47.
Der Krankenwagen brauchte fünf Minuten, der Notarzt sechseinhalb. Staschek schaffte es in sieben. Er starrte mich entsetzt an, während mir ein schmächtiger Rettungsassistent eine Blutdruckmanschette um den Oberarm schnallte. Vier Uniformierte standen ratlos hinter Staschek, weil er sich nicht rührte.
Eine übermüdete junge Ärztin mit kurzem, rotem Haar und Brille drehte vorsichtig meine Hände hin und her und sprach dabei in ein Diktiergerät. Meine Handgelenke hatten sich bereits dunkelblau gefärbt.
»Ich glaube, sie ist okay«, hörte ich Danner behutsam zu Staschek sagen.
»Okay? Hast du gerade okay gesagt?« Stascheks Stimme drohte überzukippen. Sein Blick fiel auf Danners blutverschmierte Arme. »Was zum Teufel war hier los?«
»Als ich reinkam, war Ahrend gerade dabei, Lila zu vergewaltigen.«
»Und du hast –?«
Danner schüttelte den Kopf.
Es dauerte einen Augenblick, bis Staschek mich ansah. Als unsere Blicke sich trafen, wusste ich, dass er begriffen hatte.
Scheiße, ja, ich hatte das Arschloch umgebracht! Ich hatte gewusst, wie es ging, ich hatte beschlossen, es zu tun, und dann hatte ich ihn umgebracht!
Ich war eine Mörderin.
Ich musste mich räuspern, bevor ich sprechen konnte.
»Er hat Eva vergewaltigt«, berichtete ich dann. »Eva wollte es Lena erzählen, sie hat ihr einen Brief geschrieben. Aber Jendrick Haberland hat den Brief geklaut, wahrscheinlich kurz vor ihrem Tod. Dann haben Dominik und Orkan Eva aufgelauert und sie ist in Panik aus dem Fenster gesprungen, ohne Lena den Brief gegeben zu haben. Jendrick hatte nichts Besseres zu tun, als Ahrend damit zu erpressen, und der hat ihn aufgehängt. Ich schätze, Ahrend hat Evas Brief gefunden und vernichtet, denn sonst wäre man ja bei der Durchsuchung von Jendricks Zimmer darauf gestoßen. Ahrend hat Jendricks Abschiedsbrief geschrieben, ich habe seine Schrift vorhin auf Franzis Vokabeltest wiedererkannt.«
»Legen Sie sich hin!«, befahl mir die Ärztin. »Sie haben einen Schock. Wir bringen Sie ins Krankenhaus, wir werden noch ein paar Aufnahmen machen, um innere Verletzungen auszuschließen.«
Ich gehorchte widerwillig.
»Dann muss ich wohl versuchen, das alles irgendwie Ahrends Witwe zu erklären«, murmelte Staschek müde.
Ich horchte auf. Natürlich! Ahrends Frau!
Jemand musste sie benachrichtigen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in Tränen ausbrechen würde.
»Ich komme mit!« Ich setzte mich wieder auf.
»Sie kommen ins Krankenhaus«, korrigierte mich die übermüdete Ärztin, griff meine Schulter und hätte mich um ein Haar umgeworfen.
Wütend funkelte ich sie an und sie ließ meine Schulter schnell wieder los.
»Vergiss es, Lila«, pflichtete Staschek ihr bei. »Du gehörst in ein Bett. Hast du überhaupt mitgekriegt, was dir gerade passiert ist?«
»Mein Gott, Lenny, ich lebe noch!«, fuhr ich ihn an und versuchte aufzustehen. »Ben!«
Doch Danner schwieg. An seiner ausdruckslosen Miene erkannte ich, dass er mich ebenfalls nicht mitnehmen wollte.
»Hast du Angst, ich könnte wieder im Weg stehen?«, erkundigte ich mich gereizt.
Er antwortete nicht gleich.
»Du solltest vorher duschen«, sagte er endlich.
Na also!
»Aber …!«, wollte die Ärztin protestieren.
»Haben Sie ihre Verletzungen aufgenommen?«, unterbrach Danner sie.
Sie nickte.
»Gut, Sie werden nämlich eine Aussage machen müssen. Also verschlampen Sie nichts.«
In der Umkleidekabine der Sporthalle stellte ich die Dusche kochend heiß. Ich spülte Ahrends Blut von meinen Armen, meinem Hals, meinen Haaren und sah zu, wie das rötlich verfärbte Wasser über meine nackten Oberschenkel und die grauen Bodenfliesen floss und schließlich im Ausguss verschwand.
Ich trug meine Sportsachen und keine Unterwäsche und auch Danner hatte seine Sportklamotten an, als wir mit Staschek zusammen an der Haustür der Ahrends klingelten.
Uns öffnete der dürre Arzt mit der schlechten Haltung, Ahrends Freund, dieser Dr. Darmierzel. »Ja, bitte?«
Staschek zückte seinen Dienstausweis: »Staschek, Kripo Bochum. Ist Frau Ahrend da?«
Darmierzel schüttelte den Kopf: »Tut mir leid, Frau Ahrend ist nach wie vor nicht vernehmungsfähig.«
»Es geht nicht um eine Vernehmung.«
»Dann haben Sie erst recht keine Befugnis, sie zu sprechen!«
Staschek ballte die Fäuste: »Ich habe noch ganz andere Befugnisse! Wenn Sie uns nicht sofort reinlassen, verhafte ich Frau Ahrend wegen Beihilfe zu verschiedenen Straftaten und lasse sie aufs Revier bringen. Und es ist mir scheißegal, wie sich das auf ihre Vernehmungsfähigkeit auswirkt!«
Nun doch verunsichert, trat Darmierzel zur Seite. »Sie ist oben in ihrem Zimmer.«
Der Arzt folgte uns zur Treppe, doch Danner hielt ihn zurück. »Ich glaube nicht, dass wir Ihre Hilfe brauchen, Doc.«
»Regen Sie sie nicht auf«, warnte Darmierzel. »Rufen Sie mich, wenn sie nervös wirkt! Frau Ahrend neigt zu Wahnvorstellungen, wenn sie die Beruhigungsmittel nicht genommen hat.«
Ich fragte mich, wie viel von dem, was der Dünne als Wahnvorstellungen bezeichnete, wirklich welche waren.
Christa Ahrend saß in ihrem Bett, als wir das Zimmer betraten. Das Kopfende war aufgerichtet.
Ihr schmales, weißes Gesicht verschwand zwischen ihrem struppigen, dunklen Haar und den dicken Federkissen. Im Fernseher auf dem Tischchen neben dem Fußende lief irgendeine Nachmittagstalkshow. Der Ton war zu laut und Christa Ahrend starrte auf den Bildschirm, ohne wirklich hinzusehen.
Danner schaltete den Fernseher aus.
Sie starrte weiter.
»Frau Ahrend?« Staschek nahm ihre Hand, wohl nicht so sehr, um sie zur Begrüßung zu schütteln, sondern eher, um sich überhaupt bemerkbar zu machen. Ich registrierte, dass sich ihre Schulter ein wenig nach oben bewegte, obwohl die dünnen Finger der Frau wie leblos in Stascheks Hand lagen.
»Es ist etwas passiert. Ihr Arzt sagt, Sie dürfen sich nicht aufregen, aber so eine Nachricht kann man nicht vorsichtig überbringen.«
Er beobachtete die Frau scharf, doch sie blickte weiter auf den nun dunklen Bildschirm.
»Ihr Mann ist tot.«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich unmerklich. Ihre Augen wurden ein wenig größer.
Sie hatte Staschek genau gehört.
»Haben Sie mich verstanden?«, fragte Staschek vorsichtig nach.
Danner stellte sich vor den Fernseher. Die Frau sah durch ihn hindurch.
»Ihr Mann hat versucht, ein Mädchen zu vergewaltigen, Frau Ahrend!«, sagte Danner scharf.
Ich zuckte genauso zusammen wie Christa Ahrend.
»Das Mädchen hat ihn getötet!«
Ganz kurz sah sie Danner an.
Doch sie hatte sich verraten!
»Lila konnte sich wehren. Ihre Tochter konnte es nicht!«, wurde Danner zornig laut.
Die blauen Augen von Evas Mutter füllten sich mit Tränen.
»Sie schlucken Antidepressiva wie Bonbons! Sie wussten ganz genau, was mit Ihrem Mann los war!«
Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann über ihre eingefallene Wange. Ihre Finger krallten sich in die blütenweiße Bettdecke.
Ich trat an ihr Bett und legte meine Hand auf ihre. Sie war eiskalt.
»Hat er Ihnen das auch angetan?« Bei meinen Worten begann ihr Blick vor Angst zu flackern. »Er kann Ihnen nichts mehr tun. Hat er Sie auch vergewaltigt?«
Sie nickte und schluchzte tonlos.
Staschek und Danner blieben stumm.
»Schon lange?«, fragte ich heiser.
Sie nickte wieder und verbarg das Gesicht in den bebenden Händen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was es bedeutete, einen Mann zu heiraten und dann festzustellen, dass er ein brutaler Tyrann war. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es bedeutete, von seinem Ehemann vergewaltigt zu werden, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie verzweifelt, einsam und ausgeliefert man sich fühlen musste, um es jahrelang hinzunehmen.
Und ich war verdammt froh, dass ich es mir nicht vorstellen konnte!
Christa Ahrend entzog mir ihre eiskalten, knochigen Finger. Noch immer liefen ihr Tränen über das Gesicht. Unendlich langsam richtete sie sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Ihre dünnen Beine hingen schlaff herunter. Mit zitternden Händen zerrte sie das dicke Kopfkissen zur Seite.
Sie zog das Laken von der Matratze.
Dünne Papierstapel kamen zum Vorschein. Lose Zettel und ein paar Briefumschläge.
Briefe!
Mein Rücken versteifte sich.
Briefe!
Weinend drückte mir Evas Mutter die Zettel in die Hand.
»Was ist das?«, fragte Danner.
»Das sind Evas Briefe«, antwortete ich.
»Evas was?«
»Evas Briefe an Lena.«
Christa Ahrend nickte.
»Sie haben sie gefunden?«
Sie nickte noch mal.
Ich legte den Stapel auf den Nachtschrank und nahm den erstbesten losen Zettel in die Hand.
Danner und Staschek traten hinter mich, um mir über die Schultern sehen zu können.
Eva Ahrends Schrift war genauso perfekt wie alles andere an ihr, gleichmäßig, die Zeilen wie mit dem Lineal gezogen, obwohl das Papier keine Linien hatte. Die schwungvollen Buchstaben flossen ineinander, sie hatte die Wörter geschrieben, ohne abzusetzen. Liebe Lena, stand da,
ich schreibe diesen Brief jetzt zum siebten Mal und noch immer habe ich keine Ahnung, wie ich anfangen soll.
Ich weiß nicht, wie ich Dir sagen soll, dass ich Dich, seit wir uns kennen, belogen habe. Jeden Tag, ohne Ausnahme. Du hast mir immer alles erzählt und ich habe Dir immer alles verschwiegen. Selbst jetzt traue ich mich nicht, mit Dir zu sprechen, deshalb schreibe ich Dir noch einmal einen Brief.
Vielleicht ist es der letzte, denn ich muss hier weg, so schnell wie möglich. Doch irgendwie hoffe ich, dass Du mir vielleicht verzeihen kannst und meine Freundin bleibst.
Auch wenn ich Dir erst jetzt die Wahrheit sage: Das Schwimmen konnte ich nie leiden. Ich wäre lieber öfter mit Karo, Franzi und Dir tanzen gegangen. Auch das Lernen ist mir nie so leichtgefallen, wie ich behauptet habe. Ich habe immer so getan, als würden mir die Antworten auf die Fragen der Lehrer einfach so einfallen, dabei habe ich oft bis nach Mitternacht über den Büchern gesessen, um den Stoff der nächsten Stunde zu beherrschen.
Ich habe nie zugegeben, wie sehr ich schuften muss für die guten Noten und die Medaillen.
Aber noch schlimmer ist, dass ich Dir nie gesagt habe, warum ich das mache.
Du hast mir immer alles erzählt. Von jedem Krach mit Deinem Vater, dem Schürzenjäger. Von dem Stress mit Deiner Mutter. Von Deinen bescheuerten Stiefbrüdern und Deinem Liebeskummer.
Ich hätte hundert Gelegenheiten gehabt, alles zuzugeben. Ich war hundert Mal kurz davor. Aber dann habe ich doch immer wieder so getan, als wäre bei mir alles in bester Ordnung.
»Mein Vater ist etwas streng, aber fair, genau, wie ihr ihn aus dem Sportunterricht kennt«, habe ich behauptet.
Deshalb fürchte ich, dass Du mir nicht glaubst, wenn ich Dir erzähle, dass ich mit den guten Noten, den Medaillen und Urkunden meine Geschwister und meine Mutter vor ihm beschützen muss.
Mein Vater ist ein Ungeheuer.
Zu Hause versucht jeder von uns, so unsichtbar wie möglich zu sein, um bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn er etwas sagt, springen wir alle auf und versuchen, es ihm möglichst schnell recht zu machen, damit er nur nicht wütend wird.
Dabei ist es unmöglich, ihn nicht wütend zu machen.
Er nutzt jede Gelegenheit, um uns Angst einzujagen, um uns schlagen zu können.
Ich glaube, es gefällt ihm, meine Mutter und uns Kinder weinen zu sehen.
Irgendeinen blöden kleinen Anlass findet er immer, eine umgeworfene Tasse oder ein schlecht gespieltes Klavierstück reichen aus.
Nur ich kann ihn beruhigen. Alle hoffen immer auf mich! Wenn ich eine Eins, eine neue Bestzeit über 100 m Freistil oder auch nur einen fehlerfreien Vokabeltest mit aus der Schule bringe, bessert sich seine Laune. Wenn ich auch noch behaupte, es wäre mir leichtgefallen, ist er zufrieden und lässt uns alle in Ruhe.
Wenn ich wirklich wage, Dir diesen Brief zu geben, wirst Du die Einzige sein, die davon weiß.
Ich schäme mich, dass ich nie den Mut hatte, Dir alles zu erzählen. Aber ehrlich gesagt, würde ich Dir auch jetzt nicht schreiben, wenn nicht noch etwas Schlimmeres passiert wäre.
Ich habe immer geglaubt, dass es ganz normal ist, wenn die Familie tut, was der Vater sagt. Ich habe es nie anders kennengelernt.
Und wer nicht gehorcht, wird bestraft.
Doch jetzt musste ich erleben, wie weit mein Vater geht, wenn ich nicht gehorche.
Ich wollte nämlich aufhören zu schwimmen.
Ich weiß, auch darüber habe ich nicht mit Dir gesprochen.
Ich hätte es tun sollen.
Du hast bestimmt gemerkt, dass ich nicht mehr so viel trainiere und nicht mehr so viel lerne, seit ich mit Mario zusammen bin.
Und ich habe meinem Vater gesagt, dass ich aufhören will! Ich habe ihn noch nie so ausrasten sehen!
Aber ich hatte auch nie zuvor gewagt, ihm zu widersprechen. Ich dachte, er bringt mich um. Und vielleicht hat er das auch.
»Du willst lieber bumsen als arbeiten, du Flittchen? Ich wusste, dass das kommt, sobald du Titten kriegst! Ihr Scheißweiber seid doch alle gleich!« Das hat er wirklich gesagt.
Und: »Das kannst du haben!«
Ich glaube, es hat ihm Spaß gemacht. Und ich glaube, er wird es wieder tun. Ich schwöre, Lena, es ist wahr, er hat –
Der Zettel in meiner Hand zitterte ein klein wenig.
Da stand es, doch Eva hatte es wieder durchgestrichen. Sie hatte es nicht sehen können, nicht einmal aufgeschrieben:
– mich vergewaltigt!
Ich hatte Ahrend wieder vor Augen, den beißenden Geruch seiner Wut in der Nase. Automatisch presste ich die Knie aneinander, spürte die Blutergüsse an meinen Beinen.
Eva hatte den Brief an dieser Stelle abgebrochen. Und dann wahrscheinlich die achte Version geschrieben.
Danner öffnete einen der Umschläge und faltete das Papier auseinander, Staschek zählte die Briefe.
Insgesamt hatte Eva zwölf Mal versucht, diesen Brief zu schreiben.
Nein, dreizehn Mal!
Den dreizehnten Brief hatte sie Lena geben wollen.
Den dreizehnten Brief hatte Jendrick Haberland aus Evas Schultasche gestohlen.
Wegen des dreizehnten Briefs hatte Ahrend Jendrick umgebracht.
»Seit wann wissen Sie von den Briefen?«, fragte Danner Christa Ahrend.
Ich erstarrte, als mir klar wurde, worauf er hinauswollte.
Doch Danner ließ nicht locker – er ließ ja nie locker, wenn er jemandem die Schlinge um den Hals gelegt hatte: »Seit wann? Schon vor Evas Tod oder erst danach?«
Evas Mutter heulte auf und der Laut klang so gequält, dass mir ein Schauer über den Rücken kroch.
»Schon vorher«, stellte Danner fest. »Und als Sie von Evas Tod erfuhren, haben Sie die Briefe aus ihrem Zimmer geholt und versteckt.«
Sie nickte.
Danner wandte sich ab und ging zum Fenster.
Ich wunderte mich, dass Christa Ahrend mir leidtat. Ich hätte niemals gedacht, dass mir eine Mutter leidtun könnte, die ihre Tochter derart im Stich gelassen hatte.
Eine Sekunde lang ahnte ich, wie ausweglos ihr ihr Leben vorgekommen sein musste.
Wie es vielleicht auch anderen Müttern in ähnlichen Situationen vollkommen ausweglos erschien.
»Ich hole Darmierzel.« Staschek ging zur Tür.
Ich faltete Evas siebten Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.