26.
Am nächsten Morgen weckte mich ein an Selbstüberschätzung leidender Spatz. Er hockte auf der Fensterbank in der strahlenden Herbstsonne und schmetterte einen Weckruf, als hielte er sich für einen Hahn.
Es war bereits nach zehn!
Meine Haare standen durch die Verbindung von Festiger und Chlor wie Stroh von meinem Kopf ab und die Decke hatte sich um meine Beine gewickelt. Mühsam strampelte ich mich frei und registrierte, dass ich meine Stiefel nicht mehr trug.
Danner war weg.
Um richtig wach zu werden, duschte ich heiß und entfernte die Make-up-Reste von meinem Gesicht. Dann schlüpfte ich in meine älteste Jeans und meinen sehr schlabberigen Rolli mit den aufgenähten lila Blumen.
Barfuß schlich ich die Treppe hinunter zu Molle, um ein Frühstück zu schnorren.
Der Dicke saß am Tisch, auf dem noch Danners bekrümeltes Gedeck stand, und blätterte in der BILD-Zeitung. Ohne aufzusehen, schob er mir die Kaffeekanne und einen noch sauberen Becher hin.
Ich klemmte meine nackten Füße unter mein Hinterteil und schnappte mir ein Brötchen und Danners benutzten Teller: »Wo ist er?«
»Arbeiten«, brummelte Molle. »Will Lenny vor einem Herzstillstand bewahren oder so.«
Aha. Danner kümmerte sich um Lenas Foto.
»Und was machst du heute Morgen?«, fragte ich, während ich das Brötchen fingerdick mit Nutella bestrich.
»Einkaufen. Und du?«
»Einkaufen.«
Er sah flüchtig von einem Artikel über Michael Jacksons Nase auf: »Was für ein Zufall. Hast du Geld?«
Ich winkte mit den zweihundert Euro, die Danner mir gegeben hatte: »Ich brauche ein Kleid für den Polizeiball.«
Molle pfiff durch die Zähne: »Erzähl mir nicht, er geht hin?!«
Ich grinste.
»Das glaub ich dir erst, wenn er im Anzug die Treppe runterkommt! Eher zahlt der seine Miete! Lenny glaubt doch, dass die Schlampe jetzt mit dem Polizeipräsidenten schläft.«
Das hatte ich auch schon gehört. »Ist das eigentlich ihr Nachname, steht das so an ihrem Büro? Klara die Schlampe, Leiterin der Kriminalpolizei?«
Molle nickte ziemlich ernsthaft.
»Ich kann’s kaum erwarten, sie kennenzulernen!«, stellte ich fest. »Sie muss ja wirklich zum Kotzen sein. Warum ist er nicht bei ihr geblieben, wenn sie so gut zu ihm gepasst hat?«
»Oh, sie hat ihn um Längen übertroffen. Das kann er nicht vertragen.«
Das ließ mich stutzen. »Kennst du sie etwa? Wie lange ist es her, dass er was mit ihr hatte?«
»Ach«, schüttelte Molle den Kopf, »die Sache ist schon ewig her und ich merke mir nicht jede seiner Bettgeschichten. Aber Klara ist doch ein spezieller Fall. Sie hat Danner seitdem bestimmt zwei Dutzend Mal angezeigt. Die Bullen bleiben mittlerweile schon auf ein Bier, wenn sie uns mal wieder einen Besuch abstatten müssen.«
»Angezeigt? Weswegen?«
Molle zuckte die Schultern: »Alles Mögliche.«
Gespannt rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.
»Na schön, bevor du platzt vor Neugier: Waffenbesitz, Beamtenbeleidigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Entwenden vertraulicher Dokumente, Diebstahl, Erpressung, Nötigung, Falschparken und alles, was dir sonst noch einfällt. Sie hasst es sowieso, wenn sich Privatdetektive in die Polizeiarbeit einmischen, aber mit Danner führt sie einen regelrechten Krieg.«
Nachdem Molle und ich den Samstagmorgen bei C&A in der Abteilung für Abendkleider verbracht hatten, warf der Dicke ein paar Schnitzel in die Pfanne und ich machte Salat dazu.
Als wir das Essen in die Kneipe trugen, blätterte Danner in Molles Zeitung.
»Und?«, erkundigte ich mich nach dem Stand unserer Ermittlungen.
»Hab ein paar Mädels aus der Schwimmmannschaft besucht und gefragt, ob sie mal Fotos gemacht haben.«
»Und wieso interessiert das ihren Sportlehrer?«, wollte ich wissen.
»Der Schulleitung ist zu Ohren gekommen, dass jemand Mädchen beim Schwimmtraining anspricht. Unter dem Vorwand Models für Modefotos zu suchen.«
Gut gelogen.
»Was für Fotos?«, fragte Molle, bevor er Danner ein Schnitzel auf den Teller legte.
Danner winkte ab: »Keine Ahnung, ob das eine Spur ist. Wir haben bei dem toten Mädchen professionelle Bilder gefunden.«
Lena hätte ich an seiner Stelle auch nicht erwähnt. »Und?«
»Sinja Steilen hat Aktfotos für ihren Freund machen lassen. Beim Fotoshop Gerhard in der Innenstadt. Die speichern alle Fotos fünf Jahre lang auf Diskette, wegen möglicher Nachbestellungen. Eva war definitiv nicht dort. Carmen Montag und Jasmina Mattasch haben nur ein paar brave Porträts an ihre Eltern verschenkt. Fehlt noch diese Russin, Iefgenia Antonczyk.«
»Ja?« Ein ovales Frauengesicht mit verquollenen, roten Augen schaute durch den Spalt der mit einer Kette gesicherten Tür.
»Frau Antonczyk?«
Die Frau nickte.
»Wir suchen Ihre Tochter. Iefgenia. Ist sie da?«
»Iefgenia in Schwimmbad«, verneinte die Frau in miserablem Deutsch und wollte die Tür sofort wieder zudrücken.
Danner verhinderte das mit einer schnellen Handbewegung: »Können wir Sie dann einen Augenblick sprechen?«
»Ich nix gut Deutsch«, schüttelte die Frau den Kopf und versuchte wieder, uns auszusperren.
Doch Danner hatte schon seinen Fuß in den Türspalt gestellt. »Staschek, Kriminalpolizei«, sagte er und hielt der Frau einen Plastikausweis unter die Nase. »Das ist meine Kollegin Simanowski.«
Verblüfft sah ich auf, denn eigentlich war abgesprochen gewesen, mich als Schülerin vorzustellen, die ihren Lehrer auf die Modelangebote in der Schwimmhalle aufmerksam gemacht hatte.
Schnell straffte ich meine Haltung und überprüfte kurz, ob der Reißverschluss meiner Jacke so weit zugezogen war, dass man die lila Blumen auf meinem Pulli nicht sehen konnte.
»Können wir reinkommen?«
Die Frau brüllte etwas Russisches in die Wohnung.
Eine Männerstimme brüllte zurück.
Sie schob die Kette zur Seite und ließ uns herein.
Wir standen in einem winzigen Flur, den eigentlich die Russin allein schon komplett ausfüllte. Von diesem Flur aus führten vier schmale Türen in die verschiedenen Zimmer der engen Wohnung.
Ein übergewichtiger Mann mit einer breiten Nase, dünnem Haar und mongolischen Gesichtszügen steckte den Kopf aus dem Wohnzimmer: »Was Sie wollen?«
Er trug Latschen und einen fleckigen Jogginganzug.
Danner hielt auch ihm den Polizeiausweis hin. »Es geht um Ihre Tochter Iefgenia. An der Schule wurden Mädchen angesprochen, ob sie Fotos machen lassen wollen.«
»Schule? Ich nix weiß von Schule! Frau kümmern sich um Kinder«, grollte der Mann und verschwand wieder.
Danner sah die Frau abwartend an. Die zuckte die Schultern und ging in die Küche.
Während Danner ihr folgte, warf ich einen Blick ins Wohnzimmer. Der Russe herrschte bereits wieder über die Fernbedienung. Neben ihm lümmelten sich zwei jüngere Ausgaben seiner selbst, mit mehr Haaren und weniger Bauch und einem Dosenbier von Aldi in der Hand auf dem Sofa. Und auf einem schmutzigen Perserteppich bemühten sich zwei weitere, kleinere Jungen nach Kräften, den Vater nachzuäffen.
Ich hörte Danner mit Iefgenias Mutter sprechen.
Mein Blick fiel in ein enges Zimmer gegenüber der Küche. Ein Stockbett stand an der Wand, ein alter Schrank gegenüber. Es gab ein paar Kuscheltiere und ein paar Poster. Auf dem oberen Bett blätterte ein Mädchen in einer Modezeitung, die wohl eher ihrer großen Schwester gehörte. Das Mädchen war höchstens sechs, hatte vorstehende Schneidezähne und zwei dicke, blonde Zöpfe.
Sie hatte mich entdeckt und musterte mich misstrauisch.
»Hallo!«, sagte ich. »Ich heiße Lila und du?«
»Maria.«
»Ich wollte eigentlich deine Schwester besuchen«, erklärte ich und trat an das Bett. »Aber die ist beim Schwimmen. Sie geht oft schwimmen, oder?«
Maria nickte: »Sie wird damit berühmt. Dann kriegen wir viel Geld und eine Wohnung mit großen Zimmern.«
»Das wird sicher schön.«
Maria sprach ein deutlich besseres Deutsch als ihre Eltern.
Ich warf einen Blick auf die Zeitung. Heidi Klum warb für Douglas. »Die Frauen auf den Bildern sind sehr schön, nicht wahr? Ist deine Schwester auch so hübsch?«
Die Kleine wiegte nachdenklich den Kopf hin und her: »Nicht so wie Heidi, eher wie Kate Moss.«
»Du kennst dich aber gut aus«, lachte ich. »Willst du selber mal Model werden?«
Sie runzelte beinahe böse die Stirn: »Wenn ich dir ein Geheimnis sage, dann darfst du es nicht verraten!«
Ich hob zwei Finger: »Ich schwöre!«
»Ieffi ist schon ein echtes Model.«
»Wirklich?«
»Sie hat ganz viele tolle Fotos und bald kriegt sie einen Job und verdient viel Geld.« Ich runzelte die Stirn.
»Ich schwöre«, versicherte Maria eifrig. »Guck mal!«
Sie sprang vom Bett, lief zu dem schmalen Fenster und stemmte die marmorne Fensterbank in die Höhe. Schnell griff ich zu und half ihr. Die Kleine zog eine dünne Plastikmappe darunter hervor.
Die Mappe war voller Fotos. Sie zeigten das magere Mädchen vom Schwimmtraining. Hastig blätterte ich die Aufnahmen durch. Ein paar Fotos in Jeans und T-Shirt, Badeanzug und – oha! – Spitzendessous!
»Mamuschka und Papa dürfen nichts wissen«, verriet mir Maria flüsternd, als ihr Vater und Danner im Flur laut wurden.
»Kann ich mir denken.«
Schnell schoben wir die Mappe wieder unter die Fensterbank, dabei ließ ich ein Bild, das Iefgenia im schwarzen Bikini zeigte, im Ärmel verschwinden.
»Danke schön, Maria! Ich muss jetzt gehen.«
Sie winkte mir nach.
Danner war schon an der Tür. Der Russe warf mir einen wütenden Blick zu, als er mich aus Marias Zimmer kommen sah.
Ich folgte Danner hinaus.
Die Schrottschüssel parkte vor dem schäbigen Wohnkomplex in zweiter Reihe.
»Du hast einen gefälschten Polizeiausweis?«, erkundigte ich mich beim Einsteigen.
Danner schüttelte den Kopf. »Seit die Schlampe mich filzen lässt, wenn sie mich erwischt, trage ich so was nur ungern mit mir herum.«
»Und was war das dann gerade?«
Grinsend hielt er mir die Plastikkarte hin. Auf dem Passbild lächelte mich Staschek an.
»Samstags braucht er ihn nicht, schätze ich.«
Danner wollte den Wagen starten.
Ich hielt ihm das Foto von Iefgenia unter die Nase.
»Die Sache betrifft also nicht nur Eva und Lena«, schlussfolgerte ich sachlich. »Iefgenia hat eine ganze Mappe voll solcher Fotos. Sie will anscheinend wirklich als Model Karriere machen.«
Danner trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. »Und irgendjemand scheint ihr dabei zu helfen.«