18.

»Friedrich Ahrend ist Lehrer am Ottilie-Baader-Gymnasium. Geschichte, Französisch und Sport«, informierte mich Danner, während er seine Schrottschüssel vor einem schicken Einfamilienhaus einparkte. »Er ist seit achtzehn Jahren verheiratet. Eva war das älteste von vier Kindern. Die beiden Brüder sind dreizehn und elf, die Schwester ist sieben. An dem Nachmittag, als Eva gestorben ist, hatte Ahrend Sport. Eva sollte auf ihn warten, um mit ihm gemeinsam nach Hause zu fahren. Um fünf, nach dem Unterricht, hat er geduscht und ist dann von der Sporthalle zum Schulhof hinübergegangen. Das hat höchstens eine Viertelstunde gedauert, aber da war sie schon gesprungen. Er hat sie selbst gefunden.«

Scheiße.

»Susanne Lehnert hatte zur gleichen Zeit Sportunterricht«, fuhr Danner fort. »Man kann die Halle mit einem Vorhang teilen. Sie hat das Gebäude mit ihm zusammen verlassen. Sie war dabei, als er Eva auf dem Schulhof gefunden hat. Sein Alibi ist also ziemlich dicht. Im Übrigen finde ich auch kein Motiv, ich wüsste nicht, warum er seine Tochter hätte umbringen sollen.«

»Du hast sein Alibi überprüft?«

Danner stellte den Motor aus.

»Detektivregel Nummer eins: Alle Alibis werden überprüft und die der Familie immer zuerst!«

Er stieg aus und ich folgte ihm.

Ich musste die Autotür drei Mal zuknallen, bevor sie geschlossen blieb.

»Kennt er dich? Hast du schon mal mit ihm gesprochen?«

Danner nickte. »Lenny kennt ihn schon ewig, weil Eva und Lena so dicke Freundinnen waren.«

Wir durchquerten einen großen Vorgarten, in dem an einem Teich die marmorne Statue eines nackten Griechen stand.

Uff. Na ja, Geschichtslehrer eben.

»Seine Frau hatte nach Evas Tod einen Nervenzusammenbruch«, erklärte mir Danner weiter. »Bisher war sie nicht vernehmungsfähig. Aber auch sie hat ein Alibi: Sie hat mit Evas beiden kleineren Geschwistern Hausaufgaben gemacht. Der ältere Sohn war beim Golfen – unter Zeugen.«

Offensichtlich hatte Danner alle Fakten im Kopf.

Er drückte die Klingel und ein viertöniger Gong kündigte unseren Besuch an.

Der Mann, der uns öffnete, füllte die Tür aus. Sein grauer Bürstenhaarschnitt berührte den oberen Balken des Rahmens, seine Schultern erreichten beinahe die Seiten.

»Herr Danner!?« Mit fragender Miene gab er Danner die Hand.

»Guten Tag, Herr Ahrend. Das ist meine Mitarbeiterin, Lila Ziegler«, stellte Danner mich vor und Ahrend begrüßte auch mich. Sein Handgriff war prüfend, seine grünlichen Augen wachsam.

»Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«

»Natürlich.«

Der Lehrer gab den Durchgang frei.

Ich musterte erstaunt seinen Rücken.

Von vorn wirkte Ahrend wie ein normaler Mittfünfziger: Graue Haare, viele Falten um Augen und Mundwinkel herum, Ansatz zum Bauch. Von hinten hatte er das Kreuz eines Leistungsschwimmers: Die breiten Schultern liefen V-förmig zu einem schmalen Becken zusammen, sein Gang war federnd, seine Haltung auffällig aufrecht.

Er war Sportlehrer, erinnerte ich mich, und bestimmt keiner von der Sorte, die nur mit einer Trillerpfeife in der Mitte der Halle stand. Der konnte auch selbst was.

Ahrend führte uns in ein geräumiges Wohnzimmer.

Eine Sekunde lang erinnerte es mich an das Wohnzimmer meiner Eltern. Das lag an dem schwarzen Ledersofa, das aussah, als hätte noch nie jemand darauf gesessen, und an dem blank polierten Flügel vor der gläsernen Terrassentür.

Vor einer Durchreiche zur Küche stand ein Esstisch. Daran saß ein dünner Mann mit einer sehr schlechten Haltung, einem blonden Haarkranz um eine spiegelnde Glatze und einer dünnen Brille auf der schnabelähnlichen Nase. Vor dem Mann standen zwei leere Gläser und eine Flasche Whisky. Glenfiddich, der fünfzehn Jahre alte in der goldenen Flasche, den auch mein Vater bevorzugte.

»Mein Freund, Dr. Johannes Darmierzel«, stellte Ahrend den Fremden vor. »Er behandelt meine Frau. Johannes, das ist Herr Danner, der Detektiv, von dem ich dir erzählt habe, und seine Mitarbeiterin Frau –?«

»Ziegler«, half ich weiter.

Der Dünne nickte uns zu.

»Geht es Ihrer Frau besser?«, erkundigte sich Danner.

Ahrend schüttelte den Kopf. Im Tageslicht des Wohnzimmers wirkte sein Gesicht plötzlich grau. »Sie ist seit Tagen nicht aufgestanden und sie isst nur, was ich ihr in den Mund stecke«, berichtete er müde.

»Sie befindet sich noch immer in einer depressiven Krise«, sprach der Arzt für ihn weiter und sank noch etwas mehr in sich zusammen, so als stünde seine eigene Depression kurz bevor. »Wenn sich ihr Zustand nicht ändert, werden wir sie in stationäre psychiatrische Behandlung geben müssen.«

»Nein! Das haben wir bereits besprochen, Johannes!« Für einen Augenblick war Ahrends müde Stimme lauter geworden. Sie hatte einen Unterton, der an einen entfernten Donner erinnerte. Ich ahnte plötzlich, dass der Mann sich auch in einer Schwimmhalle, in der das Wasser gegen den Beckenrand klatschte, der Überfluss rauschte und die Schüler durcheinanderkreischten, verständlich machen konnte.

»Das ist das Letzte, was ihr hilft!« Schon bekam Ahrends Stimme wieder Risse, wurde brüchig und begann zu bröckeln. »Hier kann ich mich um sie kümmern, hier hat sie die Kinder, die vertraute Umgebung. Wir schaffen das, alle zusammen. Wir schaffen das.« Er wiederholte die Worte wie ein magisches Mantra.

»Und was machst du, wenn du wieder in die Schule gehst?«, versuchte Darmierzel es noch mal vorsichtig. »Du kannst nicht ewig zu Hause bleiben, Friedrich!«

Für einen Moment fiel Ahrends große Gestalt zusammen.

»Leidet Ihre Frau schon länger unter Depressionen, Herr Ahrend?«, mischte sich Danner ein.

Ahrend richtete sich wieder auf: »Wieso ist das wichtig?«

Hatte man ihm das nicht gesagt? Hatte die Polizei ihn noch nicht nach den Medikamenten gefragt?

»Man hat die Wirkstoffe mehrerer Medikamente im Blut Ihrer Tochter gefunden«, klärte Danner ihn auf.

»Medikamente?« Ahrend sah Danner verständnislos an. »Eva hatte eine Woche vor – bevor es passiert ist, eine Grippe. Sie war krankgeschrieben und hat Antibiotika genommen, das habe ich doch alles schon gesagt!«

»Aber im Blut hatte sie Beruhigungsmittel und Antidepressiva«, erklärte Danner ruhig. »Und zwar in so hoher Dosis, dass die Polizei eine Abhängigkeit in Betracht zieht.«

»Was?«, brauste Ahrend auf. »So ein Quatsch! Eva war Leistungssportlerin! Sie wusste genau, dass sie nicht einfach irgendeinen Mist nehmen konnte! Und ihr Blut ist bei den Meisterschaften im Juli noch auf Doping kontrolliert worden!«

Das schloss eine längere Abhängigkeit ziemlich sicher aus.

»Hat die Polizei Sie noch nicht auf die Medikamente angesprochen?«, erkundigte sich Danner.

»Herr Ahrend war letzte Woche ebenfalls nicht vernehmungsfähig«, antwortete Darmierzel für ihn.

Ahrend stützte den Kopf in die Hände und raufte sich die Haare. »Das kann doch alles nicht sein!«

»Können Sie uns die Namen der Medikamente Ihrer Frau nennen?« Danner stellte die Frage dem Lehrer und dem Arzt gleichzeitig.

»Tofranil und Saroten, das sind beruhigend wirkende, trizyklische Antidepressiva«, erläuterte Darmierzel.

Die Namen aus dem Autopsiebericht.

»Und die hatten Sie vor Evas Tod bereits im Haus?«

Ahrend nickte: »Christa nimmt das Zeug seit Jahren. Natürlich wissen die Kinder davon, sie sind ja keine Dreijährigen mehr. Sie glauben doch nicht, dass Eva Christas Medikamente genommen hat?«

»Ich gehe davon aus«, bejahte Danner unbarmherzig.

Der riesige, breitschultrige Mann erinnerte plötzlich an ein Kind, das darauf wartete, dass man ihm sagte, alles würde wieder gut werden. »Wieso sollte sie das getan haben?«

Um sich umzubringen!, dachte ich, sagte es aber nicht laut, denn offensichtlich wollte Ahrend es nicht hören. Für mich sah das alles eindeutig nach einem Selbstmord aus. Erst hatte Eva es mit Medikamenten probiert, und als das nicht klappte, war sie aus dem Fenster gesprungen. Das war nur konsequent.

Niemand sprach weiter. Die Stille füllte den Raum wie ein lang anhaltender Schrei. Der Flügel am Fenster schien eine polierte Erinnerung an alles, was nie wieder zu hören sein würde.

Schließlich stand Ahrend auf und ging zu einem antik wirkenden Sekretär, der unter dem Fenster stand. Er holte ein Foto hervor und reichte es Danner. »Das hier habe ich in Evas Schreibtisch gefunden. Ich habe keine Ahnung, wo es herkommt und ob Sie was damit anfangen können.«

Ich sah Danner über die Schulter.

Das Foto zeigte Eva Ahrends Schneewittchengesicht, unverwechselbar. Sie war von schräg hinten aufgenommen worden und warf der Kamera über die Schulter einen frechen Blick zu. Ihre dunkle Mähne fiel wild toupiert über ihren Rücken, der bis auf die dünnen Schnüre ihres schwarzen Bikinis nackt war.

Das Bild war nicht ohne.

»Hat Eva einen Freund gehabt?«, fragte ich sofort.

»Nein.«

Ahrend füllte die beiden Gläser mit Whisky auf.

»Noch nie? Sie hat nie einen Namen erwähnt? Ist nie ins Kino abgeholt worden?«

»Sie hatte keine Zeit fürs Kino. Die Schule, das Schwimmtraining und die Wettkämpfe gingen vor – sie war deutsche Meisterin, wissen Sie das? Wenn sie am Wochenende ausgegangen ist, dann mit ihren Freundinnen. Sie hatte noch nie einen festen Freund.«

O sicher. Und ihr nicht intaktes Hymen war ein Geburtsfehler.

»Ich würde gern mit Ihrer Frau sprechen, Herr Ahrend«, bemerkte Danner.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er das wagte. Ich sah, wie Ahrends Haltung gerader wurde. Seine Schultermuskulatur spannte sich, sodass seine Statur noch breiter wirkte. An seiner linken Schläfe schwoll eine bläuliche Ader an.

»Vergessen Sie das, Danner! Meine Frau ist nicht umsonst nicht vernehmungsfähig. Sie verkraftet Fragen über Eva nicht. Johannes, sag doch auch was!«

Darmierzel sprang auf wie ein Kadett, der vom Spieß beim Nickerchen erwischt worden war: »Das kann ich auf keinen Fall gestatten! In ihrem derzeitigen Zustand kann jede Aufregung einen neuen Zusammenbruch auslösen.«

Danner schwieg einen Moment. »Gut«, sagte er dann. »Meine Nummer haben Sie, rufen Sie mich an, wenn es ihr besser geht.«

Als ich wieder neben Danner in der Schrottschüssel saß, zog ich Evas Foto aus seiner Jackentasche: »Was hältst du davon?«

Danner warf einen Seitenblick auf das Bild, während er den Wagen lenkte. »Profiaufnahme, optimaler Winkel, geile Belichtung. Digital, aber Spiegelreflex, würde ich sagen. Zu Hause kriegst du das nicht hin, das hat einer im Studio gemacht.«

Aha.

»Wir sollten rausfinden, mit wem Eva geschlafen hat«, überlegte ich laut.

»Das wäre hilfreich«, stimmte mir Danner zu.

»Und das würde es einfach machen, hm? Pubertierender Teenager stürzt sich wegen Liebeskummer aus dem Fenster.«

»Gefällt dir nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber die Bullen würden es bestimmt lieben. Ab ins Archiv mit der Akte.«

»Verdammt!« Danner schlug wütend aufs Lenkrad. »Pubertät ist kein Selbstmordmotiv! Millionen Teenager überleben das – und die meisten haben jahrelang Liebeskummer, oder nicht?« Er sah mich an, als wollte er meine Meinung dazu hören.

Ich zuckte die Schultern.

Mich durfte er nach so was nicht fragen.