17
Am Bahnhof von Juru mieteten sich Lu See und Mabel zwei Fahrräder und nahmen die Straße nach Po On Village.
Die Sonne brach durch die Wolken, als sie über die Landstraßen rollten, an langbeinigen Hühnern und alten Bauersfrauen vorbei, die ihre Sarongs über der Brust zusammengebunden hatten. Sie fuhren an kleinen Wasserläufen entlang, radelten durch ein Mangowäldchen, wo der süße Duft des Morgenregens und der herabgefallenen Früchte in der Luft hing. Kräftig in die Pedale tretend kämpften sie sich einen Hügel hinauf, fuhren an einer Gruppe von Affen und einem streng dreinsehenden Wasserbüffel mit einem gleichermaßen streng dreinsehenden Vogel auf seinem Rücken vorbei. Die Lenkergriffe fest in den Händen, holperten sie dann durch ein Zuckerrohrfeld, das in der Hitze vor sich hin welkte, bevor sie anhielten, um sechs barfüßigen Jungen dabei zuzusehen, wie sie im Schatten sepak manggis spielten.
Mabels Räder krachten immer wieder in Schlaglöcher. Sie fuhr mitten durch eine Pfütze und ließ mit einem ausgelassenen Schrei das aufspritzende Wasser auf ihre Knöchel regnen.
Als sie Po On Village erreichten, stellten sie erstaunt fest, dass sich das Dorf überhaupt nicht verändert hatte. Der Dorfplatz lag bis auf einige Hunde und vereinzelte Hühner verlassen vor ihnen. Hinter dem chinesischen Tempel gab es noch immer den alten Dorfladen, die Holzhandlung und das Geschäft des Moskitonetzmachers. Es war, als hätten sie eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen.
»Sagst du mir jetzt, warum wir hierhergekommen sind?«, fragte Mabel.
»Das wirst du schon noch sehen«, erwiderte ihre Mutter.
Sie fuhren auf das große Haus zu, das einmal ihrer Familie gehört hatte.
»Willst du mit mir zu unserem ehemaligen Zuhause?«
»Nein.«
Mabels Neugier war jetzt vollends geweckt. Gerade als sie sich fragte, wohin Lu See sie bringen würde, hielt diese vor einem drei Meter hohen Holztor an. Ein Engländer mit Buschhut kam aus einem Pförtnerhaus, um sie zu begrüßen.
Mabel fiel auf, dass sein Gesicht unter dem Hut so glänzend emailliert aussah wie die glasierte Haut einer gebratenen Ente – es war das von der tropischen Sonne gebräunte Gesicht eines Plantagenbesitzers. Er hatte sich einen Bambusstock wie ein Offizierstöckchen unter den Arm geklemmt. Beide Frauen strichen sich die von der Fahrt in Unordnung geratenen Haare glatt.
»Mabel, darf ich dich mit Mr Charlie Fosler bekannt machen?«
Mabel stieg von ihrem Rad ab und schüttelte dem Mann die Hand.
»Charlie leitet hier eine der größten Gummiplantagen.«
»So ist es, meine Damen«, sagte der Mann mit barschem Yorkshire-Akzent.
Nachdem den Formalitäten damit Genüge getan war, geleitete sie Charlie über ein paar ausgetretene steinerne Stufen und dann über eine weite Wiese auf ein Haus zu, das vor einem Wäldchen von Narra-Bäumen stand.
Unter den Narras schimmerten smaragdgrüne Streifen Moos im Sonnenlicht. Charlie bat sie in sein Haus und dann weiter ins Wohnzimmer. Als sie eintraten, erhob sich ein anglikanischer Priester aus einem Sessel. Er war Ende fünfzig, hatte graues Haar und rote Wangen.
»Hallo, Lu See«, rief der Priester sichtlich erfreut.
»Pater Louis! Wie schön, Sie wiederzusehen.« Lu See legte ihren Arm um Mabels Schulter. »Darf ich Ihnen meine Tochter Mabel vorstellen?«
»Ein aufregender Tag, nicht wahr?«, sagte Pater Louis. Seine langen Finger schlossen sich um Mabels ausgestreckte Hand.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, antwortete die junge Frau höflich. »Aber ich weiß eigentlich gar nicht, worum es geht.«
»Das war auch so beabsichtigt. Ihre Mutter hat diesen Moment schon seit Jahren vorbereitet. Sie ist immer wieder heimlich hierhergekommen, um uns zu besuchen.«
Mabels Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Haben Sie noch immer keine Vermutung? Nun, dann werden wir es Ihnen zeigen«, sagte der Priester und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Ich denke, wir sollten einen kleinen Spaziergang machen, ja?«
Ein paar Minuten später traten sie aus dem Narra-Wäldchen heraus und kamen zu der anglikanischen Kirche, die am Ufer des Flusses stand.
»Die Japaner haben sie als Pferdestall genutzt. Sie haben sie in einem entsetzlichen Zustand hinterlassen. Außerdem wurden, wie Sie wissen, die Orgelpfeifen gestohlen. Ihre Mutter hat alles gereinigt, aber die Juru Diocesan Trustees Association verfügte einfach nicht über die erforderlichen Mittel, um den beschädigten Fußboden und die Bankreihen zu ersetzen.«
»Wir haben uns sogar an die Chinesische Synode gewendet, aber dort konnte man uns auch nicht helfen«, fügte Lu See hinzu.
»Es war eine schreckliche Zeit.« Der Priester legte seine Hand auf die schweren Türen aus Teak und drückte sie auf. Sie betraten den Kirchenraum mit seinen frisch gestrichenen, weißen Wänden. »Aber dank Ihrer Mutter und ihrem Verhandlungsgeschick hatten wir schließlich doch Erfolg.«
Streifen von Sonnenlicht fielen durch die Buntglasfenster. An der Decke drehten sich leise mehrere Ventilatoren.
Lu See nahm ihre Tochter bei der Hand. »Ich habe einen Plan ausgearbeitet, auf dessen Basis wir mit allen Grundbesitzern der Umgebung eine Übereinkunft getroffen haben.«
»Die Betreiber der Zinnminen haben den Plan zwar kategorisch abgelehnt, aber die Plantagenbesitzer haben letztendlich dann doch alle eingewilligt, etwas beizusteuern«, führte Pater Louis weiter aus.
»Einige sehr widerwillig, wohlgemerkt«, fügte Charlie Fosler grinsend hinzu.
»Die Übereinkunft sah vor, dass sie für jeden Hektar, der tatsächlich landwirtschaftlich genutzt wird, ein Viertel Prozent des erwirtschafteten Gewinns für unseren Zweck zur Verfügung stellen.«
»Und dann hat Ihre Mutter den Rest beigesteuert.«
»Das hast du getan?«, fragte Mabel verblüfft.
»Ich habe jede Woche 10 Dollar von meinem Anteil der Einnahmen des Restaurants genommen und sie in den Fond eingezahlt.« In ihrer Stimme lag ein Anflug von stillem Stolz. »Es hat fünfzehn Jahre gedauert, bis wir genug Geld zusammenhatten.«
»Genug Geld wofür?«
»Für die neue Orgel natürlich.«
»Und an dieser Stelle komme ich ins Spiel«, grinste Charlie Fosler.
»Es war Charlies Onkel, der uns damals die erste Orgel verkauft hat.«
»Hat mich nicht viel Zeit gekostet, den alten Herrn dazu zu überreden, einen neuen Satz Pfeifen zu einem unschlagbar günstigen Preis zu gießen. Sie sind schließlich eine alte Kundin von ihm.«
»Und da ist sie also«, strahlte Pater Louis.
Lu See trat nach vorn und strich mit der Hand andächtig über den massiven Sockel des Spieltisches. Das Gehäuse war aus Eiche gefertigt und auf Hochglanz poliert. Die Orgel selbst besaß sowohl mechanische Tasten als auch Registerzüge.
»Sie ist wunderschön geworden«, sagte Lu See. Sie betrachtete die Pedale und ließ ihren Blick langsam zu den Pfeifen hinaufwandern. Das Kupfer schimmerte in der Sonne, als wäre es eingefettet. »Einfach wunderschön.«
»Ich war mir sicher, dass sie Ihnen gefallen würde«, sagte Charlie Fosler. »Wir haben auch die Gedenktafel angebracht.«
Neben der Orgel hing eine Tafel aus Messing an der Wand. Darauf stand:
Diese Orgel wurde in Erinnerung an
Teoh Tak Ming (1915–1935)
und
Adrian W. S. Woo (1912–1936)
gestiftet.
Lu See las die Inschrift und lächelte. Dann setzten sich Mabel und sie nebeneinander in eine der Kirchenbänke.
Pater Louis legte seine langen Finger auf die Tastatur.
Gerade als Lu See die Augen schloss, ließ eine wahre Explosion von Tönen die Luft erbeben – es waren die ersten Takte von Bachs Präludium in C-Dur. Die Töne beschrieben wirbelnde Kreise in ihrem Kopf. Sie stiegen und fielen. Die auf- und abschwellenden Wirbel durchdrangen die Mauern, brachten den Boden zum Beben und ließen die Blätter an den Bäumen draußen erzittern. Sie brachte alle Gedanken zum Schweigen und raubten Lu See schier den Atem. Dies zu hören, das war es, worauf sie so lange gewartet hatte. Dies waren die Klänge, zu denen sie als Kind im Chor gesungen hatte.
Als Pater Louis zu spielen aufhörte und es still wurde, schien es, als wäre die Kirche endgültig von jedem Ballast der Vergangenheit gereinigt worden. Lu See ließ das Kinn auf die Brust sinken. Eine einzige Träne lief ihr übers Gesicht, trocknete auf ihrer Wange und hinterließ auf ihrer Haut ein leises Kitzeln.
Auf den steinernen Stufen der Kirche blieben Lu See und Mabel stehen.
Mabel beugte sich zu ihrer Mutter herüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin stolz auf dich.«
»Ich musste das vor deiner Großmutter geheim halten«, gab Lu See zu, während sie zum Himmel hinaufblickte. »Andernfalls wäre sie jedes Wochenende hierhergekommen und hätte ihren Senf dazugegeben.«
»Großmutter hat wohl angenommen, dass du öfter einmal in die Kasse gegriffen hast. Sie hat ständig irgendwelche Andeutungen gemacht. Dass du dem Glückspiel verfallen sein könntest oder sogar heimlich zu trinken angefangen hättest.«
Lu See hörte ein Lächeln in der Stimme ihrer Tochter. Sie warf Mabel einen amüsierten Seitenblick zu.
Langes Schweigen folgte.
»Fünfzehn Jahre. Es ist wirklich bewundernswert, dass du niemals aufgegeben hast.«
»Ich musste das hier einfach zu Ende führen. Um meinetwillen. Und auch wegen Zweiter Tante Doris und Tak Ming.«
»Das hört sich allerdings so an, als wäre das für dich zu einer fixen Idee geworden.«
»Diese Kirche ist tatsächlich von großer Bedeutung für mich. Sie birgt wunderbare Erinnerungen. Sie ist Teil unserer Vergangenheit. Und ich hoffe sehr, dass du hier einmal heiraten wirst.«
Mabel lächelte. Sie dachte an ihren Freund, den Chirurgen.
»Ist dir wirklich niemals in den Sinn gekommen, das Handtuch zu werfen?«
»Nein. Niemals. Nach dem Krieg, sogar nachdem wir Juru bereits verlassen hatten, war ich noch immer fest entschlossen, die Orgelpfeifen ersetzen zu lassen.«
»Weil du sie verloren hast.«
»Weil ich Zweiter Tante Doris ein Versprechen gegeben habe. Aber auch, weil sie von einem Mann gestohlen wurden, den ich abgrundtief hasste.« Ihre Stimme war plötzlich tonlos vor Abscheu.
»Der Mann mit dem Muttermal. Onkel Hängebacke hat ihn einmal erwähnt. Damals war ich noch ein Kind. Er war derjenige, der den Schafskopf in die Kiste gelegt hat.«
»Daran erinnerst du dich noch?«
»Natürlich. Ich war damals acht Jahre alt. Das ist nichts, was eine Achtjährige so leicht vergisst.«
»Das tut mir leid.«
»Was hat er dir sonst noch angetan? Warum hast du ihn so sehr gehasst?«
»Er …« Lu See hielt inne. Sie hatte schon zu einer Erklärung angesetzt, unterbrach sich dann aber gerade noch rechtzeitig. Sie schauderte angesichts ihrer Sorglosigkeit.
»Er hat was?«
Lu See sah die Neugier in Mabels Augen. Sie wollte die ganze Geschichte hören.
»Er hat was?«, hakte Mabel ungeduldig nach.
Die Farbe wich aus Lu Sees Gesicht. Sie überlegte, was sie ihrer Tochter sagen sollte. Sollte sie die Wahrheit mit einer Lüge verschleiern? Aber damit bewegte sie sich auf dünnem Eis. Das Gewicht der Wahrheit würde sie einbrechen lassen und sie beide unter Wasser ziehen. Und unter dem Eis lauerte etwas Dunkles und Böses, ein großes Unrecht. Etwas, das dazu bestimmt war, niemals wieder ans Tageslicht gebracht zu werden.
In der Nacht vor ihrer Abreise nach Indien holte Lu See einen Brief aus der Innentasche ihres fischledernen Koffers, den sie dort fast ein Vierteljahrhundert lang aufbewahrt hatte. Es war ein Brief von Sum Sum. Lu See war sich nicht sicher, warum sie ihn nicht schon längst verbrannt hatte. Vielleicht, so dachte sie jetzt, weil es ein Brief war, den Sum Sum mit eigener Hand geschrieben hatte, und weil ihr alles, was Sum Sum betraf, heilig war.
Lu See stellte einen Aschenbecher neben sich auf den Tisch und legte eine Schachtel Streichhölzer bereit. Vorsichtig faltete sie dann das Blatt auseinander und strich es glatt. Die blaue Tinte war verblasst, das Papier vergilbt.
Mein liebe Lu See, mein Schwester, mein Freundin,
ich schreibe dies auf ein Schiff in Hafen von Felixstove. Mein Herz weint.
Ich habe dir mit mein Kind zurücklassen und mit viele unbeantwortet Fragen. Jetzt ist Zeit gekommen, dass du Wahrheit erfährst. Bald nachdem wir in Cambridge angekommen sind, ist etwas sehr Schlimm passiert. Erinnerst du dir an Tag, an dem ich Kamera verlor? Ich habe dich gesagt, dass ich ein Unfall hatte und sie in Fluss gefallen ist. Nun, ich habe gelogen. Ich habe sie ein Mann gegeben. Es war Mann, welcher ich aus Dschungel kommen sehen habe, als Damm gebrochen. Mann, den du auf Jutlandia gesehen hast. Mann mit Gesichtsmuttermal.
Er war in Cambridge. Er ist mich und dich gefolgt. An Tag, an dem du Vorstellungsgespräch in College hattest, hat er mir gefunden. Er hat mir bis zu Ort, wo kein Leute waren, gejagt. Dort hat er mir eingeholt. Und dann er hat gesagt, wenn ich jemand von Damm erzähle, tötet er dir. Nicht mir, sondern dir. Ich habe versprochen, dass ich werde schweigen. Ich habe gesagt, dass ich werde alles tun, was er sagt, wenn er nur fortgeht, dass ich werde alles tun, was er sagt, wenn er dich nur nicht weh tut.
Also habe ich ihm Kamera gegeben, ich habe ihm alle Fotos gegeben … und ich habe ihm mich gegeben. Er hat mein Kleider zerrissen und in mein Gesicht geschlagen.
Danach, Lu See, hatte ich viel Albträume. Ich mir eingebildet, ich sehe ihn überall. Ich mir eingebildet, ich rieche ihm. Aber nach dies Tag habe ich ihm nie wieder gesehen.
Etwas später fing Übelkeit an wegen Baby.
Versprich mir, dass du Mabel NIEMALS davon erzählst. Du darfst niemals jemand von Mann mit Gesichtsmuttermal etwas sagen. Das muss für immer unser Geheimnis bleiben, um Mabel zu schützen.
Wie ich in letzte Brief geschrieben habe, ist Mabels Lächeln vielleicht nicht so wie das Lächeln von dein eigen Baby, das Gott weggenommen hat, aber ich weiß, dass du Mabel irgendwann lieben wirst. Seid gut zueinander. Jetzt du brauchst sie und sie braucht dir.
Ich danke der Göttin Tara für viel Liebe und Freundlichkeit, die du mir geschenkt hast.
Ich werde dir immer schätzen.
Sum Sum
Lu See hob den Blick und starrte zur Decke auf den sich langsam drehenden Deckenventilator hinauf. Dann riss sie, ohne zu zögern, ein Streichholz an, hielt die Flamme an eine Ecke des Briefes. Sie sah zu, wie er brannte, als wäre er eine Opfergabe an die Götter.