33.
Als sich Punkt acht Uhr der Direktor mit Dittmer zusammen vor unsere Klasse stellte, wusste ich wohl als Einzige, was jetzt kam. Dittmer zupfte an seinem Pullunder herum und räusperte sich sechs bis zehn Mal.
»Meine liebe Klasse«, begann er dann förmlich. »Ich muss euch leider eine traurige Mitteilung machen. Und das so kurz nach dem –«
Er geriet ins Stocken. Das böse Wort – Selbstmord – brachte er nicht über die Lippen.
»So kurz, nachdem –!«
Faden verloren.
Ich tauschte einen missbilligenden Blick mit Karo.
Direktor Frevert schob Dittmer ungeduldig zur Seite. Der Direx war ein drahtiger, kleiner Mann, dessen wacher Blick flink durch den Raum wanderte.
»Ihr habt erst vor Kurzem eine Mitschülerin verloren«, fand er eine rasche Einleitung, »deshalb fällt es uns besonders schwer, euch heute schon wieder eine traurige Nachricht überbringen zu müssen. Das ist, denke ich, was der Kollege Dittmer sagen wollte.«
Weil ich in der letzen Reihe saß, konnte ich sehen, wie alle Schüler plötzlich ihre Haltung strafften.
»Anscheinend hat sich euer Mitschüler Jendrick Haberland für Eva Ahrends Tod verantwortlich gefühlt. Diese Last konnte er nicht tragen, deshalb hat er sich am Wochenende ebenfalls das Leben genommen.«
Sekundenlang war es totenstill.
»O Gott!«, flüsterte Karo, als leises Gemurmel durch die Reihen ging. »Ich hab gesagt, ich würde ihn umbringen, weißt du noch?«
Fünf oder sechs Köpfe senkten sich betroffen, obwohl niemand Jendrick hatte leiden können.
»Um neun werden drei Schweigeminuten für Jendrick gehalten«, fuhr der Direktor fort. »Bis dahin könnt ihr mit eurem Klassenlehrer über die Sache sprechen. Sollte sich jemand nicht in der Lage sehen, am Unterricht teilzunehmen, könnt ihr euch selbstverständlich an unsere Krankenschwester Frau Jablonski wenden. Und eure Vertrauenslehrer stehen euch ebenfalls jederzeit für Gespräche zur Verfügung.«
Der Direktor ließ seinen Blick noch einmal über die Gesichter flitzen, dann nickte er kurz und verließ den Klassenraum.
Sofort wurde das Gemurmel laut. Stühle ruckten, weil die Schüler sich zu ihren Nachbarn umdrehten.
Karo und ich liefen zu Lenas und Franzis Tisch nach vorn.
Dittmer zupfte weiter an seinem Pullunder.
»Und ich hab ihm gesagt, ich würde ihn umbringen!«, wiederholte Karo sofort, was sie mir schon gesagt hatte. »Ich konnte doch nicht wissen, dass er sich selbst aufhängen will!«
»Habt ihr gehört, dass er sich wegen Eva umgebracht haben soll?«, fragte Franzi. »Er hat sich die Schuld an ihrem Tod gegeben.«
»Die hatte er ja auch! Der hat sie mit seiner Spannerei doch wahnsinnig gemacht.« Erschrocken, weil ihr das herausgerutscht war, hielt sich Karo eine Hand vor den Mund.
»Ich glaube nicht, dass er Schuld hatte«, widersprach ich langsam. »Ich glaube, niemand kann etwas daran ändern, wenn sich jemand wirklich umbringen will. Keiner von all den Leuten, die sich hinterher Vorwürfe machen.«
Karo und Franzi musterten mich erstaunt.
Lena lächelte dankbar. Tränen glänzten in ihren Augen.
Mir wurde klar, dass Jendrick Haberland nicht der Einzige gewesen war, der sich schuldig an Evas Tod gefühlt hatte.
Ich wusste, ich musste weitermachen. Das Gespräch war jetzt genau da, wo ich es hatte haben wollen.
Ich konnte nicht.
Ich wollte nicht wissen, wie schuldig Lena war.
Ich stand auf und ging aus der Klasse.
Draußen regnete es in Strömen, doch ich brauchte frische Luft. Ich wickelte mich in meine Jacke und schlenderte über den Schulhof. Der Regen klatschte mir ins Gesicht, ich spürte die dicken, kalten Tropfen durch meine Haare schlagen und über meine Kopfhaut rinnen. Ein paar Minuten lang hielt ich mein Gesicht in den Wind.
Ich hörte, wie der Gong geläutet wurde und Direktor Frevert mit einer Lautsprecherdurchsage die Schweigeminuten für Jendrick ankündigte.
Dann war nichts mehr zu hören, außer dem entfernten Straßenlärm und dem prasselnden Regen auf dem Asphalt, auf meiner Jacke, meinem Gesicht.
Drei Minuten lang.
Als die drei Minuten verstrichen waren, wurde der Unterricht wieder aufgenommen.
Wirklich eine unkomplizierte Lösung für diesen Fall. Eva hatte sich wegen Jendrick umgebracht und Jendrick wegen Eva.
Noch Fragen?
Nein? Dann schnell drei Minuten schweigen und die Akte im Archiv verschwinden lassen. Es war das Beste, was der Polizei hatte passieren können.
Und dem Mörder ebenfalls, wenn es einen gab.
Oder der Mörderin …
Wenn jemand am Dienstag nach dem Biologieunterricht mit Eva im Klassenzimmer gewesen wäre und sie aus dem Fenster gestoßen hätte, dann wäre er bestimmt völlig aus dem Häuschen darüber, dass Jendrick, der Vollidiot, von ihm ablenkte.
Gut, bisher war Jendrick selbst natürlich die beste Besetzung für die Rolle des Mörders gewesen. Aber hätte er das nicht in seinem Abschiedsbrief erwähnt? Hätte er nicht etwas geschrieben wie: Ich war’s! Ich hab sie aus dem Fenster geschubst?
Wenn Jendrick sich allerdings nur umgebracht hatte, weil er ein Trottel war, dann hatte sein Tod nichts mit unserem Fall zu tun.
Wir mussten weitermachen, wo wir aufgehört hatten: bei Jendricks Alibi, das ich eigentlich schon beim Schuh des Manitu hätte prüfen sollen. Bei den Fotos der Schwimmerinnen. Und beim schönen Mario.
Wieder ertönte der Gong, diesmal zur großen Pause.
War es wirklich schon halb zehn?
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mir der Regen aus den Haaren in den Kragen gelaufen war und als kalter Bach meinen Rücken herunterrann. Meine Nase war wahrscheinlich rot gefroren.
Ich wischte mir durchs Gesicht und ging zurück ins Gebäude, während alle anderen herauskamen.
Fast alle: Den schönen Mario entdeckte ich, gefolgt von Sancho und Pancho, auf dem Weg zum Naturwissenschafts-Turm.
Gute Gelegenheit, einen Punkt von meiner Liste der dringend zu klärenden Dinge zu streichen.
»Lila-Schatz, hat dich der Sklaventreiber etwa schon wieder verdonnert?«, begrüßte mich Orkan, als ich in den Bioraum trat.
»Die ganze Woche«, murrte ich.
»Der Asi aus deiner Klasse soll sich aufgehängt haben, hab ich gehört«, bemerkte Mario.
»Scheint so.«
Mit dem Schwamm in der Hand schlenderte ich zu den Jungs hinüber.
»Kippe?« Mario hielt mir eine hin.
Ich strich mir eine Haarsträhne, an der Regenwasser herunterlief, hinters Ohr und griff zu. Orkan sprang sofort auf und gab mir Feuer.
»Soll wegen diesem Mädchen gewesen sein, das aus dem Fenster gesprungen ist.« Ich zog an der Zigarette und ließ Mario nicht aus den Augen. »Sie war doch mit dir zusammen, oder?«
Marios Augenbrauen zuckten aufeinander zu: »Wer sagt das? Die Bode?«
»Stimmt’s, oder nicht?«
»Quatsch! Wir haben ein paarmal gevögelt, das ist alles.« Sein Blick huschte unruhig unter den langen Wimpern hin und her.
»Hat sie auch gewusst, dass das alles war?«, erkundigte ich mich und pustete ihm den Zigarettenrauch ins Gesicht.
Er wurde wirklich rot! Offensichtlich gehörte er zu den Menschen, deren Gesichtsfarbe wie eine Ampel den Stand ihres Blutdrucks anzeigt.
»Na schön«, gab Mario zu. »Vielleicht hat sie geglaubt, wir hätten eine Beziehung. Und wenn sie nicht aus dem Fenster gesprungen wäre, hätten wir von mir aus auch noch ein paarmal poppen können.«
Er hatte also nicht mit ihr Schluss gemacht?
»Mit der Kleinen konntest du richtig Spaß haben, weißt du?« Orkan trat dicht hinter mich. »War nicht so verklemmt wie die anderen Küken aus der Zehnten, die hat zu nix Nein gesagt.«
Na, das waren ja Helden! Offensichtlich gehörten sie zu der Sorte Spätpubertierender, die denjenigen, der den meisten Sex hatte, zum Rudelführer ernannten. Oder den, der sich die kreativsten Bettgeschichten ausdachte, denn Orkan und Dominik hatten wohl kaum daneben gestanden und Protokoll geführt.
»Du siehst mir allerdings auch nicht wie ein verklemmtes Küken aus.« Marios Gesicht hatte aufgehört zu leuchten.
Er sah mir tief in die Augen und ich vermutete, dass die Mädchen daraufhin gewöhnlich ohnmächtig vor ihm zu Boden sanken.
»Ich gebe dir gern ein bisschen Nachhilfe.«
O bitte. Gelangweilt pustete ich ihm den letzten Rauch ins Gesicht. Dann drückte ich die Kippe auf dem Lehrerpult aus und stellte mir vor, wie die Jungs gleich versuchten, den Brandfleck wegzuwischen, damit ihre Raucherpausen nicht aufflogen.
»Sorry, Schätzchen, aber ich glaube nicht, dass du mir noch was beibringen kannst.« Ich drehte mich um und ging.
»Die hat ja ’ne ganz schön große Fresse!«, hörte ich Dominik noch sagen, der bisher nicht viel zur Unterhaltung beigetragen hatte.
Ich beschloss, bei Gelegenheit ein ernstes Wort mit Lena über ihren Geschmack in Männerfragen zu reden.
»Lila! Hast du noch nichts davon gehört, dass die Schüler in den Pausen die Unterrichtsräume verlassen müssen?«
Ich fuhr herum.
Morgenroth, der Steinzeitmensch, kam mit der Plastikattrappe einer menschlichen Wirbelsäule unterm Arm die Treppe heraufgeschnauft.
»Ich habe nach Ihnen gesucht«, redete ich mich heraus und hoffte, dass ich nicht zu sehr nach Rauch roch. »Der Rektor hat gesagt, wir könnten mit den Lehrern über den Tod unseres Mitschülers sprechen.«
»Haberland«, brummte Morgenroth nickend in seinen Bart. »Ich hab davon gehört.«
»Eigentlich sollen wir uns ja an unseren Klassenlehrer wenden, aber – wie soll ich es sagen? – ich bin mit Herrn Dittmer noch nicht so richtig warm geworden.«
Morgenroths buschiger Bart verzog sich ein wenig. Ich sah ihm an, dass er sich Gründe für mein kühles Verhältnis zu Dittmer zusammenreimte.
»Deshalb wollte ich fragen, ob Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich hätten?«
»Komm mit.«
Glücklicherweise ging er nicht auf den Raum hinter mir zu, in dem die drei Jungen noch immer rauchten, sondern stampfte weiter die Treppe hinauf.
»Ich konnte Jendrick nicht besonders gut leiden«, versuchte ich vorsichtig, den Lehrer zu ködern. »Und jetzt denke ich die ganze Zeit darüber nach, ob es etwas geändert hätte, wenn ich freundlicher zu ihm gewesen wäre. Ich dachte, Sie könnten mich vielleicht verstehen, weil Eva Ahrend ja nach Ihrem Unterricht aus dem Fenster gesprungen ist.«
Morgenroth blieb mitten auf der Treppe stehen.
»Denken Sie auch manchmal, Eva könnte noch am Leben sein, wenn Sie etwas anders gemacht hätten?«, fragte ich direkt. »Hätten Sie mehr auf sie geachtet, wenn Sie gewusst hätten, was passieren würde?«
Morgenroths breite Schultern sanken leicht nach vorn.
»Hätten Sie was merken müssen?«
Der Lehrer stellte seufzend die Plastikwirbelsäule auf die Treppe. »Willst du die Wahrheit hören, Lila? Ich habe keine Ahnung, was genau an dem Abend passiert ist. Nach dreißig Jahren Schuldienst ist man so in der Tretmühle drin, dass man sich überhaupt keine Gedanken darüber macht: Unterricht beenden, Sachen einpacken, rausgehen – das alles passiert automatisch. Ich war mit meinen Gedanken schon lange zu Hause. Ich weiß nicht, ob Eva allein im Klassenraum blieb oder ob noch jemand dabei war. Ich weiß nicht, ob ich die Tür zugezogen habe oder nicht. Und ja, ich denke jeden Tag, dass ich irgendetwas hätte bemerken müssen. Ich hätte warten müssen, bis Eva den Raum verließ. Jetzt mache ich es immer so, aber jetzt ist es zu spät.«
Er fuhr sich durch den Bart.
Ich glaubte, seine kurzen Finger leicht zittern zu sehen. Gehörte er etwa zu den wenigen Lehrern, die dreißig Dienstjahre nicht in einen Zombie verwandelt hatten?
»Sind Sie direkt nach Hause gefahren? Oder haben Sie noch mit irgendjemandem gesprochen, irgendwo angehalten?«, erkundigte ich mich, obwohl Danner sein Alibi mit Sicherheit schon geprüft hatte.
Morgenroth runzelte die Stirn. »Am Bahnhof. Ich setze die Kollegin Berthold dienstags und donnerstags immer dort ab. Wieso?«
Zu meinem Glück klingelte es zur nächsten Stunde, sodass ich unser Gespräch beenden konnte.
»Nur so. Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich hatten«, verabschiedete ich mich und sprang die Treppe hinunter.
Er sah mir verwirrt nach, die Wirbelsäule neben seinen Füßen auf der Stufe.