41.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
Erschrocken fuhren wir auseinander.
Lena stand in der Wohnungstür, die ich nicht geschlossen hatte. Sie trug eine grüne Mütze und einen passenden Schal und um ihren Hals baumelte eine handliche Digitalkamera. Ich konnte mir nicht erklären, was sie hier wollte. Wie lange hatte sie uns schon beobachtet?
»Könnt ihr mir sagen, was ihr hier gerade macht?« Ihr Tonfall war eisig.
Verzweifelt suchte ich nach dem Ausweg, den es nicht gab.
»Was tust du hier?«, fragte Danner sie.
»Das Gleiche wie du, schätze ich.«
Ich blinzelte, als ich begriff, was das bedeutete.
Sie hatte mich verarscht!
Sie hatte uns alle verarscht!
Von wegen naives Girlie!
»Du hast Dittmer nachgeschnüffelt? Die ganze Zeit schon? Deshalb hast du die Fotos machen lassen?«, stammelte ich.
Lena dachte nicht daran, mir zu antworten. »Was du hier machst, will ich wissen«, fuhr sie mich an und kam auf mich zu.
Mein Spiel war aus. Ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich die Rolle nicht ewig durchhalten konnte. Irgendwann wäre ich nicht mehr zur Schule gegangen, spätestens dann wäre ich aufgeflogen.
Doch Lena hatte mich in einem Augenblick erwischt, in dem ich nicht damit gerechnet hatte.
»Ich arbeite für ihn«, murmelte ich undeutlich.
Aber Lena hatte mich trotzdem verstanden und taumelte zurück.
Ich konnte zusehen, wie unsere Freundschaft Risse bekam, wie Stücke abbrachen, zu Boden fielen und auf Dittmers grünem Teppich zerplatzten.
»Du arbeitest für ihn? Das heißt, du arbeitest für meinen Vater!« Ihre Kastanienaugen sprühten Funken vor Wut. »Na toll! Hast du ihm die ganze Zeit einen sauber getippten Bericht abgeliefert?«
Ich sah auf meine Turnschuhe hinunter.
»Hat er sich denn gefreut zu erfahren, wann ich das erste Mal Sex hatte?« Eine Sekunde hielt sie inne. »Und die Sache mit deiner toten Freundin?«
Erschrocken sah ich sie an, aber sie hatte bereits begriffen. Ich schloss die Augen, um ihr Gesicht nicht sehen zu müssen.
»Du verlogene Schlampe!«, schrie sie erbost. »Wag bloß nie wieder, mit mir zu sprechen!«
Sie wirbelte herum und stürmte hinaus.
Die plötzliche Stille im Raum hallte unerträglich laut in meinen Ohren wider.
Danner schloss die Wohnungstür hinter Lena. Dann zog er eine gehäkelte Decke vom Couchtisch, goss Mineralwasser aus einer Flasche darüber und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
Ich griff mir an die Stirn.
Das war er gewesen, der Moment, vor dem ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Ich hatte gehofft, dass das durch irgendein Wunder nicht passieren würde. Denn ich hatte mich daran gewöhnt, so zu tun, als ob ich Freundinnen hätte. Es hatte mir gefallen, mich völlig normal zu fühlen. Verdammt, ich hatte Lena mehr über mich erzählt als irgendeinem anderen Menschen!
Bis auf Danner vielleicht.
Ich ließ mich aufs Sofa sinken.
Danner wandte sich Dittmer zu.
»Fangen wir noch mal von vorn an«, sagte er zu dem Lehrer, während er sich die Häkeldecke an die Schläfe presste. »Du hast Schülerinnen fotografiert, richtig?«
Dittmer nickte, ohne Danner anzusehen.
»Wie lange schon?«
Der Lehrer schwieg.
Danner zog sein Handy und rief Staschek an.
»In einer halben Stunde sitzt du in U-Haft«, stellte er fest, nachdem er wieder aufgelegt hatte. »Morgen weiß die ganze Schule von deinem Hobby. Und wenn du nicht sofort dein Maul aufmachst, zeige ich dich wegen versuchten Mordes an.«
Dittmers graues Gesicht wurde noch blasser. Er wollte etwas sagen, doch sein Atem reichte nicht aus. Er hustete.
Endlich krächzte er: »Seit ich die Schülerzeitung mache.«
»Geht es ein bisschen genauer?«
»Acht Jahre? Seit Claudia Schiffer sind alle ganz wild auf diesen Modelkram.«
Acht Jahre?
»Und Eva Ahrend?«
Dittmer flüsterte wieder: »Sie wollte weg. Eigentlich wollte sie als Schwimmerin nach München, aber ihre Leistungen ließen in letzter Zeit nach. Da hat sie plötzlich zugehört, als ich sagte, sie hätte auch als Model gute Chancen.«
»Du hast sie im Keller der Schule getroffen?«
Ich fragte mich, wie Danner so ruhig bleiben konnte.
Dittmer nickte.
»Allein?«
Wieder Nicken.
»Du hast die Tür zugemacht, damit euch niemand stören konnte, nicht wahr?«
Dittmer starrte auf den Teppichboden.
»Und weil die Gelegenheit günstig war, hast du sie vergewaltigt!«
Plötzlich wurde Dittmers Blick wach. »Das ist nicht wahr!«, protestierte er heftig. Er versuchte, auf die Knie zu kommen, was mit auf den Rücken gebundenen Händen nicht einfach war. »Ich hab ihr nie was getan, keinem der Mädchen!«
»Du hast sie betatscht!«
»Sie haben sich nie beschwert.«
Ich schnappte nach Luft.
Mit einem einzigen Griff hatte Danner Dittmer am Kragen hochgerissen und schleuderte ihn gegen die Wand. »Wag nicht zu behaupten, dass es ihnen gefallen hätte!«
Durch den groben Stoß versagte dem Lehrer erneut die Atmung, er sackte röchelnd zu Boden.
Danner ließ ihn liegen und ging hinüber zu dem schweren Schreibtisch unter dem Fenster. Mit einem Taschentuch um die Hand gewickelt, öffnete er die Schubladen und sah die Unterlagen in den Fächern durch.
Schwerfällig erhob auch ich mich endlich vom Sofa.
Danner schaltete den PC ein.
Ich trat an das große Regal, in dem die Aktenordner akkurat in einer Reihe standen. Alle waren säuberlich beschriftet. Dittmers Handschrift wirkte irritierend leserlich, beinahe druckschriftartig. Überschriften hatte er mit Lineal zweimal unterstrichen.
Französischklausuren.
Analysen Barocker Malerei.
Abiturthemen Deutsch.
Abiturthemen Kunst.
Vokabeltests und Grammatikarbeiten.
Daneben Bücher und Fotobände unterschiedlichster Künstler. Expressionisten neben den alten Ägyptern, Dürer neben Hundertwasser, Picasso, van Gogh und dieser Typ mit den fließenden Uhren …
»Lila!«
Ich drehte mich um.
Sofort erkannte ich Eva Ahrend auf dem Bildschirm des PCs.
Danner klickte rasch weiter, fand Iefgenia Antonczyk, Sinja Steilen, Lena – die Liste der Dateinamen schien kein Ende zu nehmen.
Ich warf Dittmer einen Blick zu. Er lag auf dem Bauch, die graue Wange in den langen, grünen Flusen des Teppichs, und beobachtete uns.
Danner öffnete den Internetzugang. Auf der Startseite hatte Dittmer seine favorisierten Webseiten gespeichert. Ich holte scharf Luft, als ich die erste Überschrift las.
Danner klickte sofort auf den Link. Teenage bitch hieß die Internetseite, die auf dem Monitor aufflammte. Billigster Porno.
Eine junge Blondine mit geflochtenen Zöpfen saß in Lederstrapsen in einer altmodischen Schulbank, einen Füller zwischen den Lippen und einen dicken Tintenklecks auf ihrem blanken Busen. Mirja ist etwas danebengegangen, las ich unter dem Bild.
»Wenn die Bullen auf deinen Lieblingsseiten surfen, werden sie die Vergewaltigung auch ohne Geständnis schlucken«, zischte Danner Dittmer böse an.
»Ich hab ihr nichts getan«, wiederholte der Lehrer matt. »Wenn ihr irgendwen festnehmen wollt, dann diesen Scheißtürken und seinen Kumpel. Die haben sie aus dem Fenster gestoßen.«
Danner und ich horchten auf.
»Was war das gerade?«
Dittmer schwieg wieder.
Danner packte den Lehrer am Pullunder und zerrte ihn hoch. »Sag das noch mal!«
»Ich hab sie aus dem Raum kommen sehen.«
»Wen?«
»Özer und Seibold.«
»Sie waren im Raum? Im Biologieraum? Als Eva gesprungen ist?«
Dittmer nickte.
»Und warum zum Teufel hast du das nicht früher gesagt?«
»Sie haben mich erpresst.«
»Womit?«
»Sie wussten, dass ich Eva nach der Schule getroffen habe.«
Das klang beunruhigend möglich.
Eva hatte dem schönen Mario bestimmt von den Fotos erzählt. Und Mario hatte bestimmt vor seinen Freunden damit angegeben. Vielleicht hatten sich Orkan und Dominik selbst von Evas Qualitäten im Bett überzeugen wollen? Die beiden konnten sie genauso gut vergewaltigt haben wie Dittmer.
Und damit hätten sie ein Mordmotiv.