35.
Um irgendwie weiterzukommen, schob ich am nächsten Morgen im Deutschunterricht eins meiner Fotos zwischen den linierten Seiten meines Heftes zu Karo hinüber. Zur Abwechslung nahm ich mal wieder meinen imaginären Liebhaber zu Hilfe: »Glaubst du, Flo steht drauf?«
Als Karos Blick auf das Foto fiel, versteinerte ihr Gesicht.
Ohne ein Wort klatschte sie den Block vor mir auf den Tisch, sprang polternd auf und stampfte in ihren klobigen Stiefeln zur Tür hinaus.
»Karoline …!«, begann Dittmer lahm, doch bevor er sich überlegt hatte, was er sagen wollte, rummste die Tür schon hinter Karo zu.
Die verblüffte Stille vibrierte noch einen Moment lang im Klassenzimmer. Ich klimperte erstaunt mit den Wimpern, als Dittmer mir einen fragenden Blick zuwarf.
Ich war ehrlich überrascht. Bei Franzi hätte ich vielleicht damit gerechnet, sie mit einem Unterwäschefoto schocken zu können. Aber doch nicht Karo! Doch nicht die aufsässige, lässige, abgeklärte Karo! Was konnte sie an einem Mädchen in Unterwäsche erschrecken?
Außer dass Eva ähnliche Fotos gemacht hatte, bevor sie aus einem Fenster gesprungen war.
Wusste Karo über die Fotos Bescheid?
Wusste sie, wer sie gemacht hatte?
Noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, kam Karo wieder herein und ließ sich mit immer noch steinerner Miene neben mir auf den Stuhl fallen.
»Schön, dass du wieder bei uns bist, Karoline«, wagte Dittmer eine schwache Kritik.
»Ich werde doch wohl noch meinen Tampon wechseln dürfen!«
Dittmer sah schnell in eine andere Richtung.
»Wenn du Lena und Franzi das Foto zeigst, dreh ich dir den Hals um«, zischte Karo mich an, als alle anderen sich wieder nach vorn gedreht hatten.
Tja, Karo brauchte ich wohl keine weiteren Fragen zu stellen.
»Scheißtag, hm?«, erkundigte sich Danner, ohne von der Zeitung aufzusehen. Staschek saß ebenfalls am Tisch und wartete aufs Mittagessen.
»Karo ist stinksauer auf mich und blockt total ab. Außerdem bewacht sie Franzi wie ein dreiköpfiger Drache, damit ich sie nicht ausquetschen kann.«
»Wem sagst du das? Ich versuche seit Wochen, etwas aus ihr rauszukriegen! Außerdem muss ich ihr Sportunterricht geben – und Sport hasst Karo fast ebenso sehr wie Lehrer.«
Molle stellte eine brutzelnde Pfanne zwischen uns auf den Tisch. Käsespätzle, mmmmh!
»Zum Glück hast du noch ein bisschen Zeit, um Franzi zu Hause zu besuchen«, stellte Danner fest. »Der Polizeiball beginnt erst um sieben.«
Ach ja, der Polizeiball – das war ja heute!
»Du gehst wirklich hin?«, wunderte sich Molle.
Danner zuckte die Schultern: »Ich schätze, meine Begleitung zickt rum, wenn ich sie versetze.«
Da lag er richtig.
»Das hat ihn sonst nie gestört«, warnte mich Molle.
»Such dir ’ne Frau und mach ihr ein Kind, Molle, dann brauchst du Lila nicht zu bemuttern!«, knurrte Danner.
Molle funkelte Danner wütend an, während er erst meinen und dann seinen eigenen Teller mit Spätzle füllte. Staschek bediente sich selbst und Danner aß den Rest aus der Pfanne.
Auf die Idee, Franzi zu Hause zu besuchen, hätte ich auch selbst kommen können. Denn so kam mir Karo nicht in die Quere.
Das Haus, in dem Franzi wohnte, war grau mit roten Balkonen und mindestens zehnstöckig. Es dauerte einen Augenblick, bis ich den Namen Schubert auf einem der fünfunddreißig Klingelschilder gefunden hatte.
»Ja bitte?«, meldete sich eine jugendlich klingende Frauenstimme über die Sprechanlage.
»Mein Name ist Lila Ziegler, ich bin eine Freundin von Franzi«, stellte ich mich vor.
»Ach, Lila, wie schön! Komm rein! Sechster Stock, neben dem Fahrstuhl links.«
Mit einem Summen öffnete sich die Tür.
Als ich oben aus dem Fahrstuhl stieg, wartete schon eine Frau an der Wohnungstür. Sie sah aus wie Franzis Schwester, die gleichen dunklen Kringellöckchen, die gleichen roten Wangen und die gleichen leicht schräg stehenden Augen, die halbmondförmig wurden, als sie lachte. Allerdings wog sie ungefähr vierzig Kilo mehr als Franzi. Sie trug eine ausgeleierte Jogginghose, darüber ein weites T-Shirt, Biolatschen und null Make-up.
»Hi!« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Ina Schubert. Ich hab mich schon gefragt, wann ich dich kennenlerne.«
Ich kniff die Augen zusammen. Ausnahmsweise hatte ich keine Ahnung, wie alt ich sie schätzen sollte. Bei dicken Menschen ist es sowieso schwerer, weil sie in der Regel weniger Falten haben, die sie verraten.
Die Frage war: Schwester oder Mutter?
»Hi!«, sagte auch ich und versuchte, meine Hand aus ihrem sehr festen Griff zu lösen. »Bist du Franzis Schwester?«
Sie zwinkerte mir zu: »Schleimen ist nicht nötig.«
»Echt ihre Mutter?«
Sie betrachtete mich neugierig. »Dich hab ich mir auch anders vorgestellt.«
»Ach, wirklich?« Ich stemmte amüsiert die Hände in die Seiten. »Und wie?«
Sie zwinkerte wieder: »Nicht so brav. Ein bisschen mehr wie Karo.«
Franzi tauchte hinter ihr auf, um zu sehen, wer an der Tür war.
»Mama!«, quietschte sie empört. »Bist du bescheuert, Lila auszufragen?« Sie boxte ihrer Mutter im Vorbeigehen in die Speckfalten über den Hüften. »Sorry, meine Mutter ist manchmal echt peinlich! Komm rein! Wenn wir in mein Zimmer gehen und ein Handtuch über die Türklinke hängen, kann sie nicht durchs Schlüsselloch gucken.«
Die Wohnung war winzig. Ohne Frage lebte Franzi mit ihrer Mutter allein, eine dritte Person hätte gar keinen Platz gefunden.
In Franzis Zimmer standen ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch und damit war der Raum voll. Pink, Madonna und die unvermeidlichen Kindergesichter von Tokio Hotel hingen auf Postern an den Wänden, über dem Schreibtisch eine Pinnwand mit bunten Postkarten.
»Jetzt weißt du, warum wir uns nie bei mir treffen«, meinte Franzi. »Willst du auf dem Bett sitzen oder auf dem Stuhl?«
Ich hockte mich aufs Bett: »Wie alt ist deine Mum?«
»Fünfunddreißig.«
Schnell nachrechnen.
»Sie war achtzehn, als sie mich gekriegt hat«, ersparte mir Franzi die Mühe.
»Sie ist ganz okay, oder?«, stellte ich fest und wunderte mich einen Augenblick, dass es so was tatsächlich zu geben schien.
Franzi nickte. »Mein Vater ist abgehauen, als ich zwei war. Hat auf einem Luxusliner als Animateur angeheuert. Er war zwanzig und hat sich das Leben mit Kind nicht so anstrengend vorgestellt. Aber immerhin schreibt er mir zum Geburtstag und zu Weihnachten.«
Sie deutete auf die Postkarten an der Pinnwand. Sie kamen aus der ganzen Welt: Rio, Thailand, die Fidschis, Mexiko.
Ich merkte, dass Franzi mich abwartend ansah.
»Karo ist sauer auf mich«, begann ich. »Und ich dachte, du weißt vielleicht, warum.«
Franzi machte große Kulleraugen: »Sie hat gar nichts gesagt.«
Ich zog meine leicht zerknitterten Fotos aus der Tasche: »Ich hab ihr eins gezeigt, heute in Deutsch. Sie sagt, Lena und du, ihr dürft die Bilder auf keinen Fall zu Gesicht bekommen.«
Franzi nahm mir die Aufnahmen aus der Hand und warf mir einen schnellen Blick zu.
»Und? Weißt du, was das soll?«, hakte ich sofort nach.
»Ich kann es mir denken«, sagte sie vorsichtig.
Gespannt richtete ich mich auf: »Wirklich? Ist Karo vielleicht ’ne gut getarnte Nonne oder so?«
Franzi schüttelte den Kopf: »Das hat nichts mit dir zu tun, sondern mit ihrem Krieg gegen Dittmer.«
Dittmer, der Schülerinnenbegrapscher? Mein Lieblings-Ekelerreger, seit Stinke-Socken-Jendrick diesen Posten freigegeben hatte?
»Was hat Dittmer mit meinen Fotos zu tun?«
Franzi zuckte die Schultern: »Ach, gib Karo einfach drei Tage Zeit, dann kriegt sie sich wieder ein.«
Abgeblockt.
»Erst fängst du mit Dittmer an und jetzt sagst du mir nicht, worum es geht?«, motzte ich ärgerlich. »Fotografiert er seine Schülerinnen in Unterwäsche, oder was?«
Franzi verschränkte die Arme.
Ich hätte sie erst mit gepanschtem Biergemisch abfüllen sollen. Wütend sprang ich auf. »Dann haltet doch einfach alle die Klappe! Ihr tut ja so, als müsstet ihr einen Mord vertuschen! Leck mich!«
Ich stürmte zur Tür.
»Du hast recht!«, entschied Franzi sich schnell. »Dittmer hat einen Fototick.«
Ich hielt inne.
Dittmer machte wirklich Fotos von seinen Schülerinnen?
»Er ist ein echter Kunstfreak, auch wenn er nicht so aussieht«, klärte Franzi mich auf. »Macht Aufnahmen für die Schülerzeitung und bietet eine Foto-AG an. Das hat er voll drauf. Hätte lieber Fotograf werden sollen.«
Langsam drehte ich mich wieder zu Franzi um.
»Er hat auch Fotos von Eva gemacht, du weißt schon, unsere tote Freundin.«
Ich nickte.
»Das waren super Bilder. Dittmer hat ein richtiges Studio in der Schule. Im Keller, in der Redaktion der Schülerzeitung.«
Mit Dittmer allein im Keller? Wie nett.
»Karo glaubt, er hat Eva da unten irgendwas angetan«, fuhr Franzi fort.
»Denkst du, da ist was dran?«
Franzi presste eine Hand vor die Stirn: »Ich weiß nicht. Eigentlich nicht. Karo steigert sich da ziemlich rein. Ich glaube, sie gibt einfach jedem anderen die Schuld, damit sie nicht darüber nachdenken muss, wie viel Schuld wir selbst an Evas Tod haben.«
Ich ließ Franzi nicht aus den Augen.
Sie strich sich nervös eine dunkle Locke aus der Stirn.
Konnte es sein, dass ausgerechnet die brave, kleine Franzi diejenige war, die die Sache am klarsten sah?
»Und wie viel Schuld habt ihr?«
Ihre dunkel geschminkten Augen füllten sich mit Tränen: »Wir waren alle drei keine besonders guten Freundinnen für Eva. Sie springt aus dem Fenster und keine von uns hat geahnt, dass sie überhaupt über Selbstmord nachgedacht hat. Seit der Sache mit Mario haben wir kaum noch mit Eva gesprochen. Weißt du von der Sache mit Mario?«
»Lena hat’s mir erzählt.«
»Wir wussten alle, dass Lena in ihn verknallt war. Eva auch. Dass sie trotzdem was mit ihm angefangen hat, fand ich das Allerletzte!«
Ich nickte, ohne Franzi zu unterbrechen.
»Als Eva vor ihrem Tod mit einer Grippe im Bett lag, haben wir sie nicht mal besucht. Keine von uns.« Die Tränen lösten sich aus Franzis Augen und kullerten über ihre Wangen. »Wir waren einfach nur froh, ein paar Tage lang nicht zusehen zu müssen, wie Eva vor Lenas Augen mit Mario rumknutschte.«
Obwohl sie weinte, sprach sie weiter, ohne zu stocken: »Als Eva wieder in die Schule kam, redete sie kaum mit uns. Damals dachte ich, sie wäre sauer, weil wir uns nicht gemeldet hatten. Jetzt glaube ich, sie hat über Selbstmord nachgedacht. Sie war so verändert, wie abwesend. Vielleicht hätten wir nur fragen müssen, was los war, und sie wäre jetzt nicht tot!«
Franzi verbarg das Gesicht in den Händen.
Ich rutschte neben sie aufs Bett und nahm sie in den Arm, wie ich es am Abend zuvor bei Lena gemacht hatte. Langsam wusste ich, wie das ging.
Als Franzi aufhörte zu schluchzen, war ihre Wimperntusche in schwarzen Linien über ihr Gesicht gelaufen. »Aber dass Dittmer ihr was getan hat, dass er sie in den Keller gelockt und vergewaltigt hat, kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.« Franzi wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. »Doch nicht Dittmer!«
Wirklich nicht?
»Lena glaubt auch nicht dran. Sie hat sich sogar selbst von Dittmer fotografieren lassen«, schniefte Franzi. »Ich schätze, deshalb ist Karo so sauer geworden, als du ihr die Fotos gezeigt hast. Wenn Lena sieht, wie geil deine Bilder sind, lässt sie Dittmer vielleicht noch mal Aufnahmen machen. Ich schätze, Karo hat Schiss, dass Lena auch was passiert – denn Eva muss etwas wirklich Schlimmes passiert sein.«
»Glaubst du nicht, Jendrick war’s? Er hat doch zugegeben, dass er schuld an ihrem Tod ist. Vielleicht hat er sie aus dem Fenster gestoßen?«
Franzi schüttelte den Kopf.
»Wieso nicht?«
»Weil er mit uns rausgegangen ist. Wir haben nie aufgehört, auf ihn aufzupassen, damit er Eva nicht auflauert. Ich bin hinter ihm raus und habe die Tür zugemacht. Und von außen kriegst du die Unterrichtsräume nur mit diesem Coin wieder auf, weißt du?«
Wusste ich.
»Und dann ist Jendrick mit uns die Treppe hinunter.«
»Wer war denn da noch im Bioraum?«
»Eva und Morgenroth. Sonst waren alle raus.«
Ich starrte Franzi an. Wieso hatte ich sie nicht eher gefragt?
Wenn ich ehrlich war, kannte ich die Antwort: Ich hatte sie unterschätzt. Weil sie brav war, schüchtern und – Schande über mich! – Jungfrau.
So viel zu meiner Menschenkenntnis, auf die ich mir ja gern was einbildete.
Als ich wenig später die Zimmertür öffnete, tat Ina Schubert so, als würde sie die Schuhe in dem kleinen Regal im Flur sortieren.
»Tschau, Lila«, sagte sie. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«
»Dito.«
Ich zog die Wohnungstür hinter mir zu.
Danner sah mich erwartungsvoll an, als ich mich neben ihn auf das Sofa plumpsen ließ.
»Die Fotos macht Dittmer. Mädels im Badeanzug abzulichten ist ein Hobby von ihm. Und Jendrick hat ein Alibi.« Zufrieden legte ich meine Füße neben seine auf den Tisch. »Morgenroth hat keins. Der ist als Letzter mit Eva im Raum zurückgeblieben.«
Danner dachte einen Moment lang nach.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Morgenroth Eva aus dem Fenster geschubst hat«, beschloss er dann. »Die Kollegin Berthold hat vor dem Biologieraum auf ihn gewartet, er nimmt sie immer bis zum Bahnhof mit. Sie hat ihn direkt nach den Schülern herauskommen sehen. Ob Eva da noch im Raum war, kann sie zwar nicht beschwören, aber wenn Morgenroth jemanden aus dem Fenster geworfen hätte, wäre irgendwas zu hören gewesen.«
Wie immer hatte Danner seine Hausaufgaben gründlich gemacht.
»Dann wollen wir jetzt mal herausfinden, wie weit die Kollegen von der Polizei mit ihren Ermittlungen sind.«