7

Spätnachmittag. Man feierte das Herbstfest. Es war jetzt vierzehn Tage her, dass Malaysia befreit worden war.

Der Tag war drückend schwül gewesen – Onkel Hängebacke hatte das Gefühl, unter einem dampfend heißen Handtuch in einem Friseurladen zu liegen. Er saß schweißüberströmt im kühlsten Winkel des großen Hauses, fächelte sich mit einem Bananenblatt Luft zu und machte dabei ein Gesicht wie ein Mann, der gerade festgestellt hat, dass er in den falschen Bus gestiegen ist.

Aus dem Garten schallte energisches Hämmern, und aus der Küche zog der warme, nach roten Bohnen duftende Geruch von frisch gebackenen Mondkuchen herüber.

Mabel, nur mit einem Flanellpyjama bekleidet, tappte mit nackten Füßen über den Boden und setzte sich auf seinen Schoß.

»Ich stelle fest, dass deine Mutter ein paar alte Regenschirme gegen eine Packung Rote-Bohnen-Paste eingetauscht hat«, sagte er. »Ah, wenn du einmal so stark und unverwüstlich wirst wie sie, dann werde ich stolz auf dich sein.«

»Soll ich dir was verraten?«, sagte Mabel. »Onkel Peter und Onkel James streiten sich schon wieder.«

»Aiyoo, was für verdammte Einfaltspinsel. Wie war es doch früher schön, aahh! Niemand hat sich wirklich gestritten, abgesehen vielleicht von deinem Großvater und Zweiter Tante Doris, mögen die beiden in Frieden ruhen.« Onkel Hängebacke zog ein mit einem Monogramm besticktes Taschentuch aus seiner Tasche und wischte sich damit über die Stirn. »Damals, als wir so viele in diesem Haus waren, eh, da spielte es keine Rolle, wenn man jemanden nicht mochte. Du hast dich mit deinem Bruder gestritten? Egal! Dann hast du dich eben zu deinem Onkel, deiner Schwester oder deinem Neffen, zu deiner Schwägerin oder einer deiner fünf Nichten an den Tisch gesetzt. Bei jeder Mahlzeit waren wir zwanzig, dreißig Personen, manchmal sogar noch mehr. Und nach dem Essen haben wir immer Mah-Jongg gespielt.«

Mabel sah zu dem dicken schweißglänzenden Gesicht auf. »Mehr als dreißig Leute?« Sie schmiegte ihre Wange an seinen Bauch wie an ein dick gepolstertes Kissen.

Onkel Hängebacke wiegte sie auf seinem Schoß, dann zuckte er plötzlich zusammen. »Aiyoo! Diese verdammte Arthritis in den Knien! Dieser fünfzig Jahre alte Körper taugt einfach zu nichts mehr, lah!« Er wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn und lüftete sein Hemd. »Familie und Freunde, alle durcheinander, so wie die vielen Teile eines Puzzles in einer Schachtel. Nach einer Weile hattest du dann vergessen, dass du dich überhaupt mit deinem Bruder gestritten hast.«

Gerade als er das sagte, verstummte plötzlich das Hämmern aus dem Garten. Stattdessen waren jetzt zwei laute Stimmen zu hören.

Onkel Hängebacke und Mabel gingen hinaus, um zu sehen, was diesmal der Grund des Streites war. Onkel Hängebacke schwankte beim Gehen von rechts nach links. »Aiyoo! Was habt ihr beiden Wahnsinnigen denn jetzt schon wieder?«

»Nach was sieht es denn aus?«, erwiderte Peter, während er sich seine übergroßen Shorts hochzog. Er hatte einen Holzhammer in der Hand. Sein heller glasiger Blick erinnerte an einen fanatischen Priester auf Opium. »Wir bereiten uns auf die Wiederkunft vor! Ich baue schon einmal James’ Sarg.«

»Und ich den von Peter. Seiner wird ein bisschen kürzer ausfallen.«

»Als Nächstes werden wir uns dann die Inschrift für unsere Grabsteine überlegen.«

»Wie kommt ihr denn auf diese Idee, aahh, aahh?«, rief Onkel Hängebacke und hob herausfordernd den Kopf.

»Weil es billiger ist«, antwortete ihm James mit einem unbekümmerten Schulterzucken, »und außerdem erinnert es uns an unsere Sterblichkeit.« Er bückte sich, um die Kante einer Sperrholzplatte abzuhobeln.

»Billiger?«, wandte Peter ein. »Dabei geht es doch nicht ums Geld.«

»Soweit ich mich erinnere, hast du gesagt, dass das eine gute Investition wäre.«

»Ja, aber ich meinte doch eine spirituelle Investition.«

»Unsinn, du hast ans Geld gedacht.«

»Willst du damit sagen, dass ich geizig bin?«

»Ich kann nicht glauben, dass du mein Bruder bist. Wir haben überhaupt nichts gemein«, seufzte James.

»Das stimmt nicht, wir sind beide wie Satays. Und Kohl und …«

»Du bist so was von kindisch!«

»Oh, und du bist das natürlich nicht!«

James, der in seinen viel zu großen Shorts schon die ganze Zeit nervös herumgezappelt hatte, drückte jetzt die Knie zusammen. »Hör zu, können wir das nicht später diskutieren? Ich muss dringend pinkeln.«

Onkel Hängebacke sah Mabel an und verdrehte die Augen. »Zwei absolute Trottel«, brummte er.

Genau in diesem Moment erschienen Lu See und ihre Mutter am unteren Ende der Auffahrt. Sie schwenkten voller Begeisterung britische Fahnen.

»Sie kommen, sie kommen!«, rief Lu See. »Beeilt euch! Sonst verpasst ihr sie noch! Legt die Hämmer weg und holt die Mondkuchen!«

Mehrere Tabletts in den Händen balancierend führte Lu See die kleine Gruppe an, als sie den Pfad zum Dorf hinunterrannten. Der kampong war voller jubelnder Menschen. Sie schwenkten Fahnen, hielten die Daumen in die Höhe und sprangen begeistert auf und ab. Fähnchen und Spruchbänder mit Willkommensgrüßen hingen an den nach oben gebogenen Dachtraufen des Dorftempels. Die Kindern hatten vor einem selbst gebastelten Arc de Triomphe eine Kette gebildet und kreischten begeistert.

»Da kommen sie!« Die Menge drängte vorwärts. In der Ferne war jetzt eine große Staubwolke zu sehen, die ein Konvoi schwerer Fahrzeuge aufwirbelte. Das Brummen von Motoren und das Rattern, Klappern und Quietschen von Getrieben und stählernen Federn kam immer näher. Vickers-Spähpanzer, gepanzerte Mannschaftstransporter und Panzer donnerten über die Bodenwellen hinweg. Es herrschte ein Tumult und eine Freude, als erwartete die Menge einen Karnevalszug. Als die Fahrzeuge ihr Tempo verlangsamten, liefen die Dorfbewohner neben ihnen her. Ein Offizier in einem Jeep, der sein Barett in seine Schulterklappe geschoben hatte, machte mit beiden Händen das Victoryzeichen. Um ihn herum klatschten die Leute begeistert in die Hände.

Ein weiteres Dutzend Lastwagen fuhr jetzt langsam vorbei, während die jungen Mädchen, die sich allesamt die Haare toupiert hatten, den Soldaten auf den Ladeflächen kokett zuwinkten. Sie alle ließen ihre Fahrradklingeln ertönen. Ihre Handhupen erzeugten einen unglaublichen Lärm. Die Fahrzeuge fuhren jetzt noch langsamer, dann kamen alle gleichzeitig mit einem schnaufenden Geräusch zum Stehen. Die Soldaten wollten offensichtlich den begeisterten Empfang auskosten. Die Infanterie bildete die Nachhut – es waren das Royal Lincolnshire Regiment mit ihren Baretts und die Gurkhas mit ihren terai-Hüten. Reihe um Reihe in tropisch dunkelgrünen Kampfanzügen, marschierten sie singend und pfeifend vorbei, während ihre Stiefel im Takt dazu auf den Boden trommelten.

Lu See starrte die Soldaten aus dem Himalaja mit ihren runden Gesichtern an und musste dabei unwillkürlich an Sum Sum denken. Onkel Hängebacke schwenkte irgendwo hinter ihr begeistert den Union Jack.

Peter und James begannen God Save the King zu singen, während einige Dorfbewohner Reis und Kokosraspel in die Luft warfen. Mr Ko, der Ladenbesitzer, hielt die Gans des Dorfes hoch in die Luft, die sich mit einem lauten onk-onk darüber beschwerte. Zwei kleine Jungen flitzten, wilde Blumen in der Hand, neben den Fahrzeugen her und warfen gelbe und rosa Blüten in die Luft, die auf die Soldaten auf den Geschütztürmen regneten. Einer der beiden kletterte sogar auf einen der Panzer, um den Soldaten die Hand zu schütteln.

»Wohin fahrt ihr?«, rief jemand.

»Kuala Lumpur!«, kam die Antwort.

Und dann waren sie auch schon wieder weg, so wie der Ballon eines Kindes, den der Wind davongetragen hat. Ein letzter Panzerwagen fuhr auf seinem Weg nach Süden zur Hauptstadt an ihnen vorbei, zog dabei metallgraue Staubfahnen hinter sich her, begleitet von dem Geräusch mahlender Maschinen und dem dumpfen Grollen von Patronen in einer Munitionskiste. Einige der Jungen rannten ihm noch ein Stück hinterher. In der Ferne explodierte ein Knallfrosch.

»Gung hei! Gung hei! Herzlichen Glückwunsch!«, rief Lu See und verteilte an die hungrigen Jungen und Mädchen Mondkuchen. »Mit den besten Empfehlungen der Teohs. Esst sie, solange sie noch warm sind!«

Nicht weit von ihnen entfernt holten Frauen aus dem Haushalt der Woos runde Kuchen aus einem geflochtenen Korb, verteilten die kreisförmigen Päckchen aus Pappe an die älteren Dorfbewohner. Lu See begrüßte sie mit einem höflichen Kopfnicken.

Die Kinder tanzten auf dem Dorfplatz herum, schlugen Gongs und sahen zu, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Als der Vollmond am Himmel erschien, begrüßten ihn die Feiernden mit einem staunenden »Oh«. Rote Papierlaternen wurden an langen Bambusstangen getragen – Schmetterlinge, Karpfen und Kaninchen, die vom zitternden Licht der Kerzen in ihrem Inneren erhellt wurden.

»Darf ich mit den anderen spielen gehen?«, fragte Mabel, vor lauter Vorfreude von einem Fuß auf den anderen hüpfend.

»Natürlich darfst du«, erwiderte ihre Mutter.

Lu See sah zu, wie die Kinder Arm in Arm davonsprangen. Sie lächelte stolz, dann aber spürte sie plötzlich, dass sie angestarrt wurde. Sie sah über ihre Schulter. Da standen sie, die Männer aus dem Dschungel, die MPAJA-Soldaten. Sie beobachteten sie wie Geier, die über einem Stück Aas kreisen.

Alle hatten ähnlich harte, knochige Gesichter – eckige Wangenknochen, kantige Kinnlinien und mattschwarze Haare. Der größte und älteste, dachte Lu See, derjenige, der die Befehle gibt, der mit den nackten Brust und den dicken, gummiartigen Lippen, der muss der Anführer sein.

Die Daumen in die Gürtel eingehakt stolzierten sie jetzt auf dem Dorfplatz umher. Lu See konnte den süßen Duft ihrer Gewürznelkenzigaretten riechen. Sie zählte ihre Waffen: Zwei von ihnen hielten parangs in den Händen, die anderen trugen Gewehre an Riemen über ihren Schultern. Und dann war da auch noch der Junge, den sie schon einige Tage zuvor gesehen hatte, der Zehnjährige, der auch jetzt die japanische Armeepistole in seinen Gürtel gesteckt hatte.

Ein betrunkener Fischer stolperte auf Lu See zu. Sein ungepflegtes Gesicht, die Lider bereits auf Halbmast, ähnelte einem Schiffswrack. Lu See stand mehr oder weniger zufällig direkt in seinem Blickfeld.

»Du!«, schrie er, Speichelflöckchen spuckend und taumelnd wie ein Boxer in den Seilen.

Lu Sees Gesicht wurde starr.

»Ich kenne dich doch!«

Sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Er folgte ihr. Der Alkohol hatte ihm Mut gemacht, und er suchte offensichtlich Streit.

»Du bist doch die Verräterin, die mit Tozawa gemeinsame Sache gemacht hat.«

Köpfe fuhren zu ihnen herum. Die Kinder hörten auf zu tanzen. Ihre Gongs verstummten. Das Lachen erstarb. Die festliche Stimmung war verflogen.

»Glaubst du etwa, nur weil du eine Teoh bist, kann dir nichts geschehen? Wir haben uns erst vor Kurzem einen Woo vorgenommen. Glaub ja nicht, das wir mit dir nicht dasselbe machen würden.«

Der betrunkene Fischer, der mit seinem Finger auf sie zeigte, erhielt jetzt Unterstützung durch die Frau aus der Holzhandlung und einen barfüßigen Ziegenhirten.

»Als wir nichts zu essen hatten, hat sie auf dem Schwarzmarkt Zucker gekauft«, beschuldigte sie die Frau. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«

»Und wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, ist sie mit seinem Auto nach Hause gefahren worden, so als wäre sie eine Konkubine aus der Großstadt!«, schrie der Fischer.

Der Ziegenhirte begann, die Menge aufzuhetzen. Er rief immer wieder: »Japanerfreundin, wir kriegen dich!« Sein verfilzter, langer Kinnbart schwang hin und her, als er auf Lu See zuwankte. Jetzt konnte sie ihn riechen. Er verströmte einen muffigen Gestank, wie ein feuchtes Handtuch, das zu lange in einer Tasche gelegen hat. »Was sollen wir mit der da machen?«, bellte er. »Hast wohl gedacht, dass du damit durchkommst, was?«

Lu See hielt seinem Blick ruhig stand. »Womit soll ich durchkommen?«

»Lass meine Tochter in Ruhe!«, rief ihre Mutter und drückte Mabel fest an sich.

Der Betrunkene hatte Schluckauf. »Reißt ihr die Kleider vom Leib! Schande über sie!«

Der Ziegenhirte holte ein Schermesser aus seinem Rucksack. »Wir scheren Ziegen und Huren die Wolle«, knurrte er.

Onkel Hängebacke zog seinen Bauch ein und versuchte, sich zu ihr durchzukämpfen, wurde aber von mehreren Dorfbewohnern ergriffen und festgehalten, während die anderen einen großen lärmenden Kreis um Lu See bildeten. Lu See spürte, wie die Hand einer Frau nach ihrem Oberteil griff und sie sich mit den Nägeln in den Stoff krallte. Der Stoff zerriss, sodass ihre Schulter zu sehen war.

»Verpassen wir ihr einen Denkzettel!«, schrie der betrunkene Fischer.

In diesem Moment trat James vor. Er zeigte wie ein Prophet des Alten Testaments mit einer Hand zum Mond. »›Die Redlichen werden das Land bewohnen. Die Frevler aber werden aus dem Land verstoßen, die Verräter aus ihm weggerissen.‹ Sprichwörter 2, 21. Diese Frau ist unschuldig. Lasst sie in Ruhe.«

Der Ziegenhirt zog überrascht die Augenbrauen hoch und sah dann James’ glatt rasiertes Gesicht mit den hervortretenden Augen finster an. »Wer zum Teufel bist du denn?«

»Ich bin ein Lamm Jehovas.«

»Lamm?«

»Ja, Lamm. Mäh-mäh, Lamm.« James schenkte ihm ein glückseliges Lächeln.

Kurzzeitig verunsichert versuchte der Ziegenhirte James mit einer Handbewegung wegzuscheuchen.

»Selig sind die Sanftmütigen, denn ihnen wird die Erde gehören.« James strahlte eine augenfällige Begeisterung aus. »Ich rate dir dringend, meine Schwester in Ruhe zu lassen. Sie hat nichts Böses getan. Und du solltest wirklich diesen Bart abnehmen. Bärte sprießen aus der Stirnlocke des Satans.«

»Genau!«, brüllte jetzt Peter, der offensichtlich seine Stimme wiedergefunden hatte, aus der Menge heraus.

Der Ziegenhirte stieß James zur Seite. Er machte plötzlich einen Sprung nach von, packte Lu See bei den Haaren und drückte sie auf den mit Hühnerkot übersäten Boden. Sie wehrte sich, aber der Mann war kräftig, der jahrelange Umgang mit Tieren hatte seine Muskeln gestählt. Eine Reihe von Zähnen und Zahnfleisch blitzte auf, als er auch mit der anderen Hand nach ihren Haaren grapschte.

»Schwöre ab!«, beharrte er. »Schwöre dem ab, was du getan hast.«

Sie sah neben ihrem linken Auge das Glitzern von Metall. Die Klingen seines Schermessers fraßen sich in ihren Schopf. Ihr entfuhr ein kurzer Laut des Entsetzens. Schwarze Haarbüschel fielen wie verkohlte Weizenähren auf den Boden.

Sie packte sein Handgelenk, hielt ihn so von sich fern. Die Menschen um sie herum, die Gesichter grimmig und abweisend, schnalzten ermunternd mit der Zunge. Sie drängten sich nach vorn, begierig zu sehen, wie diese Teoh bestraft wurde. Lu See wartete darauf, dass ihr jemand zu Hilfe eilte und allen erklärte, dass sie unschuldig sei. Dass das alles nur ein großes Missverständnis sei.

Aber niemand trat für sie ein.

»Ich habe nichts Falsches getan!« Ihre Stimme klang leise, hörte sich in ihren Ohren völlig fremd an. »Bringt Mabel von hier weg«, hörte sie sich sagen.

Allein der Gedanke, dass ihre Tochter Zeuge dieser Demütigung wurde, riss ihr das Herz entzwei. Sie hatte einmal von einem Dorf in Borneo gelesen, in dem man Verbrecher auf eine ganz besondere Art und Weise ausfindig machte: Man führte einem Papagei eine Reihe von Verdächtigen vor und brachte den Vogel dann dazu, einer der Personen auf die Schulter zu fliegen und ihn so zu identifizieren. In aller Regel landete der Papagei auf einem Unschuldigen, der, fälschlich beschuldigt, aber machtlos, irgendetwas dagegen zu tun, gehängt oder mit Bambusstöcken verprügelt wurde. Lu See kam sich jetzt genauso unschuldig wie wehrlos vor.

Sie biss die Zähne zusammen. Was auch immer geschehen würde, sie würde ihre Würde bewahren.

Frauen zupften sich jetzt voller Bestürzung an ihren Ohrläppchen. Männer beobachteten das Ganze mit dem gierig starren Blick von Geldverleihern. Irgendwo im Hintergrund hörte sie ihre Mutter lautstark protestieren und ihre Brüder inständig bitten.

Eine kurze Stille legte sich über die Menge. Und dann zerriss plötzlich ein Schuss die Luft.

Lu See blickte auf und sah erst jetzt, dass der Anführer der MPAJA, der Mann mit den Gummilippen und der nackten Brust, neben ihr stand. Der hochgewachsene Alte zielte mit seiner Waffe direkt zwischen die Augen des Ziegenhirten.

Lu See starrte auf den glatten muskulösen Unterarm des Anführers. Sie sah, wie die Sehnen hervortraten, als er mit dem Daumen den Hahn seines Revolvers spannte. Muskeln, so dick wie Walnüsse, wölbten sich unter der dunklen Haut. Sie beobachtete, wie er die Mündung ein kleines Stück oberhalb der Augenbrauen auf die Stirn des Ziegenhirten setzte, sie in seine Haut drückte, den Lauf dann kippte, sodass jetzt ein kleiner rosa Ring die Mitte der Stirn des Mannes markierte. Sie sah den Schlamm, der verkrustet unter seinen Fingernägeln klebte, als seine Hand den Griff und den Abzug umfasste. Schweiß glänzte auf seinem Bizeps.

Seine Fingerknöchel zuckten.

Der Fischer öffnete und schloss seinen Mund wie ein sterbender Goldfisch. Die Menge war wie versteinert. Der Ziegenhirte ließ sein Schermesser fallen.

Niemand rührte sich. Es war, als wären sämtliche Dorfbewohner mitten in ein Minenfeld geraten und wüssten jetzt nicht mehr, wohin sie ihre Füße setzen sollten.

Völlig unvermittelt hörte sich Lu See sprechen. Sie war selbst überrascht über die Worte, die aus ihrem Mund kamen. »Bitte tu ihm nichts«, sagte sie. »Ich verstehe, warum er wütend ist. Bitte erschieß ihn nicht.«

Der alte Mann fuhr sich mit der Zunge über seine Gummilippen. Der Blick des Ziegenhirten irrte umher, so als suche er nach einem Ort, an den er fliehen könne. Seine Beine aber schienen wie einbetoniert zu sein.

Der Finger des alten Mannes lag auf dem Abzug, liebkoste ihn geradezu.

»Hum gaa chaan! Macht eure Augen und eure Ohren auf, ihr erbärmlicher Haufen von Satay-Fressern. Sehr ihr, was diese Frau ist? Ihr beschuldigt sie des Verrats und habt dabei offensichtlich schon wieder vergessen, dass sie erst vorhin an eure Kinder Mondkuchen verteilt hat. Ihr bedroht sie, und dennoch bittet sie um Gnade für euch.«

Der Anführer der MPAJA ließ seinen Revolver sinken und gab dem Ziegenhirten einen kräftigen Tritt in den Hintern, um ihm Beine zu machen. Während er zusah, wie er davonstolperte, streckte er Lu See eine schwielige Hand entgegen und half ihr auf die Füße. Ihr wurde schwindelig, sodass sie sich an ihm festhalten musste, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

»Diese Frau ist weder eine Verräterin noch eine Kollaborateurin. Sie ist vielmehr ein Glücksfall für dieses Dorf. Ich erwarte von euch, dass ihr sie auch so behandelt. Sai yun tau! Beim Kopf des toten Mannes!«

Lu See klopfte sich den Dreck von ihrer Kleidung und sah dann in das Meer von Gesichtern, das sie umgab. Schweißnass und starr vor Schreck, spürte sie, dass sie etwas sagen musste.

»Wir alle haben einen schrecklichen Krieg erlebt«, sagte sie. »Einige von uns haben mehr gelitten als andere, aber machen wir uns nichts vor – jeder hat durch die Japaner Leid erfahren.« Ihre Stimme klang ruhig und fest, innerlich aber zitterte sie wie Espenlaub. »Jeder von uns hat einen geliebten Menschen verloren oder etwas, woran sein Herz hing. Wir alle sind im selben Wasser geschwommen, auch wenn wir alle verschieden sind. Ein jeder von uns hat seinen persönlichen Sittenkodex. Der meine ist, alles zu tun, um meine Familie zu beschützen. Ich habe für Tozawa gearbeitet, das ist wahr. Ich habe für ihn gekocht. Aber ich hatte jeden einzelnen Tag das Gefühl, als würde ich ein Stück von meiner Seele opfern. Ich habe für meine Arbeit ein wenig Geld bekommen, aber ich habe mich ihm niemals hingegeben. Ich habe niemals irgendwelche Geheimnisse verraten. Ich habe ihm niemals irgendwelche Informationen über euch gegeben. Wenn ihr glaubt, das sei ein Verbrechen, dann sei es so, aber ich weiß, dass ich nichts Unrechtes getan habe. Ich kann meinen Kopf aufrecht tragen.«

Lu See schwieg. Sie hätte die Menge am liebsten wütend angebrüllt, hätte den Menschen mit der Faust gedroht. Aber sie starrte sie einfach nur finster an. Die Frau aus der Holzhandlung wich vor ihr zurück. Der betrunkene Fischer kratzte sich am Hals und trat den Rückzug in den Dorfladen an. Mr Ko, der Ladenbesitzer, starrte stumm auf seine Füße. Allmählich zerstreuten sich die Dorfbewohner, verlegen hüstelnd und schuldbewusst an ihrer Kleidung herumzupfend, in alle Richtungen.

Mabel rannte auf Lu See zu und warf sich in ihre Arme. Die Wucht des Aufpralls brachte Lu See aus dem Gleichgewicht.

Sie vergrub ihr Gesicht im Haar ihrer Tochter. Dann sah sie den hochgewachsenen Mann an und dankte ihm.

»Mein Name ist Foo. Meine Freunde nennen mich aber alle Fishlips. Und das hier«, er fuhr einem Jungen, der neben ihm stand, liebevoll mit der Hand durch das widerspenstige Haar, »das ist mein Enkel Bong. Seine Eltern wurden von den Kempeitai abgeholt. Sie kamen nicht mehr zurück.«

Lu See lächelte den Jungen mit der japanischen Armeepistole im Gürtel an. Ein Junge mit den Augen eines alten Mannes und dem Gesicht eines Zehnjährigen. »Hallo Bong. Das ist meine Tochter Mabel.«

»Hallo«, erwiderte er und musterte Mabel dann von oben bis unten. »Hast du schon einmal eine Waffe in der Hand gehabt?«

»Komm jetzt, Enkel, das war genug Aufregung für einen Tag. Es ist Zeit, dass wir unser Lager aufschlagen.« Foo drehte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, davon.

Doch bevor er im dichten Blätterwerk des Dschungels verschwand, warf er noch einmal einen Blick über die Schulter und lächelte Lu See an, als wolle er sagen: Du schuldest mir etwas.

Dann war er verschwunden.

Erst später, nachdem alle wieder in dem großen Haus waren und Lu See begriff, was da gerade geschehen war, ging sie nach hinten in den Garten und erbrach einen rosafarbenen Schwall halb verdauten Mondkuchens. Mit einem heftigen Kopfschütteln lehnte sie sich dann erschöpft an die Wand. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass ihre Mutter die ganze Zeit über recht gehabt hatte.