf sie zugemacht. Sein Selbsterhaltungstrieb machte sich bemerkbar und gebot ihm, innezuhalten. Er wusste es besser und berührte sie nicht, um sie in die Arme zu nehmen  – obwohl er genau das wollte.

Die Erkenntnis ließ ihn innerlich die Stirn runzeln. Er hatte nie zuvor eine Frau kennengelernt, die so widerborstig und unabhängig war wie Boudicca und bei der eher zu erwarten war, dass sie jeden Trost, den er ihr bot, schroff zurückwies. Und das nur, weil dieses Angebot bedeutet hätte, dass er ihre Schwäche bemerkt hatte… Mit leiser Selbstironie stellte er fest, dass er sie bestens verstand, er hatte nur noch nie zuvor eine Frau getroffen, die so dachte.

»Kommen Sie.« Er musste sich davon abhalten, sie am Ellbogen zu fassen, und wandelte die Bewegung ab, indem er in die andere Richtung winkte. »Ich bringe Sie zum Pfarrhaus.«

Sie zögerte, aber dann setzte sie sich in Bewegung. Nach einem Augenblick hob sie den Kopf.

»Das brauchen Sie nicht zu tun. Ich werde mich kaum verlaufen.«

»Trotzdem.« Er gab den wartenden Stallburschen ein Zeichen, und sie liefen zu dem Phaeton. »Davon abgesehen sollte ich James besuchen und ihn wissen lassen, dass ich zurück bin.«

»Ich werde es ihm gewiss sagen.«

»Das wäre nicht dasselbe.«

Er wartete, aber sie widersprach nicht. Als sie die Lücke in der Hecke erreichten und sie ihn hindurchführte, verrieten ihm ihre dunklen Augen, dass sie wusste, er würde jedes Argument, das sie vorbrachte, entkräften.

Ein kleiner Sieg, aber er schmeckte süß.

Auf der anderen Seite der Hecke fiel das Feld zu einer Senke hin ab, dann stieg es wieder an zu dem Hügel mit der alten Eiche. Sobald sie die Hecke hinter sich gelassen hatten, schaute Clarice sich um. Schließlich entdeckte sie ihren Hut an den Zweigen eines Baumes in der Nähe der Hecke. Ohne eine Bemerkung ging sie ihn holen.

Warnefleet folgte ihr schweigend.

Clarice schritt durch das hohe Gras, während sie sich überdeutlich bewusst war, dass ihre Sinne auf den schlanken, breitschultrigen und muskulösen Mann ein paar Schritte hinter ihr konzentriert waren. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie mühelos nicht nur sein gut geschnittenes Gesicht, das unbarmherzige Züge annehmen konnte, und seinen großen, kräftigen Körper heraufbeschwören, dessen Bewegungen elegant, aber kontrolliert kraftvoll waren, sondern auch  – und das erschien ihr besonders verräterisch, beunruhigend und erregend  – die Ausstrahlung, die ihn wie einen Mantel umgab. Exotisch, gefährlich und auf irritierende Weise verlockend. Und noch rätselhafter war das Gefühl, dass er sie sah  – ihr wahres Ich erkannte  – und nicht die Flucht ergriffen hatte.

Nichts von alldem erklärte jedoch hinreichend ihre körperliche Reaktion auf ihn, die plötzliche Anspannung, die sie ergriff und ihre Nerven dermaßen strapazierte, weil er sie nicht berührte.

Eine derartige Empfänglichkeit war ihr völlig fremd; sie hatte davon zwar gehört und gesehen, wie andere Damen ihr zum Opfer gefallen waren, aber von sich kannte sie das nicht.

So eine Reaktion war überhaupt nicht ihre Art.

Dann wiederum war er nicht das gewöhnliche arrogante Mannsbild. Natürlich war sie nicht so dumm, ihn für arrogant zu halten, aber sie hatte noch nie zuvor jemanden wie ihn getroffen.

Als sie den Baum mit dem Hut erreichten, blieb sie stehen und starrte ihn an. Er baumelte über ihrem Kopf, schwang leise in der lauen Brise hin und her. Sie reckte sich, aber sie kam nicht an ihn heran. Sie hüpfte, aber verfehlte ihn. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, aber es fehlte immer noch ein Zentimeter.

Über ihrem Kopf erschien eine Hand und pflückte den Hut vom Zweig.

Ihr stockte der Atem. Sie hatte nicht gewusst, dass er so dicht hinter ihr war.

Sie wirbelte herum. Ihr Stiefel verfing sich in dem hohen Gras, und sie fiel hin.

Genau gegen ihn.

Er fing sie auf, stützte sie, sodass sie Brust an Brust standen.

Ihre Lungen verkrampften sich, und sie schaute ihn mit einem erstickten Keuchen an.

Verlegenheit hätte sie überwältigen müssen, außer dass dafür kein Platz mehr in ihrem Kopf war. Gefühle und Empfindungen wallten auf und überschwemmten sie, fesselten ihre Gedanken in einem Netz neuer Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen.

Sie war schon vorher von Männern in den Armen gehalten worden, aber es war nie zuvor so wie jetzt gewesen. Nie hatte sich die Brust, gegen die sich ihr Busen drückte, so hart angefühlt, und nie war der Arm um sie so stählern gewesen. Nie hatten so große Hände sie so sachte oder so sicher gehalten. Nie hatten ihre Sinne geseufzt, als hätte sie den Himmel gefunden.

Nie hatte sich ihr Puls beschleunigt, nie war ihre Haut so heiß geworden.

Sie starrte in seine Augen, Grün und Gold verschmolzen zu einem Haselnussbraun, umrahmt von langen Wimpern und leicht gesenkten Lidern, und spürte … Stärke. Eine Stärke, die so groß war wie ihre eigene und nicht aus Muskeln und Knochen, sondern aus Verstand und Entschlossenheit bestand. Eine Stärke, die sich nicht auf die körperliche Ebene beschränkte, sondern sich auch auf andere Bereiche erstreckte.

Die Richtung ihrer Gedanken erschreckte sie.

Sie blinzelte, schüttelte die Gedanken ab und sah ihn an, in seine Augen, sein Gesicht.

Und merkte, dass er sie eindringlich beobachtete.

Er hatte sich nicht bewegt und keinen Versuch unternommen, sie loszulassen und auf ihre Füße zu stellen.

Der Ausdruck in seinen Augen war unverhohlen raubtierhaft und interessiert. Und er gab sich nicht die geringste Mühe, es zu verbergen. Das Bild, das sich ihr aufdrängte, war das eines großen kräftigen Raubtieres, das seine nächste Mahlzeit betrachtete.

Aber er machte keine Anstalten, sie zu festzuhalten. Er wartete, was sie tun würde.

Aber sie wusste es besser und drehte sich nicht um und lief weg.

Sie räusperte sich und stellte fest, dass ihre Hände auf seinen Schultern lagen, und trat zurück. Er ließ sie los, einfach so, beobachtete sie aber weiter.

Sie reckte ihr Kinn, erwiderte seinen Blick und griff nach ihrem Hut, forderte ihn heraus, aus diesem zufälligen Augenblick zu machen, was er wollte.

»Danke.«

Ehe sie ihren Hut fassen und ihm aus den Fingern nehmen konnte, setzte er ihn ihr auf den Kopf.

Und lächelte. Langsam, bedeutungsvoll.

»Das Vergnügen lag ganz auf meiner Seite.«

 

Wenn sie ein schwaches Frauenzimmer gewesen wäre und sich leicht durch ein gut aussehendes Gesicht, den Körper eines Kriegers oder ein verheißungsvolles Lächeln hätte ablenken lassen, das ihre wildesten Träume überstieg, hätte sie sich nach dem Zwischenfall mit ihrem Hut zweifellos auf dem Weg zum Pfarrhaus in Schweigen gehüllt.

Stattdessen fühlte sie sich genötigt, sich mit ihm zu unterhalten, und sei es nur, um Warnefleet klarzumachen, dass sie nicht empfänglich für ihn war. Es war die Art von Unterhaltung, die ihn auf seinen Platz verwies und keinen Zweifel an ihrer Meinung über ihn ließ; an ihrer Meinung hatte sich nämlich durch das eben Geschehene nichts geändert.

»Mylord, haben Sie vor, länger auf Avening zu bleiben?« An der alten Eiche vor ihnen lehnte ihr liegen gelassener Korb.

Er antwortete nicht sofort, sondern erwiderte nach einer kleinen Pause:

»Avening ist mein Zuhause. Ich bin hier aufgewachsen.«

»Ja, das weiß ich: Aber Sie sind jahrelang fort gewesen  – soweit ich es verstanden habe, halten Sie sich wegen Ihrer Interessen eher in der Hauptstadt auf.« Sie betonte das Wort »Interessen«, um ihn wissen zu lassen, dass sie eine gute Vorstellung davon hatte, welche Interessen Männer wie ihn in der Stadt hielten.

Sie duckte sich unter den niedrigeren Zweigen der Eiche hindurch und trat in den kühlen Schatten.

Er blieb hinter ihr.

»Manche Interessen lassen sich besser in der Stadt verfolgen, das stimmt gewiss.« Sein Tonfall klang lässig, aber als er weitersprach, spürte sie eine unbeirrbare Stärke. »Aber kein vernünftiger Mann würde zulassen, dass Geschäfte ihn in London festhalten, und die meisten anderen Interessen sind nicht notwendigerweise an einen bestimmten Ort gebunden.«

Er betonte ebenfalls das Wort »Interessen«; es war leicht zu erkennen, dass er glaubte, dass sie bluffte.

»Ach ja?« Sie bückte sich und hob den Korb auf, dann richtete sie sich auf, schaute ihm in die Augen. »Allerdings würde ich sagen, dass es Ihnen schwerfallen dürfte, Ihre anderen Interessen hierher zu verlagern, ins Herrenhaus oder ins Dorf. Wenn Sie ihre Angelegenheiten hier erledigt haben, werden Sie sicherlich wieder abreisen. Daher auch meine Frage: Wie lange haben Sie vor zu bleiben?«

Jack erwiderte ihren Blick. Nach einem Moment sagte er ruhig: »Sie machen mir so gar nicht den Eindruck, als ob Sie zu den Frauen gehörten, die zu wilden Phantastereien neigen.«

Ihre dunklen Augen blitzten; sie reckte ihr Kinn.

»Das tue ich auch nicht.«

Er nickte freundlich. Dann griff er nach dem Korb und nahm ihn ihr ab. Sie überließ ihn ihm, ohne weiter darüber nachzudenken, sie war zu abgelenkt und erbost.

»Das hatte ich mir gedacht«, pflichtete er ihr mit außerordentlicher Gelassenheit bei. »Das ist auch der Grund, warum ich mir alles angehört habe, was Sie über den Unfall zu berichten hatten, der in Wahrheit kein Unfall war. Sie hatten damit recht.«

»Selbstverständlich.« Sie schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Ich bilde mir nichts ein.«

»Ach ja?« Er fing den Blick aus ihren dunklen Augen auf, hielt ihn einen bedeutungsschwangeren Moment und fragte dann ruhig: »Also was, Lady Clarice, haben Sie gegen mich vorzubringen? Was für eine Meinung haben Sie von mir?«

Sie sah die Falle, musste zugeben, dass sie hineingetreten war. Leichte Röte stieg ihr in die Wangen  – sie war verärgert, nicht verlegen. Reinster Alabaster  – ihr Teint erinnerte ihn an Sahne, glatt und köstlich, und es juckte ihn in den Fingern, ihre Haut zu berühren und zu streicheln. Sie zu fühlen und dafür zu sorgen, dass sie nicht aus Verärgerung errötete.

Sie musste einen Hinweis auf seine Gedanken in seinen Augen gelesen haben, denn sie hob ihr Kinn. Die Geste wirkte fast ein wenig trotzig.

»In Ihrem Fall, Mylord, war nicht viel Phantasie nötig. Ihr Verhalten in den vergangenen Jahren spricht eine ausreichend deutliche Sprache.«

Er hatte recht, aus irgendeinem rätselhaften Grund empfand sie Verachtung für ihn, obwohl sie sich nie zuvor begegnet waren, geschweige denn miteinander gesprochen hatten.

»Worauf genau spielen Sie an?«

Sein Tonfall hätte die meisten gewarnt, dass sie sich auf sehr dünnes Eis wagten. Er war sich sicher, dass sie die Warnung vernommen hatte, sie richtig deutete und sie, als ihre Augen aufblitzten, einfach abtat.

»Ich kann verstehen, dass es, solange Ihr Vater lebte, keinen zwingenden Grund für Sie gab, Ihren Militärdienst verkürzen.«

»Besonders, da das Land sich im Krieg befand.«

Ihre Lippen wurden schmal, aber sie neigte den Kopf, nahm den Punkt zur Kenntnis und ließ den Einwand gelten.

»Allerdings«, sie drehte sich um und trat aus dem Schatten unter dem Baum, schlug den Weg zum Pfarrhaus ein, einem niedrigen, weitläufigen Gebäude, das zum Teil von der Hecke am Feldrand auf der anderen Seite verdeckt wurde, »hätten Sie, nachdem Ihr Vater verstorben war, heimkehren sollen. Ein Anwesen wie Avening Manor, ein Dorf wie Avening braucht jemanden, der die Zügel in der Hand hält. Aber nein, Sie zogen es vor, ein abwesender Grundbesitzer zu sein und es Griggs zu überlassen, die Verpflichtungen zu schultern, die eigentlich Sie tragen sollten. Er hat seine Sache gut gemacht, aber er ist nicht mehr jung, die Jahre fordern ihren Tribut.«

Jack, der neben ihr ging, runzelte die Stirn.

»Ich war … bei meinem Regiment.« Er war in Frankreich gewesen, allein, aber er sah keinen Grund, ihr das zu verraten. »Ich konnte nicht einfach den Dienst quittieren …«

»Aber natürlich hätten Sie das gekonnt. Viele andere haben es ja auch getan.« Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »In unseren Kreisen treten die ältesten Söhne, die einmal erben werden, gar nicht erst in die Armee ein. Und wenn ich auch weiß, dass Ihr Vater unerwartet gestorben ist, so wäre ihr Platz nach seinem Tod hier gewesen, nicht in«, sie machte eine abfällige Handbewegung, »Tunbridge Wells oder wo auch immer Sie stationiert waren und den schneidigen Offizier gespielt haben.«

In Frankreich. Allein. Jack biss sich auf die Zunge. Was hatte er getan, um diese Standpauke zu verdienen? Warum hatte er sie dazu quasi aufgefordert und, noch entscheidender, warum duldete er es?

Warum erteilte er ihr nicht einfach eine vernichtende Abfuhr, verwies sie an ihren Platz und machte ihr klar, dass es ihr nicht zustand, ihn zu verurteilen?

Er sah sie an. Mit erhobenem Kopf, die Nase in der Luft  – hochnäsig, im wahrsten Sinne des Wortes  – schritt sie elegant und anmutig neben ihm aus. Sie hatte lange Beine und ging selbstsicher. Sie konnte gut mit ihm Schritt halten.

Boudicca zu schlagen wäre nicht leicht, und aus irgendeinem unerklärlichen Grund wollte er ihr lieber nicht auf einem wie auch immer gearteten Kampfplatz begegnen.

Er wollte mit ihr zusammenkommen, aber auf ganz anderem Gebiet  – auf Seidenlaken und einer weichen Matratze, in die sie sinken würde … er blinzelte und schaute nach vorn.

»Dann kam Toulouse, aber Sie haben es selbst da nicht für nötig befunden, nach Hause zu kommen. Zweifellos haben Sie die Siegesfeiern zu sehr genossen, um einen Gedanken an all jene zu verschwenden, die die ganzen Jahre hier für Sie gearbeitet, Sie unterstützt haben.«

Er hatte die Monate der voreiligen Siegesfeiern in Frankreich verbracht. Allein. So wie Dalziel und mehrere andere auch hatte er dem zu leicht errungenen Frieden nicht getraut. Aus der Ferne hatte er Elba im Auge behalten und als Erster die Nachricht von Napoleons Flucht weitergeleitet. Er biss sich auf die Zunge, seine Kiefermuskeln traten hervor.

»Erschwerend kommt noch hinzu«, verkündete sie, und jede Silbe troff vor Verachtung, die sich auch in ihren dunklen Augen widerspiegelte, »dass Sie, als alles in Waterloo schließlich zu Ende war, die Sache nur noch schlimmer gemacht haben, weil Sie in London geblieben sind, höchstwahrscheinlich, um alles nachzuholen, was Sie während ihrer Abwesenheit verpasst hatten.«

Jahre. Einsamkeit. Jede Woche, jeden Monat dreizehn ganze Jahre lang war er allein und auf sich gestellt gewesen  – mit Ausnahme der drei Tage bei Waterloo, ein sehr gefährliches Unterfangen. Und nachdem er sein Offizierspatent verkauft hatte, hatte er sich dringend um eine ganze Reihe wichtiger Aufgaben kümmern müssen.

Ihre letzten Worte waren vernichtend gewesen, ihre Bedeutung unmissverständlich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal den Vergnügungen hingegeben hatte, auf die sie anspielte. Vermutlich war das mit für seinen derzeitigen Zustand verantwortlich  – für dieses schier unbezähmbare, machtvolle Drängen, seine lange unterdrückten fleischlichen Triebe zu stillen.

Mit Boudicca.

Jetzt, da er ihr begegnet war, kam keine andere infrage.

Es musste sie sein.

Die Aufgabe, die vor ihm lag, war nicht leicht zu bewältigen, so viel stand fest. Aber er liebte Herausforderungen, besonders solche.

Ein Bild von Boudicca  – Lady Clarice  – nackt unter ihm, hitzig, verzweifelt und wollüstig flehend, die langen Beine um seine Hüften geschlungen, während er in sie eindrang, half ihm unglaublich dabei, sich zu konzentrieren. Zu erkennen, in welche Richtung er sich bewegte.

Sie hatten die Hecke erreicht, die das Pfarrhaus umgab. Clarice sandte ihm einen weiteren schneidenden Blick. Er erwiderte ihn, als sie in stummer Übereinkunft unter dem Torbogen stehen blieben, der in den Garten des Pfarrhauses führte.

Er las in ihrem Gesicht, nahm ihre feinen Züge und die Verachtung wahr, die in ihren wunderschönen dunklen Augen glomm. Langsam hob er eine Braue.

»Also … Sie sind der Ansicht, ich sollte in Avening bleiben und mich meiner Pflichten annehmen?«

Sie lächelte  – nicht süß, sondern herablassend.

»Nein. Ich glaube, uns allen geht es viel besser, wenn Sie nach London zurückkehren und sich dort wieder ihrem ausschweifenden Lebenswandel widmen.«

Er runzelte die Stirn. Sie fuhr ohne Zögern fort, seine unausgesprochene Frage zu beantworten: »Wir haben uns daran gewöhnt, ohne Sie zurechtzukommen. Die Leute hier brauchen keinen Gutsherrn mehr  – sie haben sich jemand anderen an Ihrer Stelle erwählt.«

Sie hielt seinen Blick eine trotzige Sekunde lang fest, sah ihn offen und unnachgiebig an. Dann drehte sie sich um und ging zur Seitentür.

Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, während Jack ihr nachschaute. Sie bewegte auf unbeschreiblich weibliche Art und Weise die Hüften, er bemerkte die herausfordernd geschwungene Linie ihres Nackens, ihre verheißungsvollen Rundungen …

Hatte sie das wirklich ernst gemeint?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Das und alles andere, was er über Boudicca wissen wollte. Er folgte ihr ins Pfarrhaus.

 

Er fand den Pfarrer von Avening, den ehrenwerten James Altwood, an genau dem Platz, wo er ihn bei seinem letzten Besuch vor sieben Jahren angetroffen hatte: auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, über einen Wälzer gebeugt. Jack wusste, worum es in dem Buch ging. James war ein anerkannter Militärhistoriker, unter anderem ein Absolvent des Balliol-Colleges in Oxford. Er war für mehrere Gemeinden zuständig und beaufsichtigte zwar die Arbeit seiner Hilfsgeistlichen, verbrachte jedoch die übrige Zeit damit, militärische Feldzüge zu untersuchen und zu analysieren.

Boudicca ging ihm voraus ins Arbeitszimmer.

»James, Lord Warnefleet ist zurückgekehrt, er ist gekommen, um mit dir zu sprechen.«

»Häh?« James schaute auf und spähte über seine Brille. Dann fiel sein Blick auf Jack, und er ließ das Buch auf den Schreibtisch fallen. »Jack, mein Junge! Endlich!«

Jack gelang es, nicht das Gesicht zu verziehen, als James aufsprang. Er war sich Boudiccas kritischer Musterung überdeutlich bewusst, als er vortrat, um James’ ausgestreckte Hände zu ergreifen und sich in eine heftige Umarmung ziehen zu lassen.

James hielt ihn fest, klopfte ihm auf den Rücken und ließ ihn los. Er fasste Jacks Hand und machte einen Schritt zurück, um ihn eingehend zu betrachten.

James, mittlerweile in den Fünfzigern, begann man sein Alter anzusehen; das braune Haar, das Jack dick und wellig in Erinnerung hatte, war schütter geworden, und um seine Mitte zeichnete sich ein Bauch ab. Aber die Energie und die Begeisterung in James’ braunen Augen war noch die gleiche wie früher. Wenn irgendjemand dafür verantwortlich war, Jack ermutigt zu haben, in die Armee zu gehen, dann James.

James atmete tief durch und ließ Jacks Hand los.

»Verdammt, Jack, es ist eine Erleichterung, dich gesund und munter hier zu sehen.«

Außer Jacks Vater war James einer der wenigen Menschen gewesen, die wussten, dass Jack die vergangenen dreizehn Jahre nicht in einem Regiment verbracht hatte.

Jack lächelte ungezwungen. Bei James konnte er ganz er selbst sein.

»Es ist eine gewaltige Erleichterung, wieder zurück zu sein.« Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, hinzuzufügen: »Endlich, wie du so klug bemerkt hast.«

»Allerdings, allerdings. So eine Schande, das Durcheinander mit deiner Großtante und ihren Besitzungen. Aber hier, setz dich.«

Damit winkte er Jack zu einem Stuhl und ging selbst zu seinem zurück, bevor ihm gerade noch rechtzeitig Boudicca einfiel. »Ah, und danke, Clarice.« James schaute von ihr zu Jack, den sie nun ihrerseits anschaute. James war es unmöglich, sich auf ihren Gesichtsausdruck einen Reim zu machen. Jack hingegen hatte nicht mit solchen Problemen zu kämpfen. Boudicca war nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte James’ Bemerkung über Jacks Großtante gehört und fragte sich jetzt, was das bedeutete.

Als James sie ansah, schenkte er ihr ein spöttisch-überlegenes Lächeln.

»Ah … ich nehme an, ihr seid euch bereits begegnet?« James schaute vom einen zum anderen, spürte die Unterströmungen, konnte sie aber nicht deuten.

»Ja.« Als Jack seine Brauen hochzog, richtete Clarice ihren Blick auf James. »Ich war Pilze sammeln, als es einen Unfall mit einer Kutsche auf der Landstraße gab, kurz vor dem Tor zum Herrenhaus.«

»Gütiger Himmel!« James winkte Clarice zu einem Stuhl und wartete, bis sie sich gesetzt hatte, ehe er sich auf seinen Platz sinken ließ. »Was ist geschehen?«

»Den Unfall selber habe ich nicht gesehen, aber ich war als Erste vor Ort bei dem Wrack.« Clarice schaute zu Jack, der auf dem anderen Lehnstuhl saß. »Und dann kam Seine Lordschaft vorbeigeritten.«

»Wurde jemand verletzt?«, erkundigte James sich.

»Der Fahrer«, antwortete Jack, »ein junger Gentleman. Er ist bewusstlos. Wir haben ihn ins Haus bringen lassen und nach Dr. Willis geschickt. Mrs. Connimore kümmert sich um ihn.«

James nickte.

»Gut, gut.« Er sah zu Clarice. »War es jemand aus der Gegend hier?«

»Nein.« Sie runzelte die Stirn.

»Aber…?«, hakte James nach, ehe Jack Gelegenheit dazu hatte.

Ihre Lippen zuckten; sie blickte zu Jack, dann zu James.

»Ich weiß, ich bin ihm nie begegnet. Aber dennoch wirkt er irgendwie vertraut.«

»Ah!« James nickte ernst.

Jack wünschte, er wüsste warum.

Clarice sprach weiter:

»Er scheint zu jung zu sein, als dass ich ihn von früher kennen könnte, aber ich frage mich … er könnte der jüngere Bruder von jemandem sein oder der Sohn, und ich erkenne die Ähnlichkeit.«

Jack fragte sich unwillkürlich, in welchen Kreisen sie sich früher wohl bewegt hatte.

Als könnte sie seine Gedanken lesen, zuckte sie die Achseln. »All das heißt ja nur, dass er wahrscheinlich ein Spross einer vornehmen Familie aus der guten Gesellschaft ist, was uns nicht viel weiterhilft.«

»Hm, ich muss mal vorbeischauen, wenn er nicht bald wieder zu Bewusstsein kommt. Aber wenn du ihn nicht zuordnen kannst, wird es mir auch nicht gelingen.« James richtete seinen Blick auf Jack. »Und es ist noch unwahrscheinlicher, dass du ihn kennst. Ich nehme nicht an, dass du in letzter Zeit in den Clubs und Spielhöllen warst, oder?«

Sich bewusst, dass Clarice ihn genau musterte, schnaubte Jack abfällig.

»Ich hatte kaum Zeit, meinen Schneider aufzusuchen.«

Ein Klopfen an der Tür kündigte das Eintreten von Macimber an, James’ Butler. Er lächelte Jack strahlend an und verneigte sich.

»Willkommen daheim, Mylord.«

»Danke, Macimber.«

Macimber wandte sich an James.

»Mrs. Cleever wüsste gerne, ob Seine Lordschaft zum Lunch bleibt, Sir.«

»Ja, natürlich!« James sah zu Jack. »Du bleibst doch, oder? Ich wette, Mrs. Connimore würde dich liebend gerne bei dir zu Hause bewirten, aber ich muss dringend hören, was du so getrieben hast.«

Jack schaute weiter James an, während er abzuschätzen versuchte, was der nächste scharfe Blick aus den dunklen Augen wohl verhieß, der auf sein Gesicht gerichtet war.

»Ich bleibe liebend gerne zum Essen«, er drehte sich zu Boudicca um, »wenn es keine Umstände macht.«

Wenn sie keine Einwände erhob. Sie verstand seine Frage vollkommen. James blickte ratlos vom einen zum anderen; sie beachteten ihn nicht weiter.

Ihren Blick erwidernd sah Jack, dass sie sich entschieden hatte, erkannte den Augenblick, als sich die Waagschale zu seinen Gunsten neigte und ihre Neugier über ihre Verachtung Oberhand gewann.

»Es wird gewiss kein Problem sein …« Sie machte eine Pause, und als sie weitersprach, hörte ihre Stimme sich wieder gewohnt entschlossen an. »Da Mrs. Connimore mit der Pflege des jungen Mannes beschäftigt ist, hat sie genug zu tun, besonders da sie keine Ahnung hatte, dass Sie heute kommen würden.«

Die letzte Bemerkung äußerte sie wie erwartet mit einer gewissen Bissigkeit. Jack verkniff sich die Erwiderung, dass er schon seit Jahren aus den Kinderschuhen herausgewachsen war.

Während James einen erfreuten Macimber anwies, den Tisch für drei Personen zu decken, überlegte Jack, wie er am besten den Vorteil ausnutzen konnte, den ihm Boudicca mit ihrer ungerechtfertigen Missbilligung verschafft hatte.

Wenn man es mit Königinnen im Kriegszustand zu tun hatte, durfte man keinen Vorteil ungenutzt lassen.

Ein Punkt, der ihm keine Ruhe ließ, war ihr Alter. Doch als Erstes wollte er herausfinden, warum die Tochter eines Marquis sich auf dem Land vergraben hatte. Ein Skandal war die einzige Erklärung, die ihm in den Sinn kam. Aber Lady Clarice schien ihm keine von den Frauen zu sein, die sich schon beim geringsten Anzeichen von Gegenwind in die Flucht schlagen ließen. Ein weniger unerschütterliches, weniger flatterhaftes weibliches Wesen konnte er sich nur schwer vorstellen.

»So!« James lehnte sich zurück und musterte Jack mit erwartungsvoller Vorfreude. »Fang einfach bei den jüngsten Ereignissen an. Was denkst du über London, nachdem du es … wie lange nicht gesehen hast? Dreizehn Jahre?«

Jack schnitt eine Grimasse.

»Ehrlich gesagt hat sich nicht so viel verändert. Die Namen sind die gleichen, nur die Gesichter sind älter.«

»Und dich hat es immer noch nicht sonderlich beeindruckt, was?« James grinste. »Ich habe deinem Vater immer gesagt, dass er sich nie Sorgen machen müsse, dass du den Verlockungen der Großstadt erliegst.«

»Genau«, pflichtete Jack ihm in trockenem Ton bei. Er gab sich Mühe, nicht zu Clarice zu blicken, um herauszufinden, wie sie James’ zutreffende Einschätzung von ihm aufnahm. Es juckte ihn in den Fingern, aber wenn er sie anschaute, wüsste sie …

»Griggs hat mir erzählt, dass Ellicot, er heißt doch Ellicot, nicht wahr, der Anwalt deiner Großtante?«

Jack nickte.

»Anwalt, Mittelsmann und Testamentsvollstrecker in einem. Er hat selbst den Posten erst einen Monat geerbt, bevor Großtante Sophia beschloss, die Mühsal alles Irdischen hinter sich zu lassen. Daher war er nahezu so unerfahren wie ich bezüglich ihrer Angelegenheiten.«

»Schwierig.« James nickte verständnisvoll. »Wie ich schon sagte, Griggs hat mir berichtet, dass Ellicot beinahe panisch war, daher hat es mich nicht überrascht, dass du in der Stadt geblieben bist.«

»Es hat Monate gedauert.« Jack lehnte sich zurück und sah auf einmal grimmig drein. Er würde Boudicca am leichtesten davon überzeugen, dass sie ihn und sein Tun falsch einschätzte, wenn er einfach er selbst war. »Ellicot hatte die Stellung gehalten, so gut er konnte, aber ehrlich gesagt hätten auch ohne mein Wissen oder meine Zustimmung ein paar Entscheidungen getroffen, ein paar Schritte unternommen werden sollen. Allerdings, soweit ich es verstehe, hat er sich auf einem schmalen Grat bewegt, besonders weil er mich ja nie kennengelernt hat.«

»Allerdings. Das war sicher keine leichte Aufgabe, Besitzungen im Namen eines unbekannten Klienten zu verwalten.«

Jack stimmte dem zu und beschrieb einige der vielfältigen Schwierigkeiten, die ihn bei seiner Rückkehr nach England dank seines Erbes erwartet hatten. Die meisten drehten sich um die Gutsverwaltung. Obwohl sie eine Frau war, konnte Boudicca der Unterhaltung folgen, die Themen beinhaltete, die sogar für weniger mit der Materie vertrauten Personen schwer verständlich gewesen wären. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie die Falte zwischen ihren fein gezeichneten Brauen immer tiefer wurde.

Nach etwa einer halben Stunde hatte er das Wichtigste der letzten Zeit erzählt, nur seine erfolglosen Bemühungen, eine passende Ehefrau zu finden, hatte er ausgelassen. Das wollte er lieber für sich behalten. Boudicca verfolgte, wie er und James verschiedene Maßnahmen diskutierten, die er getroffen hatte, um die alltägliche Verwaltung der zahlreichen Besitzungen besser zu bewältigen. Jack musste innerlich lächeln, als er widerwilligen Respekt in ihren Augen aufglimmen sah.

Macimber schaute herein, um mitzuteilen, dass der Lunch serviert werden könne. Sie erhoben sich. Clarice ging in das Speisezimmer voraus. James nahm am Kopf des Tisches Platz, Clarice links und Jack rechts von ihm  – es war eine gesellige Runde.

»Nun denn.« James griff nach dem Teller mit kaltem Braten. »Du scheinst alle Hürden genommen zu haben, deine Großtante hätte sich bestimmt gefreut, da bin ich sicher. Dann kannst du jetzt sieben Jahre zurückgehen. Du hast mir alles berichtet, als du letztes Mal da warst. Hat sich an deinem Einsatz viel geändert seit damals und Toulouse?«

Jack schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht grundlegend. Natürlich waren ein paar Taschenspielertricks nötig, um sie in die Irre zu leiten und so weiter. Der Hauptzweck war freilich, so viele Geschäfte wie möglich zu vereiteln, besonders die mit der Neuen Welt. Es gab Zeiten, in denen ich mich mehrere Wochen in Hafenspelunken herumgetrieben habe, um mühselig an Informationen zu kommen, um von bevorstehenden Geschäften zu erfahren. Und als der Krieg immer länger dauerte, lief alles mehr und mehr über inoffizielle Kanäle, und es wurde umso schwieriger, herauszufinden, was eingeführt und ausgeführt wurde, wann, wie und durch wen.«

»Und die ganze Zeit standest du unter dem Befehl eines gewissen Gentleman aus Whitehall?«

»Allerdings. Er ist noch dort, noch im Dienst.«

James nickte, während er kaute. Er schluckte das Essen herunter und sagte:

»Und, was ist nach Toulouse passiert? Dadurch muss sich doch einiges geändert haben, nicht wahr?«

Clarice rang darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Unterhaltung faszinierte. Sie hielt den Blick auf ihren Teller gerichtet, die Lippen fest geschlossen, und tat alles, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Sie hatte Warnefleet ermutigt, sich zum Lunch zu ihnen zu gesellen, weil sie wusste, James würde ihn ausfragen, und sie hatte dabei sein wollen, um mitzubekommen, wie er sich wand und genötigt wurde, sich seinen Fehlern zu stellen.

Stattdessen war sie diejenige, die sich wand. Oder würde es wenigstens tun, wenn sie nicht so gebannt zuhören würde. Sie hatte offenbar eine Reihe von Tatsachen falsch gedeutet und Bemerkungen missverstanden, die über Warnefleet gefallen waren, nicht nur von James, sondern von allen hier, die Dienerschaft im Herrenhaus eingeschlossen. Aber bevor sie entscheiden konnte, wie sehr sie mit ihrer Einschätzung danebenlag und was für eine Entschuldigung sie vorbringen musste, wollte sie sich die Wahrheit zusammenreimen und bei James’ und Warnefleets Unterhaltung zwischen den Zeilen lesen.

Allerdings ärgerte sie sich, weil sie aus ihrer Unterhaltung nicht richtig schlau wurde, aber sie konnte wohl kaum verlangen, dass sie offen mit ihr sprachen.

»Ja, für die meisten, aber nicht für mich.« Warnefleet machte eine Pause, als müsse er seine Worte sorgfältig wählen, dann sah er zu James. »Es gab viele in unserem speziellen Einsatzgebiet zur Landesverteidigung, die der Abdankung skeptisch gegenüberstanden. Wir hatten alle Wurzeln in der französischen Gesellschaft. Keiner von uns hat geglaubt, dass der Krieg wirklich gewonnen war.«

»Aber dennoch kamen die meisten zurück.«

Warnefleet nickte.

»Aber ein paar und ich blieben da. In meinem Fall, weil ich eine zuverlässige Verbindung nach Elba hatte. Andere blieben in den Häfen, damit ihnen die ersten Anzeichen von Aktivität nicht entgingen. Wie lange wir geblieben wären und alles überwacht hätten, weiß ich nicht, aber es hat kein Jahr gedauert, und wir hatten wieder Krieg.«

»Und was war dann?« James beugte sich vor, und der Eifer in seiner Miene war nicht zu übersehen.

Clarice merkte, dass sie selbst mit angehaltenem Atem lauschte; sie riskierte einen raschen Blick in Warnefleets Gesicht.

Er schaute sie an, sah sie aber nicht.

Sie hatte den Eindruck, als blickte er in die Vergangenheit.

Dann zuckten seine Lippen, und er sah James an.

»Auf Waterloo musste man nicht lange warten.«

»Du warst dabei, oder?«

»Wir waren rein technisch darin verwickelt, aber sind nicht näher als bis auf zehn Meilen an das Schlachtfeld herangekommen.«

James’ Augen wurden schmal.

»Eine Versorgungslinie?«

Warnefleet nickte.

»Wir haben uns erst das Munitionslager vorgenommen, dann die Pferde und schließlich die Verstärkung.«

James runzelte die Stirn.

»Ich kann mir vorstellen, wie man die ersten beiden bewerkstelligt, aber Letzteres?«

»Verwirrung und am besten Chaos stiften.« Wieder hoben sich Warnefleets Mundwinkel zu einem selbstironischen Grinsen. »Wir mussten erfinderisch sein.«

Zu Clarice’ Unmut kam Macimber und begann, den Tisch abzuräumen. Die Mahlzeit war vorüber, aber sie hatte noch nicht alles gehört, was sie wissen wollte. Inwieweit war er erfinderisch gewesen? Wie hatte er das angestellt? Was …?

James leerte sein Weinglas, stellte es auf den Tisch und grinste Warnefleet an.

»Nun denn, mein Junge, dann unternehmen wir jetzt einen kleinen Verdauungsspaziergang, bei dem du mir die Einzelheiten berichten kannst.«

Ehe sie sich etwas einfallen lassen konnte, hatte James sich bereits erhoben und lächelte sie an.

»Ausgezeichnete Mahlzeit, meine Liebe.«

Sie verbarg ihre Enttäuschung hinter einer unbeteiligten Miene.

»Ich werde dein Lob an Mrs. Cleever weiterleiten.«

»Und meines bitte auch, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

Sie blickte auf und sah Warnefleet in die Augen. Er war mit James zusammen aufgestanden und stand nun vor ihr. Sein Blick war vielsagend, und sie hatte keine Schwierigkeiten, die Botschaft zu deuten.

Er war zu klug, offen Schadenfreude zu zeigen, aber er wusste genau, wie sehr sie sich geirrt hatte, wie unhaltbar und unangenehm ihr ihre frühere Haltung war, und er war sich nicht zu schade, es sie wissen zu lassen. Er rechnete mit einer Entschuldigung, und sie würde ihm eine liefern müssen.

Sie hatte wie üblich eine Miene unerschütterlicher Ruhe aufgesetzt und nickte anmutig.

»Mylord. Wir werden uns ganz gewiss wiedersehen.«

Eine Braue hob sich. Seine Augen richteten sich auf James, dann neigte er den Kopf.

»Lady Clarice.« Seine haselnussbraunen Augen hielten ihren Blick fest. Seine Lippen hoben sich zu einem charmanten, aber neutralen Lächeln. »Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Er verneigte sich elegant. Sie biss sich auf die Lippen, um eine scharfe Erwiderung zu unterdrücken, und nickte gnädig. Als er hinter James das Zimmer verließ, schaute sie nicht in seine Richtung.

Sie musste vielleicht zu Kreuze kriechen, aber sie würde es nicht in aller Öffentlichkeit tun, noch nicht einmal vor James. Tief im Innern wusste sie, dass, was immer für Zugeständnisse sie auch gezwungen wäre zu machen, um Warnefleet zu beschwichtigen, sie dies besser unter vier Augen tat.