46.
Ahrend war auf mich zugekommen, stand aber noch immer zwischen mir und der Tür.
Er lächelte, doch sein Lächeln war unecht. Sein abschätzender Blick erinnerte an eine Giftschlange, die die Maus bereits gebissen hatte und nun abwartete, was geschah. Der grimmige Zug um seinen kräftigen Unterkiefer ließ mich frösteln.
Er war ein Mörder.
Ein Mörder, Mörder, Mörder!
Eine andere Erklärung dafür, dass er Jendrick Haberlands Abschiedsbrief geschrieben hatte, gab es nicht.
Ich zwang mich, so fröhlich zu wirken, wie es mit einem mittelschweren Herzinfarkt möglich war. »Ich konnte die Vokabeln nicht, weil ich noch nie Französischunterricht hatte!«, erklärte ich leichthin. »Wie Sie wissen, bin ich nur hier, weil ich für Herrn Danner und Herrn Staschek etwas über den Selbstmord Ihrer Tochter herausfinden soll.«
»Deshalb will ich auch mit dir sprechen.« Ahrend lächelte weiter. »Wie geht es mit den Ermittlungen voran?«
»Gut. Sie haben sicher gehört, dass Ihr Kollege Dittmer festgenommen wurde. Außerdem haben wir zwei weitere Verdächtige.«
Ahrend nickte. »Deshalb wundert mich, dass du noch immer hier bist. Was erhofft ihr euch davon?«
Er ließ mich nicht aus den Augen.
»Oder was wisst ihr bereits?«, bohrte er nach, bevor mir eine Antwort eingefallen war.
Ich wich zurück und er folgte mir sofort.
Ich wusste, dass er einen Mord begangen hatte.
Und er wusste, dass ich es wusste.
Ich war die Einzige, die es wusste!
Er konnte mich nicht entkommen lassen!
Er wollte sein Leben um jeden Preis weiterführen. Dafür ging er über Leichen.
Blitzschnell überschlug ich die Möglichkeiten, die mir blieben: Ahrend war gut einen Kopf größer als ich und doppelt so schwer.
Zur Tür raus ließ er mich nicht und herein konnte niemand, denn die Tür war zugefallen und von außen bekam man sie nur mit diesem verfluchten Schlüssel-Coin auf.
Außerdem war große Pause. Die nächsten fünfzehn Minuten standen alle Unterrichtsräume leer, alle Schüler hatten das Gebäude verlassen, alle Lehrer schlürften Kaffee im Lehrerzimmer.
Selbst wenn Lena Danner holte, brauchte sie mindestens fünf Minuten bis in die Sporthalle hinüber – eher acht, weil sie erst noch drüber nachdenken musste, ob sie mir wirklich einen Gefallen tun wollte. Und Danner brauchte wiederum zwei Minuten für den Weg hierher zurück.
Aber bei Lenas Laune war das sowieso ein Wunschtraum.
Ahrend hatte fünfzehn Minuten Zeit, mich umzubringen!
Ich musste ihn hinhalten.
Also los – direkter Angriff!
»Sie haben Jendrick Haberland umgebracht!« Ich hörte meine eigene Stimme wie ein weit entferntes Echo in meinem Kopf.
Hatte ich das gesagt?
Hatte ich das wirklich gesagt?
Ich sah, wie Ahrends Hals kürzer wurde, weil sich sein Nacken anspannte, wie seine Schultern plötzlich in die Breite wuchsen, weil er in Kampfposition ging.
Automatisch stellte ich einen Fuß nach hinten, den anderen nach vorn, obwohl mein Tritt ihm vermutlich so viel anhaben konnte wie einer der Linden im Schulhof.
Ich tastete in meinen Taschen nach etwas, was als Waffe taugte. Ich fand nur meinen Füller. Weil ich nichts anderes hatte, krampften sich meine Finger darum.
»Warum?«, hakte ich nach, um ihn abzulenken und so auf Abstand zu halten. »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
Er schnaufte verächtlich.
»Kommen Sie, wir sind doch unter uns! Sie sind doch nicht so blöd zu glauben, dass Eva sich wegen Jendrick umgebracht hat?! Sie sind doch dem kleinen Spanner nicht auf den Leim gegangen, oder?«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir!«, schnauzte Ahrend mich an.
»Sie haben ihm wirklich geglaubt?«
»Schwachsinn! Der kleine Scheißer hat versucht, mich zu erpressen.«
Erpressung?
»Womit?«
Ahrends Faust krachte auf den nächsten Tisch.
»Nacktfotos von Eva?«, riet ich drauflos.
»Mit diesem bescheuerten Brief!«, explodierte Ahrend.
Brief?
O Gott!
»Ihr Weiber seid doch dumm wie Stroh, eine wie die andere!«
Konnte es sein, dass –?
Ein Brief! Mir fiel nur eine Person ein, die einen geschrieben haben könnte.
»Eva hat einen Brief geschrieben?!« Ich krächzte, meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Meine Finger umklammerten fester den lächerlichen Federhalter in meiner Tasche.
»Eva hat Lena einen Brief geschrieben? Und damit hat Jendrick Sie erpresst?«
»Er hat ihn aus ihrem Rucksack geklaut!« Ahrends Gesicht war jetzt dunkelrot. An seiner linken Schläfe trat eine bläuliche Ader dick hervor. Seine Augen waren blutunterlaufen.
»Er wollte eine Drei in Sport, lächerlich! Aber die Fünf hätte ihn die Versetzung gekostet.« Er kam näher. »Und jetzt willst du wissen, was in dem Brief stand, nicht wahr? Du willst es wissen, du gibst keine Ruhe! Ihr gebt nie Ruhe, wenn man es euch sagt. Ihr könnt eure Schnauze nicht halten, wenn man sie euch nicht einschlägt. Ihr könnt nicht gehorchen, wenn man es euch nicht beibringt.«
Der Kerl war irre!
Ich wich noch einen Schritt zurück und stieß an die Kante der Fensterbank. Erschrocken blieb ich stehen. Ich riss den Füller aus der Tasche und hielt ihn Ahrend wie ein Messer entgegen.
»Du willst mir drohen?«, schnaubte er verächtlich. »Du wagst es, mir zu drohen, du kleines Miststück?« Blitzschnell packte er meine Hände. »Dir bring ich auch noch Manieren bei!«
Sein Griff umschloss meine Handgelenke wie ein Schraubstock, schien meine Unterarme zu zerquetschen. Er schleuderte mich gegen den nächsten Tisch. Ein heißer Schmerz zuckte durch meinen Rücken, nahm mir den Atem. Einen Augenblick lang sah ich Sterne.
»Mir drohst du nicht, du Flittchen! Ihr Weiber glaubt, ihr könntet euch alles erlauben! Aber auch dir zeige ich, wer das Sagen hat!«
Ahrend drückte mich mit dem Rücken auf den Tisch. Mit der Rechten presste er meine Hände über meinem Kopf auf die Tischplatte. Ich roch den beißenden Schweiß seiner Achsel neben meinem Gesicht. Mit der Linken riss er meine Hose auf.
Das musste ein Albtraum sein! Das konnte nicht wirklich passieren!
»Lass mich los! Lass mich sofort los!«, schrie ich und wollte nach ihm treten. Doch ich konnte meine Beine nicht bewegen. Ahrend lehnte mit seinem vollen Gewicht auf meinen Knien, ich spürte die harte Tischkante schmerzhaft an der Rückseite meiner Oberschenkel.
»Halt die Fresse, du Schlampe!«
»Hast du das zu Eva auch gesagt? Hat sie nicht gehorcht? Hat sie Widerworte gegeben?«
»Hörst du schwer? Halt die Fresse, hab ich gesagt!«
Er riss meinen Slip einfach auseinander, den Griff um meine Hände lockerte er keine Sekunde.
Der tat das nicht zum ersten Mal. Jede Bewegung saß. Der wusste ganz genau, wie man das machte.
Ich schrie, versuchte zu treten, mich loszureißen – keine Chance!
Ich spürte, wie er ein breites, haariges Bein zwischen meine Oberschenkel schob. Mit aller Kraft presste ich die Knie zusammen, jeder meiner Muskeln verkrampfte sich.
Ich konnte es nicht verhindern. Ich hatte nicht genug Kraft, um mich gegen ihn zu wehren.
Lieber Gott! Hilf mir hier raus!
Denn Gott war wohl der Einzige, der mir noch helfen konnte.
Und ich selbst.
Eine Sekunde schien die Zeit stillzustehen.
Wenn er mich vergewaltigte, würde ich überleben. Denn dann war die Pause zu Ende, bevor er mich umgebracht hatte.
Und ich wollte überleben. Tatsächlich!
Einen Sekundenbruchteil lang staunte ich, weil ich wirklich ein Leben hatte, für das sich das Überleben lohnte.
Meine Panik wich eiskalter Wut.
Ich fühlte den stabilen Plastikschaft des Federhalters in meiner Faust, obwohl Ahrend meine Hände so fest hielt, dass sie beinahe taub waren. Ich hörte auf, mich zu wehren, und starrte Ahrend an.
Er hielt inne. »Du traust dich, mir in die Augen zu sehen, du Miststück? Hast du noch nicht genug Angst?«
»Du hast deine eigene Tochter vergewaltigt, du Schwein«, zischte ich. »Hat’s denn Spaß gemacht?«
Purer Hass glänzte in seinen Augen, als er mir sein Knie zwischen die Beine rammte. Hätte er mich nicht festgehalten, hätte ich mich vor Schmerz gekrümmt.
Ich merkte, wie meine Kraft nachließ. Diesen Kampf verlor ich … Er würde mich vergewaltigen.
Wie er Eva vergewaltigt hatte.
Na los, du Dreckskerl, mach schon!
Wenn du fertig bist, bringe ich dich um! Dann ist die Pause zu Ende, irgendjemand wird die Tür aufmachen und genau dann bringe ich dich um!
Ich hatte mir schon hundertmal vorgestellt, wie es war, jemanden zu töten, mir überlegt, wie es klappen konnte. Jedes Mal, wenn mich mein Vater grün und blau geprügelt hatte.
Ich hatte nur den Füller als Waffe, aber das würde reichen. Ich kannte die Stelle, die ich treffen musste, ich hatte oft genug draufgestarrt, bevor mich der Schlag ins Gesicht zur Seite geschleudert hatte.
Ich fühlte Ahrends Glied hart zwischen meinen Beinen.
»Ich bringe dich um«, versprach ich ihm.
Leise klackte das Schloss der Tür.
Ahrend fuhr hoch.
Plötzlich war sein Gewicht von meinen Lungen verschwunden, für eine Sekunde lockerte sich sein Griff. Ich riss meine Hand los und stieß mit aller Kraft zu.
Die scharfkantige Feder meines Füllers rammte sich an der Stelle in Ahrends Körper, an der der Hals in den Nacken überging. Ich wusste, ich hatte getroffen.
Ich hatte den Faszienschlauch durchtrennt, der die lebenswichtigen Gefäße an dieser Stelle schützen sollte, wo sie gefährlich dicht unter der Haut lagen.
Warmes Blut strömte über meine Finger meinen Arm hinunter und ließ den Federhalter glitschig werden. Ohne einen Laut brach Ahrend über mir zusammen, sein schwerer Körper sackte auf mich herab.
Den Federhalter noch immer in die Wunde gepresst, stieß ich Ahrend von mir herunter. Mit einem dumpfen Poltern fiel er neben dem Tisch auf den Boden.
Ich blieb liegen, wie gelähmt. Starrte in das flimmernde Licht der Neonröhren an der Decke.
Meine Arme begannen zu zittern.
Meine Beine auch.
Vorsichtig löste Danner den Federhalter aus meinen verkrampften Fingern.
Jetzt zitterte ich am ganzen Körper, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte.
»Kannst du mich hören?«, fragte Danner, während er an meinem Hals nach meinem Puls suchte.
Ich versuchte zu nicken, aber ich konnte die Bewegung nicht steuern.
»Okay«, sagte Danner trotzdem. »Denkst du, du kannst dich hinsetzen?« Er griff mir unter die Achseln und zog mich hoch.
Mir wurde bewusst, dass ich beinahe nackt war. Ich versuchte, meinen Pulli herunterzuziehen, aber alles klebte von Ahrends Blut. Mit der Hand drückte ich mein Knie auf den Tisch, um es am Beben zu hindern.
Danner packte mich an den Schultern und zog mich an sich, ohne auf das ganze Blut zu achten. Er hielt mich fest und schaukelte mich beruhigend hin und her.
Ich merkte, dass mir die Tränen über die Wangen liefen.
»Hat er –?«, fragte Danner, ohne mich loszulassen.
Ich versuchte, Nein zu sagen, aber meine Stimme wollte mir nicht gehorchen.
Ich schüttelte den Kopf.