10.

Die meisten Gäste waren bereits gegangen, als um kurz nach zehn ein Mann in einem knielangen, dunklen Mantel Molles Kneipe betrat.

Danner erhob sich und setzte sich gemeinsam mit dem Fremden, der dann wohl Staschek sein musste, ans Fenster.

Ich blieb hinter der BILD hocken und betrachtete den Mann neugierig über den Rand der Zeitung hinweg.

Er war etwas älter als Danner, vielleicht Mitte vierzig – dafür war er nach wie vor im Besitz seiner Haare. Tatsächlich sah er so aus, wie seine Stimme klang: ausgesprochen attraktiv. Groß, schlank, mit vielleicht etwas zu langen Armen und Beinen, die ihm den jungenhaften Charme eines zu schnell gewachsenen Teenagers verliehen. Sein Haar war kastanienbraun, leicht gewellt und es glänzte, als würde er täglich mehrere Aufbaupräparate anwenden.

Prüfend ließ er seinen Blick durch den Raum wandern und bemerkte beinahe sofort, dass ich ihn beobachtete.

Er zwinkerte mir zu.

Ich stand auf und ging zu ihm hinüber.

»Kann ich Ihnen was bringen?«, fragte ich und tat so, als würde ich Danners eisigen Blick nicht bemerken.

»’n Hefe«, nickte Staschek.

»Für mich noch ’n Bier«, knurrte Danner und meinte wohl eigentlich: Verpiss dich!

Ich schlenderte davon.

Diese bescheuerte Regel, nicht mit Klienten zu sprechen, fing an, mich zu nerven.

Danner und Staschek unterhielten sich leise, während Molle das Bier zapfte. Als ich den beiden die Gläser hinstellte, verstummten sie wieder.

Wichtigtuer!

»Warten Sie, ich zahle gleich«, hielt Staschek mich zurück, als ich mit dem leeren Tablett wieder verschwinden wollte.

Danner pfiff die Melodie von Wunder gibt es immer wieder vor sich hin und verschränkte die Arme.

»Macht drei fuffzig!«

Staschek zückte seine Brieftasche und hielt mir zehn Euro hin. »Der Rest ist für Sie, Fräulein …?«

»Cassandra. Danke schön.«

Danner verzog keine Miene.

Staschek zwinkerte mir mit strahlend schönen, kastanienfarbenen Augen zu und ich lächelte genauso strahlend zurück.

»Na, wenigstens hat Molle nicht wieder so ein Nilpferd eingestellt«, hörte ich ihn zu Danner sagen und vermutete, dass ich es auch hören sollte.

»Wenn du über den Tresen wischst, kann ich schon mal die Küche machen«, meinte Molle, als ich neben ihn trat. Mit dem Kopf deutete er auf Danner und Staschek: »Die beiden können nachher selbst spülen.«

Ich nickte. Von der Theke aus hatte ich wunderbare Sicht auf Danners Tisch. Die beiden Männer besprachen etwas mit ernsten Mienen, doch obwohl es in der Kneipe jetzt ruhig war, verstand ich dummerweise kein Wort.

Auf einmal nickte Danner und schob Staschek ein durchsichtiges Plastiktütchen über den Tisch.

Ich erstarrte vor Schreck, der nasse Schwamm fiel mir aus der Hand und landete klatschend auf dem Boden. Hastig hob ich ihn auf und beobachtete, wie Staschek die Tüte prüfend schüttelte. Der Inhalt war pulverförmig und weiß.

Mit Sicherheit lieh der sich kein Waschpulver aus!

Er steckte die Tüte ein.

Scheiße!

Nun zog Staschek einen Umschlag aus seiner Manteltasche und hielt ihn Danner hin.

Das war ja wie in einem Vorabendkrimi im ZDF!

Die dealten.

In einer Kneipe.

Direkt am Fenster!

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich musste hier weg! Ein billiger Schlafplatz war ja ganz schön, aber bitte nicht auf dem Sofa eines Drogendealers!

Schnell wischte ich den Rest der Theke ab.

»Hier ist alles fertig, Molle!«, rief ich in die Küche.

»Morgen zeige ich dir, wie du zapfst!«, kam die Antwort.

Daran glaubte ich nicht. »Schön, bis dann«, verabschiedete ich mich trotzdem und schlenderte zur Tür.

Für einen Augenblick glaubte ich, Danners Blick auf meinem Rücken zu spüren. Ich widerstand dem Drang, mich umzusehen, um festzustellen, ob ich recht hatte.

Kaum war ich im Treppenhaus, rannte ich los.

Schlüssel, wo hatte ich den Schlüssel?

Ich zerrte ihn aus meiner Hosentasche. Es dauerte einige Sekunden, bis ich das Schloss traf!

Drogendealer! Mist!

Wieso hatte ich das nicht gleich gemerkt?

Ich schnappte meinen Rucksack, riss meine Wäsche von der Leine im Bad und stopfte sie achtlos hinein.

Der BH auf dem Wannenrand!

Schuhe?

Socken?

Der Reißverschluss hakte, ich zerrte ihn ungeduldig zu.

Wo war meine Jacke?

Hatte ich alles?

Ich sah mich noch einmal im Wohnzimmer um.

Nichts wie weg!

Ich riss die Wohnungstür auf.

Danner stand vor mir. Sofort heftete sich sein Blick auf meinen Rucksack.

Was jetzt?

Hatte ich eine Chance gegen einen Kerl, dessen Bizeps den Umfang meines Oberschenkels hatte?

Ich würde es zumindest versuchen!

»Gute Nachrichten: Du bist mich los«, erklärte ich kalt und ging entschlossen auf ihn zu.

»Wie bitte?«

»Schönes Leben noch!« Hastig drängelte ich mich an ihm vorbei.

»Moment mal! Nicht so schnell!«

Ich stand schon zwei Stufen unter ihm auf der Treppe, als ich seinen Griff am Arm spürte.

Ich packte seine Hand, stemmte meine Schulter gegen seine Brust und versuchte, ihn mit seinem eigenen Schwung von den Füßen zu hebeln.

Weil ich tiefer stand als er, war ich im Vorteil und brachte ihn tatsächlich aus dem Gleichgewicht.

»Bist du bescheuert?«, fluchte er laut und stützte sich mit dem Ellenbogen an der Wand ab. Seine Reaktion war genauso schnell wie meine erfolgt und verhinderte seinen Sturz in letzter Sekunde.

Verdammt!

Immer noch spürte ich schmerzhaft seinen Griff, spürte, wie sich meine Schulter verdrehte. Abwehrend riss ich die freie Hand hoch.

»Was …?« Danner hielt inne. »Wie zum Teufel kommst du darauf, dass ich dir eine ballern könnte?«

Ich starrte ihn feindselig an. Mein Herz schlug Saltos.

»Und was war das gerade? Judo?«

Karate. Aber das hatte mir ja nichts genutzt! Deshalb würde er, wenn er es noch mal wagte, mich anzufassen, einen stinknormalen Tritt in die Eier bekommen.

Er ließ mich los.

»So billig kommst du nicht weg!«, bestimmte er. »Erst will ich wissen, womit ich dieses unerwartete Glück verdiene. Ich schlage vor, wir besprechen das drinnen.« Er deutete mit dem Kopf auf die Wohnungstür.

»Hast du sie umgebracht, du Spinner?«, hörte ich da Molles Stimme unten im Treppenhaus.

Das war meine Rettung. Schrei, so laut du kannst!, riet mir meine innere Stimme.

Danner wartete.

»Nein, ich lebe noch!«, antwortete ich Molle nach kurzem Zögern. Immerhin hatte mir Danner bisher nichts getan und ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass mich meine Menschenkenntnis derartig im Stich gelassen haben sollte, denn sie war das Einzige, worauf ich mich je hatte verlassen können.

»Dann ist ja gut!« Ich hörte, wie Molle in seiner eigenen Wohnung verschwand.

Danner ließ mir den Vortritt und schloss die Tür hinter uns.

Ich spürte, wie sich in mir jede einzelne Muskelfaser anspannte. Er würde die Kette vorlegen und ich saß in der Falle!

Ich starrte auf die Sicherheitskette, als könnte ich sie mittels Telekinese daran hindern, die Tür zu verschließen.

Und – o Wunder – es funktionierte!

Danner hatte meinen Blick bemerkt. Er ließ die Kette baumeln, trat langsam vom Ausgang zurück und ging zum Sofa hinüber.

»Wieso wundert es mich, dass du ganz freiwillig ausziehst, nachdem du dich hier mühsam reingeschnorrt hast?« Er ließ sich auf das Polster plumpsen und verschränkte die Arme.

Ich biss mir auf die Lippen. Ich könnte an der Tür sein, bevor er aufgestanden wäre.

Andererseits wollte ich wissen, ob er wirklich war, was ich nicht glauben konnte! Doch wenn ich ihm sagte, was ich gesehen hatte, musste er mich dann nicht zum Schweigen bringen?

So unauffällig wie möglich ging ich rückwärts.

»Du hast Staschek Drogen gegeben«, stellte ich trotzig fest, als ich die Tür im Rücken spürte.

»Korrekt.«

Verblüfft sah ich ihn an. »Da hab ich keinen Bock drauf!«, stellte ich klar. »Ich schnorr mich nicht so gerne bei Schwerverbrechern durch.«

»Auch noch wählerisch, hm?«, spottete er. »Und weil du uns beobachtet hast, dachtest du, du kriegst von mir eine aufs Maul?«

»Sicher«, log ich.

Danner nickte. Er zog den Umschlag, den Staschek ihm im Tausch für die Drogen gegeben hatte, aus der hinteren Tasche seiner Jeans, öffnete das Kuvert und schüttete den Inhalt auf den Couchtisch.

Fotos verteilten sich auf der Tischplatte.

Darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Ich versuchte es trotzdem: »Staschek bezahlt den Stoff mit Fotos? Erpresst er dich, oder so?«

»Himmel! Bevor Staschek mich bezahlt, wachsen mir Haare«, klärte mich Danner ungeduldig auf. »Ich ermittle an einer Schule und das Koks habe ich in der großen Pause aus dem Verkehr gezogen. Staschek entsorgt es für mich.«

»Entsorgt es?«

»Er ist ein Bulle. Kriminalhauptkommissar. Bist du jetzt zufrieden?«

Ich glaubte, den Stein, der mir vom Herzen fiel, bis ins Erdgeschoss hinunterpoltern zu hören.

Ich hatte es gewusst, ich hatte mich nicht geirrt!

Danner war kein Dealer!

Gott sei Dank!

Ich hätte ihm um den Hals fallen können vor Erleichterung. Stattdessen machte ich zwei Schritte auf das Sofa zu: »Wenn Staschek ein Bulle ist, wieso soll ich dann nicht mit ihm reden?«

»Er könnte auf dumme Gedanken kommen, wenn er dich sieht.«

»Weil er ein bisschen mit mir flirtet? Mann, der Typ könnte mein Vater sein!«

Danner grinste: »Ich hab seiner Frau versprochen, ihm in den Arsch zu treten, wenn er kleine Mädchen anmacht.«

Ich setzte mich auf die Armlehne des Sessels.

»Nein, im Ernst. Ich habe bei dem Fall Probleme, an die Kids ranzukommen. Und ich wette, wenn Staschek dich kennenlernt, kommt er auf die Idee, dich ein bisschen in der Schule rumschnüffeln zu lassen.«

»Wirklich?«

»Wenn nicht, kriegst du das Bett und ich schlaf auf der Couch – sagen wir, einen Monat lang! Was ist?«

Er hielt mir die Hand hin und ich schlug ein.

»Heißt das, du ziehst nicht aus?«, schlussfolgerte Danner messerscharf.

»Heute nicht.«

»Ich könnte kotzen.«

Zum ersten Mal hatte ich den Verdacht, dass er es vielleicht nicht ernst meinte.