8.

Nach dem Mittagessen entsorgte ich die leeren Flaschen in einem Altglascontainer drei Straßen weiter.

Ziemlich sicher hatte ich mittlerweile jede Akte in der Wohnung in den Händen gehabt und merkwürdigerweise stand auf allen: Abgeschlossen. Der letzte Ordner trug das Datum 28.08. – das war fast zwei Monate her. Baumbach lautete der Name des Klienten.

Ich erinnerte mich sehr wohl an Danners Warnung: »Finger weg von meinen Sachen!« Doch ich entschied, dass es keinen Grund gab, ausgerechnet auf Danner zu hören. Ich setzte mich mit dem Ordner Baumbach aufs Sofa, stellte MTV leiser und schlug die Mappe auf.

Auftrag von M. Baumbach erhalten am 24.08., stand da in schräger, flüssiger, aber schwer zu entziffernder Schrift. Scheidungssache, Anwaltsbüro Sommer, einige Adressen von beteiligten Personen. Blabla.

Ich schlug die nächste Seite auf.

Da wurde es interessanter!

M. Baumbach, die ich sofort des Telefonterrors verdächtigte, unterstellte ihrem Mann – einem Oberinspektor beim Finanzamt – ein Verhältnis mit seiner Stellvertreterin. Sie wollte Beweise, um bei der bevorstehenden Scheidung bessere Karten zu haben.

Auf der nächsten Seite folgte ein Foto. Es zeigte einen breitschultrigen Mann Anfang fünfzig. Er trug einen dunklen Zweireiher mit altrosa Krawatte zu dicken, grauen Locken und sah für sein Alter nicht übel aus. Im Arm hielt er eine dürre, dick bebrillte Brünette im mausgrauen Kostüm. Sie trug einen Dutt, der sie wie sechzig aussehen ließ, wahrscheinlich war sie aber um die vierzig, schätzte ich.

Das war doch wohl nicht M.?

Ich bitte dich, Danner!

Mein Blick fiel auf Danners Schriftzug unter dem Foto.

G. Baumbach mit L. Freiberger, Betriebsfeier (15.07.) entzifferte ich. Und daneben: Erhalten von M. Baumbach am 24.08.

Anscheinend handelte es sich um das Betthäschen des Herrn Finanzinspektors. Amüsiert schüttelte ich den Kopf.

In Klarsichthüllen folgten einige Parkbelege, die Kopie einer Hotelrechnung und ein knapp getippter Bericht von Danner.

So chaotisch das Ablagesystem seiner Akten gewesen war, so unerwartet vollständig erschienen mir die Unterlagen über den Fall. Ich blätterte weiter. Wo war der interessante Teil?

Aha.

In den letzten Klarsichthüllen steckten die Fotos, die ich suchte.

Auf dem ersten Abzug erkannte ich den Finanzbeamten und seine bebrillte Sexmaus wild knutschend in einem Restaurant. Das zweite und dritte Bild zeigten, wie sie Arm in Arm in einem Hotel verschwanden. Als ich das letzte Bild hervorzog, wäre ich vor Lachen beinahe vom Sofa gerutscht: Die dürre Duttträgerin trug rosa Höschen und Strapse und wirbelte ihren BH über dem Kopf des splitternackt auf dem Bett liegenden Finanzbeamten.

Wie zum Teufel hatte Danner dieses Foto in die Finger bekommen?

G. Baumbach und L. Freiberger betraten das Hotel Ibis am 27.08. um 15.15 Uhr und verließen es um 16.40 Uhr, las ich den nüchternen Text auf der letzten Seite. Originale am 28.08. an M. Baumbach übergeben.

Hatte er von sämtlichen Fällen der letzten zehn Jahre – oder wie weit die Unterlagen auch immer zurückreichten – derartig vollständige Aufzeichnungen? Dann besaß er mit Sicherheit Material, an das seine Klienten nicht unbedingt erinnert werden wollten. Ob Danner irgendwen erpresste?

Ich schüttelte den Kopf.

Da sprach die misstrauische Hälfte meines Gehirns, die jedem erst einmal Alkoholismus, pathologisches Lügen oder Sex mit Minderjährigen unterstellte.

Immerhin war es möglich, dass ein Privatdetektiv Wert auf eine genaue Dokumentation seiner Fälle legte.

Leider war kein Bild von M. in der Akte Baumbach zu finden. Zu schade!

Ich stellte den Ordner zurück ins Regal.

Heine, 09.07., stand auf der dickeren Akte daneben.

Ich spürte ein Kribbeln in den Fingern. Was verbarg sich hinter diesem Namen? Noch eine biedere Bürobraut, die nach Feierabend ihren Chef ans Bett fesselte?

Ohne lange zu überlegen, schnappte ich mir den zweiten Ordner und machte es mir auf dem Sofa bequem.

Da klingelte schon wieder das Telefon.

»Guten Tag, Frau Marie«, begrüßte ich die weibliche Stimme ein drittes Mal. »Nein, Herr Danner ist noch immer nicht zurück.« – »Ich werde es ihm ausrichten.« – »Auf Wiederhören.«

Ich war nur ein ganz klein wenig genervt und hauptsächlich noch immer höflich gewesen.

Und beim nächsten Mal würde ich genauso höflich behaupten, dass Herr Danner gerade mit einer Klientin ein dienstliches Gespräch im Schlafzimmer führte und sich jede Störung verbeten hätte.

Ich stöberte weiter in Danners Fällen. Dabei lauschte ich immer mit einem Ohr auf die Treppe, denn eine Ahnung sagte mir, dass ich mich nicht unbedingt mit einer seiner Akten auf dem Schoß erwischen lassen sollte, wenn ich meinen Sofaschlafplatz behalten wollte.

Gegen halb sechs ließ ich mir ein Bad ein und planschte eine halbe Stunde unter den Wäscheleinen herum, bis meine Haut krebsrot war und prickelte. Anschließend versuchte ich, meiner lila Mähne mit Danners Fön so etwas wie eine Frisur zu verpassen.

Durch den Fön und das abfließende Badewasser übertönt, dauerte es eine Weile, bis ich das Telefon hörte.

Ich seufzte genervt.

Nackt lief ich ins Wohnzimmer und schwor mir, diese kontrollsüchtige Kuh eigenhändig zu erwürgen, wenn Danner ausgerechnet in diesem Moment in seine Wohnung kam.

»Herr Danner ist noch immer nicht zu erreichen!«, erklärte ich wütend, noch bevor M. sich melden konnte.

»Und mit wem spreche ich dann, bitte?«

Ich zuckte zusammen, als mir eine eindeutig männliche Stimme antwortete. »Ups! Entschuldigen Sie, ich habe mit jemand anderem gerechnet!«

»Das habe ich mir gedacht. Hier ist Staschek, wann ist er wieder da?« Die Stimme klang belustigt, männlich, sanft und sexy, der Typ hätte ohne Weiteres M.s Bruder sein können.

»Er hat nichts gesagt.«

»Dann sind Sie allein in seiner Wohnung?«, folgerte er richtig. »Sind Sie eingebrochen?«

»Ich bin die neue Sekretärin.«

Er lachte: »Reden Sie keinen Quatsch! Bevor Ben eine Sekretärin einstellt, trinkt ein Pferd bei Molle Bier.«

Der Typ kannte Danner offensichtlich besser als M.

»Also, muss ich die Polizei rufen oder verraten Sie mir Ihren Namen?«, drohte er, allerdings nicht ernsthaft.

»Lila Ziegler«, gehorchte ich abwartend.

»Und was haben Sie in Bens Bude verloren?«

»Ich wohne hier für ’ne Weile.«

Staschek lachte wieder: »Dann müssen Sie eine sprechende Küchenschabe sein, Frau Ziegler!«

Ich schwieg schmunzelnd.

»Ich sehe schon, ich werde jedes Ungeziefer in seiner Wohnung einzeln verhören müssen, um etwas über Sie herauszufinden. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie nicht eingebrochen sind, lasse ich Sie für heute in Ruhe.«

»Versprochen.«

»Gut. Sagen Sie Ben, ich bin um zehn bei Molle.«

»Wird gemacht, Herr Staschek. Ist das eine geschäftliche Nachricht? Sind Sie ein Klient?«

Der Mann schwieg einen Augenblick.

»Ich vermute, Sie sind ebenfalls eine Schnüfflerin und in die Detektei eingestiegen. Kann das sein?«

»Tut mir leid, aber es bleibt dabei: Ich wohne hier.«

»Na schön. Wir werden sehen. Auf Wiederhören, Frau Ziegler.«

»Auf Wiederhören, Herr Staschek.«

Immer noch schmunzelnd legte ich den Hörer auf.

Dann schlüpfte ich in meine Jeans mit den bunten Handabdrücken, die inzwischen auf der Leine getrocknet war, und in einen giftgrünen Strickrolli mit aufgenähten Sonnenblumen.