1.

Mein Name ist Lila.

Ich bin zwanzig Jahre alt, habe mein Abi in der Tasche und bin auf dem Weg nach Bielefeld, um dort mein Jurastudium zu beginnen.

Wenn ich fünf Jahre Paragrafenbüffelei hinter mir habe, liegt ein Traum von einer Zukunft als Anwältin vor mir. Ich werde blassrosa Kostümchen tragen – rosa genug, um aufzufallen, und blass genug, um kein öffentliches Ärgernis zu erregen. Meine Pumps werden zum Kostümchen passen und mein Lippenstift zu den Pumps. Die Haare werde ich zu einem strengen, blonden Pferdeschwanz zusammenbinden und alle männlichen Kollegen werden davon träumen, wie ich ihn öffne und meine Mähne sexy über meine Schultern schüttele (was natürlich nie passieren wird). Und ich werde eine Brille tragen, obwohl ich keine brauche, weil Blondinen in rosa Kostümen ohne Brille dämlich wirken. Ich werde immer ein Handy am Ohr haben und eins in Reserve in meiner Dreihundert-Euro-Echtleder-Handtasche von Prada. Selbstverständlich werde ich Cabrio fahren – oder zumindest einen absolut unpraktischen Zweisitzer.

Und meine Eltern werden platzen vor Stolz!

Wie gesagt, ein Traum von einer Zukunft.

Nur leider nicht mein eigener! Ich selbst spürte einen ausgeprägten Brechreiz, wenn ich mir das vorstellte. Ich hatte noch nie ein Kostüm angehabt, egal in welcher Farbe. Und passende Pumps erst recht nicht.

Tatsächlich war ich so ziemlich das genaue Gegenteil einer karrieregeilen Anwältin. Das Einzige, was ich jemals in Blassrosa tragen würde, waren meine Haare. Ich liebte Wollpullis, die mir bis an die Knie reichten, und meine Jeans waren mit bunten Handabdrücken verziert. Handtäschchen fand ich lächerlich und Echtleder war gegen meine Überzeugung.

Die Schule hatte ich in den letzten drei Jahren so oft geschwänzt, dass die Religionslehrerin meinen Namen im Klassenbuch für einen Druckfehler gehalten hatte. Ich las die EMMA, protestierte schon mal vor dem Zoo Hannover für die Freiheit der Meerschweinchen und hatte in einer eigenwilligen Interpretation unserer Theater-AG Aschenputtel oben ohne gespielt.

Und das Allerletzte, was ich mir wünschte, war, dass meine Eltern stolz auf mich sein konnten!

Ich hatte noch nie auf meine Eltern gehört – wieso fing ich ausgerechnet heute damit an?

Landschaft tauchte hinter dem Fenster des Zuges auf, sauste vorbei und war wieder verschwunden, bevor ich hingesehen hatte. An meiner Stirn spürte ich das Zittern der Scheibe, an der mein Kopf lehnte, und das Dröhnen der Räder auf den Schienen summte in meinen Ohren.

In meiner geballten Faust hielt ich noch immer den Zettel. Zornig knüllte ich das Papier fester zusammen, meine Fingernägel bohrten sich so schmerzhaft in meine Handfläche, dass sie möglicherweise blutete.

Aber ich hörte nicht auf.

Meine Wut brodelte kochend heiß vor sich hin. Ich musste sie an irgendetwas auslassen, und wenn es nur dieser Fetzen Papier war.

Zugegeben, dieses Mal hatte mich mein Vater verblüfft. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, mit meinem nicht gerade brillanten Abischnitt von 2,9 und der Extrarunde, die ich in der elften Klasse gedreht hatte, ohne Wartezeit studieren zu können.

Um ehrlich zu sein, hatte ich es auch nicht vorgehabt.

Doch vor zwei Wochen hatte mein Vater ohne Vorwarnung verkündet, ich hätte einen Studienplatz in Bielefeld bekommen. Jemand sei kurz nach Semesterbeginn abgesprungen und ich könne nachrutschen.

Das hatte mich wirklich erstaunt, denn ich hatte mich nicht mal auf die Warteliste setzen lassen. Doch das hatte offensichtlich mein Vater für mich erledigt.

»Und was studiere ich?«, erkundigte ich mich.

Meine Eltern sahen mich so verständnislos an, als hätte ich gefragt, wie man sich nach dem Kacken den Arsch abwischt.

»Jura natürlich, Schätzchen!«

Natürlich.

Doch das war noch nicht alles! Zusammen mit der Einschreibung hatten sie mir auch gleich den Mietvertrag für eine Zwei-Zimmer-Bude in der besseren Gegend nahe der Uni und die Zugfahrkarte für den ICE in die Hand gedrückt.

Kein Problem für den Herrn Oberstaatsanwalt! Ein Anruf genügte und schon hatte sein missratenes Töchterchen Studienplatz und Wohnung. Scheißegal, wie grottenschlecht mein Abi war.

Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen.

Die Oma, die mir gegenübersaß, warf mir einen strengen Blick über den Goldrand ihrer Brille zu. Ihre toupierte Dauerwelle leuchtete in dem gleichen hellen Lila wie meine aus Überzeugung ungekämmten Haare.

Allein das hätte doch ein bisschen Frauensolidarität aufkommen lassen können.

Denkste.

Ohne Zweifel gehörte sie zu der Sorte alter Tanten, die kreative Frisuren, moderne Musik und spielende Kinder so erfreulich fanden wie ein mittelgroßes Hühnerauge.

Ein vorbeiwatschelnder Zweijähriger lenkte den Unmut der Oma von meinen Haaren ab, indem er ein altes Kaugummipapier vom Boden aufhob und sorgfältig in der winzigen Kapuze seiner Jacke verstaute.

Der Zug wurde langsamer.

Bielefeld Hauptbahnhof las ich auf dem Schild, das an meinem Fenster vorbeihuschte.

Die Oma erhob sich und stolzierte zur Tür.

Ich faltete bedächtig den zerknüllten Zettel auseinander, strich ihn glatt und betrachtete ihn nachdenklich.

Mit zehn hatte ich das erste Mal geraucht, mit elf gekifft – und das nur aus einem Grund: Weil mein Vater es streng verbot.

Als meine Mutter mir erklärt hatte, die Tochter des Oberstaatsanwaltes könne keinen zerknitterten Cord tragen, hatte ich mir noch eine blaue Punkfrisur dazumachen lassen.

Und als meine Eltern von mir verlangten, für die mündliche Bioprüfung zu pauken, um meinen Abischnitt aufzumöbeln, hatte ich die Nacht durchgesoffen.

Ich beobachtete, wie der kleine Ordnungsfanatiker neben meinen Füßen einen angelutschten Lolli in seiner Kapuze verschwinden ließ.

Gab es einen vernünftigen Grund, aus dem ich ausgerechnet heute damit anfangen sollte, meine Prinzipien zu ignorieren?

Mir fiel keiner ein.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Entschlossen zerriss ich die Uni-Einschreibung und genoss das Triumphgefühl beim Ratschen des Papiers.

Dann stopfte ich die Schnipsel zu dem anderen Abfall in die Kapuze des Kindes.

Ungefähr hundert Kilometer später fiel mir ein, dass mein Fahrschein schon lange ungültig sein musste. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wohin der Zug fuhr.

Kurz dachte ich über meine Möglichkeiten nach: Hundert zerknitterte Euro steckten in meiner Hosentasche, die Klamotten in meinem Rucksack reichten höchstens für eine Woche und es regnete.

Eine Regenjacke hatte ich nicht dabei.

Ich rutschte ein Stück zur Seite, als sich drei Jungs zu mir in die Sitzreihe zwängten. Zwei von ihnen plumpsten auf die Bank gegenüber, der Dritte lümmelte sich neben mich und stellte lässig ein Bein aufs Polster.

Sie waren jünger als ich, fünfzehn vielleicht, und verständigten sich durch eine Sprache, die wie eine Mischung aus Türkisch, Kölsch und dem Inhalt von Comic-Sprechblasen klang.

Wenigstens fühlten sich meine neuen Begleiter von meiner Frisur nicht persönlich angegriffen. Sie zogen ihre Handys hervor und hämmerten darauf herum.

Draußen veränderte sich die Landschaft. Seit einiger Zeit gab es weniger Wiesen und Felder. Zwischen den blattlosen Bäumen an der Bahnstrecke wuchsen immer öfter Schallschutzwände aus Beton in die Höhe. Mal verschwanden Häuser dahinter, mal wuchsen sie als eckige, graue Säulen in den grauen Himmel.

Die Namen auf den Schildern der Bahnhöfe klangen bekannt. Hamm, Kamen und Dortmund – ich landete im Ruhrgebiet!

Die drei Comicfiguren rissen mich aus meinen Gedanken.

»Fuck, Fettbacke kommt!«

»Ey, walz – walz!«

»Los, wech!«

Sie sprangen auf und stolperten eilig durch den Mittelgang davon.

Echt unauffällig!

Ich spähte durch den Zug.

Ein Bauch in einer blauen Schaffneruniform quetschte sich durch den Gang. Über dem Bauch kam ein Kinn, dann noch eins und obendrauf thronte der Kopf, wie ein zu stramm aufgepusteter Luftballon.

Die Körperfülle des Schaffners war für Zugfahrten denkbar ungeeignet. Er hatte das gleiche Problem wie Kinderwagen und Rollstühle: Er passte nicht zwischen den Sitzreihen hindurch. Er musste sich erst seitlich drehen, um voranzukommen.

»Nächster Halt: Bochum Hauptbahnhof«, meldete eine freundliche Lautsprecherstimme.

Ich stand auf und zog meinen Rucksack von der Gepäckablage, als hätte ich nur auf diese Ansage gewartet. Ohne Eile schlenderte ich den drei Jungen nach.

»Wenn meine Olle mitkrischt, dat ich jeschwänzt hab und schwarzjefahren bin, isset Handy wesch!«, raunte einer der Jungen dem anderen zu, als ich mich neben sie an die nächste Tür stellte.

Der ICE wurde langsamer. Doch schon schob der Schaffner seinen Bauch heran: »Fahrkartenkontrolle!«

»Wir müssen hier raus, Alter!«, motzte einer der Schwarzfahrer frech.

»Wenn ich deine Karte nicht sehe, steigst du nirgendwo aus!«

Und siehe da: Die drei begannen brav, in ihren Taschen zu kramen.

Der Zug bremste leise quietschend ab.

»Mitkommen!«, befahl der Uniformierte. »Alle vier!«

»Moment mal!«, protestierte ich empört. »Ich gehöre nicht zu denen!«

»Dann zeig mal dein Ticket!«

Ich begann ebenfalls in meinen Hosentaschen zu wühlen.

Draußen schob sich der Bahnsteig vors Fenster.

»Das Theater kannste dir sparen, Frolleinchen!«

»Vorsicht!«, fuhr ich den Dicken an. »Ich bin über achtzehn, ich werde mich beschweren, wenn Sie mich duzen! Außerdem beschwere ich mich wegen Diskriminierung, denn die Anrede ›Fräulein‹ ist seit Jahrhunderten abgeschafft! Und wegen Verleumdung, denn das hier ist ja wohl eine Fahrkarte!«

Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen.

Ich winkte den Jungen hinter meinem Rücken, die Tür zu öffnen.

»Hah!«, schnappte der Schaffner triumphierend. »Die war nur bis Bielefeld gültig!«

»Das hier ist ja auch Bielefeld oder wollen Sie mir erzählen, wir hätten es in zwei Stunden bis Hongkong geschafft?«

Er starrte mich an, als wollte ich ihn verarschen.

Gut, wollte ich auch.

Trotzdem schluckte er es: »Sitzen Sie auf den Ohren? Das hier ist Bochum!«

»Tatsächlich? Da habe ich aber lange geschlafen!«

Hinter mir ging mit einem leisen Zischen die Tür auf und die drei Jungen rannten, so schnell sie konnten, davon.

Ich sprang weniger eilig aus dem Zug und winkte dem Schaffner noch mal freundlich zu, denn er konnte sich unmöglich schnell genug bewegen, um mich einzuholen.