40.
Das Haus am Hans-Ehrenberg-Platz hatte vier Stockwerke. Zum Glück hatte ich die Adresse, seit ich sie mir auf den Arm gekritzelt hatte, im Kopf.
Ich drückte wahllos einige Klingeln.
»Ja, bitte?«, meldete sich sofort eine Frauenstimme über die Sprechanlage.
»Guten Tag, mein Name ist Ziegler. Ich würde gern mit Ihnen über die neue Telefon-Flatrate von O2 sprechen. Telefon und Internet für 4,99 im Monat.«
Beim dritten Versuch hatte ich Glück.
»Echt?«, fragte eine jung klingende Stimme begeistert. »Cool!«
Es summte und die Tür ließ sich aufdrücken.
Das Haus roch nach Holzpolitur und frischer Farbe. Der Flur wurde gerade renoviert, die Wände bekamen einen freundlichen, hellgelben Anstrich.
Dass Dittmers Wohnung im dritten Stock lag, hatte er mir ja selbst erklärt. Als ich an den Wohnungstüren entlanglief und auf den Klingelschildern nach Dittmers Namen suchte, hörte ich laute Stimmen.
»Ihr wollt mich fertigmachen! Aber ich lasse mir das nicht anhängen!« Ich erkannte Dittmer nicht gleich, weil er im Unterricht noch nie so laut gesprochen hatte.
Ich legte mein Ohr an die Tür.
»Scheißbulle! Ich hab ihr nichts getan, kapierst du das nicht?«
»Sexuelle Belästigung ist eine Sache, da kriegst du Bewährung.«
Danner!
»Mord ist was ganz anderes! Also denk nach und mach keinen Quatsch.«
Danners Stimme klang ruhig, beinahe sachlich.
Dafür verriet Dittmers Tonfall seine Hysterie: »Wenn ich schon verhaftet werde, dann für etwas, was ich auch getan habe!«
»Schwachsinn! Stell dich, mach eine vernünftige Aussage und such dir verdammt noch mal einen anderen Job«, riet Danner beherrscht. »Und nimm endlich das Ding runter!«
Das Ding runter?
War es das, was ich dachte, das es war?
»Ihr haltet mich wohl alle für völlig bescheuert! Ihr braucht einen Sündenbock, weil sich ein blöder Teenager umbringen musste? Nehmt doch Dittmer, der wehrt sich nicht! Aber ich lasse mir nicht alles gefallen! Ihr wollt einen Mörder verhaften? Den könnt ihr kriegen.«
Scheiße!
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
»Alles, was ich will, ist eine vernünftige Aussage«, bewahrte Danner noch immer die Ruhe.
Was jetzt? Was, wenn Dittmer wirklich eine Waffe in der Hand hielt?
Ich musste was tun!
Irgendwas!
Ich drückte die Klingel.
Stille.
Dann hörte ich einen dumpfen Schlag und ein Poltern. Ich brauchte es nicht sehen, ich wusste, es war ein menschlicher Körper, der zu Boden gefallen war.
Meine Hände und Füße wurden mit einem Schlag eiskalt. Hatte er Danner …?
Ich hörte leise Schritte, die sich der Tür näherten. Und ich hatte nicht mal eine Nagelfeile dabei – oder was immer Lara Croft in einer solchen Situation für eine Geheimwaffe aus dem Stiefel zog.
»Bitte, lass Danner die Tür aufmachen, bitte«, betete ich lautlos.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und Dittmer blinzelte mich verwirrt an. »Äh – Lila?«
»Hallo, Herr Dittmer. Entschuldigen Sie die Störung. Sie sagten, ich könnte mir die Französischaufgaben, über die wir gesprochen haben, bei Ihnen zu Hause abholen.«
Ich lächelte so dämlich, wie es mit einem Puls von zweihundertzwanzig möglich war.
Er musste es schlucken.
Er musste!
»Ach ja.«
»Morgen haben wir wieder Französisch, deshalb – könnten Sie mir die Aufgaben bitte raussuchen?«
»Lila, es –!«
»Bitte!« Ich versuchte einen Augenaufschlag. Meine Achseln waren schweißnass. Meine linke Hand zitterte, ich ließ sie viel zu schnell hinter meinem Rücken verschwinden. Verdammt, so musste er einfach etwas merken!
Dittmer sah gehetzt zurück in die Wohnung. Doch dann ließ er die Schultern sinken: »Na gut. Warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«
Er drehte sich um.
Er war so mager, dass ich unter seinem rot karierten Wollpullunder deutlich die kantigen Knochen seiner Schulterblätter erahnte.
Das war die Chance!
Mit einem Schritt war ich hinter ihm, holte aus und schlug ihm mit aller Kraft meine Fingerknöchel auf den Rücken. Ich traf das Schulterblatt mit voller Wucht.
Dittmer atmete zischend aus, sein rechter Arm fiel herunter, als gehörte er nicht mehr zu ihm. Seine dünnen Beine knickten wie trockene Strohhalme ein und er landete auf den Knien. Panisch schnappte er nach Luft.
Ich sah die Flinte auf dem Tischchen hinter der Tür, packte sie und richtete den langen Lauf auf seine Stirn. »Keine Bewegung!«
Doch er riss mit der Linken seinen Kragen auf, kippte auf die Seite und blieb nach Atem ringend liegen.
Der Griff der Waffe klebte.
Kurz blickte ich auf meine Hand: Blut.
O nein! Schnell sah ich mich um.
Der Flur war kurz, die Wohnzimmertür stand offen.
»Da rein!«, schrie ich den Lehrer an. »Beweg dich!«
Ich stieß ihm den metallenen Lauf der Waffe so kräftig in den Rücken, dass er aufheulte.
Wimmernd kroch er ins Wohnzimmer.
Danner lag auf dem Rücken, links von mir, neben einem flachen Couchtisch aus dunklem Holz. Es war nicht schwer zu erraten, dass Dittmer ihm den Griff der Waffe gegen die Schläfe geschlagen hatte. Dunkles Blut versickerte in dem dicken, grünen Teppich.
Ich versuchte, Dittmer nicht aus den Augen zu lassen, während ich neben Danner in die Hocke ging. Zu meinem Glück schien der Lehrer ebenfalls das Bewusstsein zu verlieren.
Der Puls. Ich presste Danner die Finger an den Hals.
Mist! Wo war der verfluchte Puls?
Mein eigenes Herz klopfte so panisch, dass es in jedem meiner Finger pochte und ich nichts fühlte. Ich schüttelte meine Hand aus und versuchte es noch mal.
Da! – Ich spürte Danners Atmung an meiner Hand.
Er lebte! Gott sei Dank.
Erleichtert setzte ich mich auf und richtete die Flinte über Danner hinweg auf Dittmer. Allerdings schien von dem Lehrer keine Gefahr mehr auszugehen. Er lag benommen auf der Seite, rang mit offenem Mund nach Luft.
Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer wandern.
Meine Güte! Wenn ich diese Wohnung eher gesehen hätte, hätte ich sofort gewusst, dass der Typ ein Irrer war!
Nicht nur der Teppich war grün, sondern auch die schweren Fünfziger-Jahre-Gardinen, die von dicken Kordeln zusammengehalten wurden. Das dunkle Holz der massiven Möbel glänzte sorgfältig poliert. Schreibtisch, Regal und der wuchtige Wandschrank waren auffällig aufgeräumt. An den Wänden hingen große, gerahmte Fotografien: Detailfotos eines erschossenen Hirsches, der nach hinten gekippte Kopf, das blutige Maul.
Sollte dies das künstlerische Talent sein, von dem Lena und Franzi gesprochen hatten?
In der Ecke entdeckte ich einen offen stehenden Schrank, in dem ein weiteres Gewehr lehnte – Dittmer war offenbar Jäger.
Danner bewegte sich. Stöhnend griff er sich an die Stirn. Dann bemerkte er die Flinte in meiner Hand und erstarrte.
»Wie gesagt, ich räche mich für gewöhnlich«, knurrte ich ihn an.
Er folgte mit Blicken der Zielrichtung der Waffe.
»Dittmer!« Taumelnd stemmte sich Danner auf die Füße. Die linke Hand an die blutende Schläfe gepresst, riss er mit der Rechten eine der altmodischen Gardinenkordeln herunter. Dittmer brüllte vor Schmerz, als Danner ihm den leblosen Arm auf den Rücken zerrte. Ich hatte den Nerv gut getroffen, die Schultermuskeln waren schlaff, der Arm wie tot.
Danner musterte mich kurz.
Ich legte das Gewehr zur Seite und verschränkte angriffslustig die Arme.
»Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«, zischte Danner, während er die Kordel knotete. Doch seiner Stimme fehlte die Wut.
Sollte das etwa ein schlechtes Gewissen sein? Wenn ja, dann würde ich dafür sorgen, dass er es richtig zu spüren bekam: »Hast du wirklich geglaubt, du scheuerst mir eine und schon bist du mich los? Ich dachte, du würdest mich inzwischen besser kennen!«
Er stand auf.
»Was ist? Willst du es noch mal versuchen?«, schnappte ich sofort. »Dann mach es aber diesmal richtig! Über eine alberne Ohrfeige kann ich nämlich nur lachen!«
Er wandte sich ab.
Hah! Volltreffer!
Der Schlag tat ihm leid! Damit hatte er mir ein Mittel in die Hand gegeben, mit dem ich ihn auseinandernehmen konnte wie ein altes IKEA-Regal: »Du wolltest mich nicht hier haben, richtig? Weil ich dir nur im Weg stehe – oder schlimmer, mir von dem Verrückten eine Wumme an den Kopf halten lasse – nein warte, das warst du ja selbst!«
Er drehte sich wieder zu mir: »Lila, ich habe –«
»Mir eine geballert, du Arsch!«
Er verstummte. Dann nickte er langsam.
»Lenny und Molle haben völlig recht«, gestand er unvermittelt. »Ich bin das Allerletzte.«
Wohl wahr.
Er streckte die Hand nach meinem Gesicht aus und berührte sacht meine noch immer glühende Wange.
Ich registrierte, dass mein Herz zu hüpfen begann. Danners Wirkung auf mich war noch die gleiche.
»Und ich bin auch noch dämlich. Dir wäre was Besseres als eine Ohrfeige eingefallen, um mich loszuwerden.«
Nun ja, die Idee war im Prinzip nicht ganz schlecht gewesen.
Hilflos zuckte er die Schultern: »Ich bin ein Arschloch und Vollidiot und ich bin bereit, das unter Zeugen zu wiederholen.«
»Darauf komme ich zurück.«
Einen Augenblick lang starrten wir uns schweigend an.
»Ich weiß, dass das unverzeihlich war«, sprach er dann weiter, »aber ich würde dir auch nackt bei Molle deinen Tee servieren, nur damit du mich noch einmal küsst.«
Oha!
Er versuchte, mir anzusehen, ob seine Worte wirkten. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er das Gleiche zu Marie sagte, um sie noch einmal ins Bett zu kriegen, aber das wollte mir nicht gelingen.
Seine grauen Augen glitzerten: »Ich würde dabei sogar eine Krawatte tragen.«
»Na schön, das kann ich mir nicht entgehen lassen!« Ich packte ihn am Nacken und küsste ihn.