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Spätestens Mitte August 1945 wussten alle, dass die Japaner den Krieg verloren hatten. Die Nachricht von der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki wurde mit einer Mischung aus Staunen und Ehrfurcht aufgenommen – wie, so fragten sich die Menschen, war es möglich, dass so große Städte in Sekundenschnelle völlig zerstört werden konnten?

In Po On Village war die Veränderung deutlich spürbar. Die Menschen auf den Straßen lächelten wieder. Anstelle des Aikoku Koushinkyoku schallten jetzt amerikanische Jazzlieder aus den Grammofonen, und die Ladenbesitzer begannen wieder englische Schilder aufzuhängen, die jene in Katakana beschrifteten ersetzten.

Auch Oberst Tozawa hatte sich verändert. Eine Weile versuchte er noch so zu tun, als wäre alles so wie immer, irgendwann aber gelang es ihm nicht mehr, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Er wurde immer schweigsamer. Schließlich aß er so gut wie nichts mehr.

»Bitte, o-Oberst-sama«, drängte Lu See ihn, während sie sich, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, vor ihm verbeugte. »Sie haben jetzt tagelang Ihr Essen nicht angerührt. Sie müssen etwas essen.«

Sein Gesicht sah hager aus. Er hatte offensichtlich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen. Und er polierte immer wieder sein Schwert.

Lu See fürchtete, er könnte sich umbringen.

Sie wollte nicht, dass das geschah. Er hatte sie und ihre Familie die ganze Zeit vor seinen Landsleuten beschützt, und sie achtete ihn deshalb sehr.

Dann denkst du also, dass er unser Schutzengel ist, ja?, hörte sie ihre Mutter oft sagen. Und so wie immer hatte sie das Bedürfnis, ihn zu verteidigen.

Aber warum? Magst du ihn? Liebst du ihn?

Nein. Aber es war ihr einfach nicht egal, was mit ihm geschah. Manchmal, vor allem, wenn er betrunken war, hatte er ihr Angst eingejagt, aber er hatte sich ihr gegenüber stets höflich und korrekt verhalten. Er hatte sie nie als sein Eigentum behandelt. Und dennoch wusste sie, dass sie die Tatsache, dass er sie nicht misshandelt hatte, nicht als einen Akt der Freundlichkeit missverstehen durfte.

»Möchten Sie, dass ich Ihnen einen Shepherd’s Pie zubereite?«, fragte sie ihn jetzt. »Oder den Bread-and-butter-Pudding, den Sie so sehr mögen?«

Er starrte das katana-Schwert an, das an der Wand hing, dann musterte er seine Hände, den Blick hatte er jedoch nach innen gerichtet wie ein trauernder Vater.

»Soba-Nudeln«, stieß er dann durch zusammengebissene Zähne hervor. »Ich bin das britische Essen leid. Machen Sie mir etwas von zu Hause. Soba-Nudeln mit Tofu und eingelegtem Gemüse.«

»Ja, natürlich, o-Oberst-sama.« Sie drehte sich um.

»Und Teoh-san …« Seine Stimme hörte sich so sanft wie fallender Regen an. Ihre Blicke trafen sich. Sie standen mehrere Sekunden lang stumm unter dem sich langsam bewegenden Deckenventilator. »Vielen Dank.«

Vor dem Krieg war Tamarind Hill ein geschmackvoller weitläufiger Landsitz am Rande einer großen Gummiplantage gewesen. Das Gebäude stand auf einer Anhöhe mit Ausblick auf den Juru und vereinte sowohl östliche als auch westliche Architekturelemente. Der Fußboden in der prächtigen Eingangshalle bestand aus italienischem Marmor. Die im chinesischen Stil gehaltenen Türen und die Treppenaufgänge waren aus tropischem Holz gefertigt, und die kunstvollen gusseisernen Badewannen hatte man mit dem Schiff aus Shropshire kommen lassen.

Auf der Rückseite des Hauses befand sich eine breite Veranda, von der aus man einen schönen Blick auf ein kleines Kokospalmwäldchen hatte. Es gab eine Bibliothek mit englischer und chinesischer Literatur, ein Billardzimmer, ein Mah-Jongg-Studio und eine Galerie, die eine Sammlung seltener Schwarzholzstühle mit Perlmuttintarsien beherbergte. Und wenn der Patriarch, Lu Sees Vater, sich im Haus aufhielt, hisste der Hausmeister im Morgengrauen die Flagge des Heiligen Georg, um die Woos von seiner Anwesenheit wissen zu lassen.

All das gehörte jedoch der Vergangenheit an. Jetzt waren da nichts als leere Räume voller Spinnweben, Räume, in denen Fliegen auf den Fensterbrettern dösten und Schimmel in der Hitze erstarrte.

Am 13. September erklärte der Kommandant der 29. Heeresgruppe der Japaner, Lt. General Ishiguro gegenüber Lt. General Ouvry Roberts, Kommandant des XXXIV. Indian Corps im Victoria Institution in Kuala Lumpur, die Kapitulation.

Was folgte, war das absolute Chaos.

»Gemäß Dekret des Kaiserlichen Kriegsbüros«, las Lu See auf dem Plakat auf dem Dorfplatz, »sind alle beschlagnahmten Häuser unverzüglich ihren Eigentümern zurückzugeben.« Sie sah die Leute an, die neben ihr standen, und beobachtete sie dabei, als sie begriffen, was das für sie bedeutete. »Endlich kehrt wieder Ruhe und Ordnung ein!«, riefen die Menschen.

Ein Trugschluss, wie sich bald schon herausstellte. Denn statt der Japaner streiften jetzt Bürgerwehren durch die Straßen, Schwarzmarkthändler wurden überfallen, und Bewohner des Dorfes prügelten sich um Lebensmittel. Völlig unvorhersehbar brach immer wieder Gewalt aus. Die Polizei hatte die Kontrolle verloren. Einige Polizisten hatten aus Angst sogar ihre Uniform abgelegt.

Kurz darauf zog Oberst Tozawa aus dem Haus aus. Auf der Auffahrt wartete im Schatten einer Tamarinde ein ziviles Fahrzeug auf ihn. Es führte eine weiße Fahne und war mit Kapitulationskreuzen gekennzeichnet.

Oberst Tozawa verbeugte sich vor Lu See und gab ihr die Hand. »Sie sind hier nicht sicher, Teoh-san. Ich empfehle Ihnen, vorerst nicht nach Tamarind Hill zurückzukehren.«

Bereits in der ersten Nacht, nachdem Oberst Tozawa das Haus verlassen hatte, fielen Plünderer über das Anwesen her. Sie rissen die Marmorfliesen vom Boden und hebelten die metallenen Tore aus ihren Verankerungen. Sogar die riesigen gusseisernen Badewannen waren nicht vor ihnen sicher. Nur die Umrisse ihrer klauenhaften Füße auf dem Boden waren Beweis dafür, dass sie hier einmal gestanden hatten.

Als die Plünderer abgezogen waren, wagte es Lu See, mit ihrer Tochter Mabel und Onkel Hängebacke ihr ehemaliges Heim zu betreten. Am Tor blieben sie erst einmal stehen. Trotz der Lebensmittelknappheit während der Besatzungszeit schien Lu Sees Onkel kaum abgenommen zu haben. »Ich?«, sagte er, wenn man ihn auf seine Körperfülle ansprach, und legte dabei seine Wurstfinger auf seine Brust. »Ich bin doch spindeldürr, oder etwa nicht?« Dann fügte er strahlend hinzu: »Nein, lah, die Wahrheit ist, dass ich viel Kokosfleisch esse. Jeden Morgen fünf Kokosnüsse. Und dafür muss ich keinen Bananendollar zahlen. Kommt alles kostenlos vom Baum, ahhh!«

In seiner langen Unterhose, dem Hemd mit offenem Kragen und den weißen Turnschuhen sah er wie ein Zwergnilpferd im Tennisdress aus. Er hatte sich so gut wie nicht verändert, außer dass er neuerdings dazu neigte, inmitten eines Gesprächs mit einem Ratschlag aufzuwarten, der absolut nichts mit dem Thema zu tun hatte.

»Wie lange werden wir deiner Ansicht nach warten müssen, bis die Briten wieder zu alter Stärke kommen?«, fragte ihn Lu See.

»Ich denke, zwei bis drei Wochen, lah. Die Briten zeigen schon jetzt eine gewisse Präsenz, um zu gewährleisten, dass die Kapitulationsbedingungen auch eingehalten werden. Bis dahin werden die Plünderungen aber weitergehen. Durch Kedah und Penang streifen bewaffnete Banden, die alles mitgehen lassen, was ihnen in die Hände fällt.«

Sie stiegen über die verkohlten Fetzen der Flagge mit der aufgehenden Sonne hinweg. Lu See suchte sich vorsichtig ihren Weg zwischen Glasscherben hindurch, während ein Übelkeitsgefühl in ihrer Kehle aufstieg, als würde man sie zwingen, einen Teerklumpen zu schlucken. Onkel Hängebacke schwankte beim Gehen hin und her.

»Hat es noch immer nicht genug Blutvergießen gegeben, eh?«

»Sind alle großen Häuser kaputt?«, fragte Mabel laut.

»Nicht alle.« Er zog eine Grimasse. »Das Haus der verdammten Woos ist unversehrt geblieben. Diese gerissenen Scheißkerle haben zu ihrem Schutz bewaffnete Wachen angeheuert.«

Lu See hielt ihr Gesicht in die Sonne. Der klare Tag mit seinem hellen Licht schien ihre hoffnungsvolle Stimmung widerzuspiegeln. Sie musste sich plötzlich an die Worte von Zweiter Tante Doris erinnern: Vergiss niemals, einen grünen Baum in deinem Herzen zu bewahren, dann wird ihm ein kalter Wind vielleicht nichts anhaben.

»Nun, zumindest wissen wir, dass wir jetzt neu anfangen können.«

»Ein Neuanfang ist wie ein Drachen, der sich von seiner Schnur losgerissen hat. Wir befinden uns jetzt in den Händen des Schicksals, meh

»Ich werde Kohl, Lauch und Süßkartoffeln anpflanzen. Mabel wird mir dabei helfen.«

»Pass auf, und iss nicht zu viel Süßes, eh. Das ist schlecht für die Zähne und auch sonst nicht gesund.«

Lu See nahm die Hand ihrer Tochter, umschloss ihre kindlichen Finger und führte sie ins Haus. Sie spürte, wie Mabel sich an ihre Hand klammerte und erwiderte ihren Druck.

»Es ist so leer hier, Mama.«

»Mein Freund, ah, Chan Yee, der Mann mit den Haaren wie ein Stachelschwein, weißt du doch? Er ist gestorben, weil er zu viel Zucker gegessen hat. Sein Herz hat das nicht verkraftet. Salz ist auch sehr schlecht – denk dran, was mit den Knöcheln deines Ah-Bas geschehen ist.«

Gesprenkeltes Sonnenlicht fiel durch die grauen Fenster. Onkel Hängebacke fächelte sich mit einem Bananenblatt Luft zu, zuckte plötzlich zusammen und begann dann, sich über seine arthritischen Knie zu beklagen. Die Wände verströmten einen feuchten Geruch.

»Hier ist nicht mehr viel zu retten, hm?«

»Sie haben alles mitgenommen. Sogar die Türgriffe«, sagte Lu See. Ihre Stimme hallte in der Leere wider.

»Nicht ganz«, antwortete Onkel Hängebacke mit dröhnender Stimme. »Ich habe eine Kiste mit den alten englischen Büchern deines Vaters gefunden.«

»Die Enzyklopädien?« Als kleines Mädchen hatte sie oft auf den Knien ihres Ah-Ba gesessen, während er ihr aus der Encyclopaedia Britannica vorgelesen hatte. »Ist die Ausgabe von The Household Physician dabei?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Er nickte. »Ich habe auch die alten Familienporträts in einem der hinteren Zimmer gefunden, ah.«

»Du meinst doch nicht etwa die Porträts von Großtante Ying?« Lu See schnitt eine Grimasse und machte dabei ein Gesicht wie eine alte Hexe.

Onkel Hängebacke begann zu wiehern. »Frankensteins Braut wie sie leibt und lebt!«

»Die Japsen müssen sich zu Tode erschrocken haben, als sie sie das erste Mal gesehen haben. Sie sieht ungefähr so gut aus wie ein Korb voller Krabben.«

»Aiyoo! Beleidige doch nicht die Krabben.«

Sie lachten und klatschten in die Hände.

»Und erst die armen Plünderer! Kannst du dir vorstellen, was sie gedacht haben müssen, als sie hier mitten in der Nacht eingebrochen sind und dann von diesen Glupschaugen böse angestarrt wurden?«

»Sie haben sich bestimmt in ihre Sarongs gepinkelt.«

»Und wurden auf der Stelle in Stein verwandelt.« Onkel Hängebackes schallendes Gelächter klang volltönend und rollend.

Und als sie da standen und sich alle vor Lachen bogen, zog sich die Düsternis wenigstens einen Moment lang zurück.

Lu See hatte sich in den letzten drei Jahren jeden Tag gezwungen, unerschütterlichen Gleichmut zu zeigen. Sie hatte ihren Verstand vor den Geschichten von Verhaftungen durch die Kempeitai, den Berichten über Razzien und spurlos verschwundene Freunde verschlossen. Stattdessen hatte sie alles versucht, um den Alltag ihrer Familie so normal wie möglich zu gestalten. Sie hatte dafür gesorgt, dass kein Geburtstag, kein Klößchenfest und kein chinesisches Neujahrsessen vergessen wurde, selbst wenn der Mangel an Zucker und Eiern die Kuchen weniger süß und die Klößchen weniger saftig hatte werden lassen.

»Du hast bald Geburtstag«, sagte sie jetzt und wuschelte ihrer Tochter dabei durch die Haare. »Vielleicht gelingt es uns ja, das Haus bis dahin wieder herzurichten.«

»Wann ist eigentlich dein Geburtstag, Mama? Du sagst nie etwas, und wir feiern auch nie.«

»Ich sage nichts, weil ich nicht gern daran erinnert werde.«

»Warum?«

»Weil es eben so ist!« Lu See war angesichts ihres scharfen Tons selbst erschrocken. Sie versuchte das Bild von Adrian, der das Dach der King’s Chapel hinaufkletterte, in einen der hintersten Winkel ihres Gedächtnisses zu verbannen. »Es tut mir leid, Kleines. Ich wollte dich nicht anschreien.«

»Ist schon okay, Mama.«

Lu See sah Mabel an und lächelte. Als diese ihr Lächeln erwiderte, war sie erleichtert. Lu See nannte ihre Tochter oft »meine tapfere kleine pendekar-Kriegerin«. Sie hatte alles Menschenmögliche getan, um sie vor dem Grauen des Krieges, das die Japaner mit sich gebracht hatten, zu beschützen.

»Kinder haben erst dann Respekt vor einem Dornenbusch, wenn sie einmal in einem hängen geblieben sind«, hatte sie auf dem Höhepunkt der Schreckensherrschaft einmal zu Onkel Hängebacke gesagt. »Solange es mir gelingt, Mabel von alledem fernzuhalten, wird es ihr gut gehen.«

»Aber sie hat doch Augen im Kopf. Du kannst die Hässlichkeit des Krieges nicht vor ihr verbergen. Wenn zwei Büffel kämpfen, dann wird nun einmal auch das Gras zertrampelt, eh!«

Ihre Tochter war jetzt fast neun Jahre alt. Lu See hatte sie während des Krieges nur ein einziges Mal weinen sehen. Es war nicht der Tag gewesen, als ihr Großvater gestorben war, es war der Tag gewesen, an dem man sie aus ihrem Zuhause vertrieben hatte, der Tag, an dem Mabels Kindheit abrupt geendet hatte.

Onkel Hängebacke hatte stets gesagt, dass das, was er am meisten an Tamarind Hill liebe, seine beruhigende Atmosphäre sei. 1942 hatten die Japaner diesen Frieden zerstört. Sie waren vom Norden her, von der thailändischen Grenze, nach Malaysia einmarschiert und auf dem Landweg vorgerückt. Aber statt durch den Dschungel vorzudringen, waren sie mit Lastwagen und Fahrrädern auf der von Norden nach Süden führenden Straße vorgestoßen. Auf ihrem Marsch durch die Dörfer und Städte hatten sie jeden, der ihnen begegnete, durchsucht, Wertsachen und Bargeld konfisziert. Als die Soldaten in Tamarind Hill eingefallen waren, hatten sie allen Bediensteten befohlen, sich in einer Reihe aufzustellen. Dann hatten sie die jüngsten Dienerinnen gezwungen, auf die Ladefläche eines Lastwagens zu steigen. Lu See war aus dem Haus gestürzt, um dagegen zu protestieren, hatte aber schnell erkennen müssen, dass das völlig zwecklos war. Die Japaner hatten, um jede Gegenwehr schon im Keim zu ersticken, ihre Bajonette auf die Gewehre aufgepflanzt. Auf der Ladefläche des Lastwagens hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits achtzehn bis zwanzig Mädchen, starr vor Angst, zusammengedrängt. Einige hatten blutige Nasen oder aufgeplatzte Lippen gehabt. Die Soldaten hätten auch Lu See ergriffen, wenn nicht in ebendiesem Moment Oberst Tozawa vor dem Haus eingetroffen wäre.

Der Oberst hatte, auf dem Sitz seines offenen Panzerspähwagens stehend, unmissverständlich klargestellt, dass nur drei Mädchen pro Dorf mitgenommen würden.

»Feldwebel, ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Halten Sie Ihre Männer unter Kontrolle. Bei einer Missachtung dieses Befehls werden sich die Schuldigen vor mir persönlich zu verantworten haben. Drei pro Dorf, nicht mehr, nicht weniger. Die Disziplin muss in jedem Fall gewahrt werden!«

»Mama, sie nehmen Ah Ling mit!«, hatte Mabel geschluchzt.

»Ich weiß«, hatte Lu See erwidert, während sie versucht hatte, das Jammern der Mädchen auszublenden. Sie hatte mit weißem Gesicht dagestanden, hatte die Hände auf Mabels Schultern gelegt und sie mit ihrem Körper abgeschirmt. »Sieh zu Boden, Mabel, sieh zu Boden. Schau weg«, hatte sie gesagt und dabei versucht, nicht hysterisch zu klingen.

Von diesem Tag an bis zum Ende des Krieges waren sowohl Mabel als auch Lu See jedes Mal zusammengezuckt, wenn sie den Motor eines Lastwagens hörten.

Ah Ling war ihr Küchenmädchen gewesen, ein junges, fröhliches Ding vom Lande. Dreiundzwanzig Jahre alt. Lu See sollte sie nie wieder sehen.

Jetzt, da Tamarind Hill wieder in ihrem Besitz war, arbeitete Lu See von früh bis spät. Sie pflügte das Land, grub die verwelkten Stängel Zitronengras und die letzten Zwiebeln aus der Erde und säte dann leicht zu kultivierende Feldfrüchte wie Tapioca und Süßkartoffeln. Stück um Stück brachte sie das Haus wieder in Ordnung. Sie lüftete die Zimmer, fegte die Scherben zusammen, säuberte die Schlafzimmer, bezog die Betten frisch, stellte Rattenfallen auf und verbarrikadierte die eingeschlagenen Fenster mit Brettern. Immer wieder brachte sie auch von der Schutthalde des Dorfes einzelne Gegenstände mit, die die Plünderer dort entsorgt hatten, Dinge wie eine Schneiderpuppe, alte Schirme und Gehstöcke. Einmal fand sie sogar eine, wenn auch ziemlich ramponierte, Nähmaschine. Sie hoffte, all das vielleicht eines Tages gegen Lebensmittel eintauschen zu können. Wenn die japanischen Besatzer sie eines gelehrt hatten, dann sparsam zu sein.

Peter und James nutzten inzwischen ihre handwerklichen Fähigkeiten, um die beschädigten Bodendielen und die Türgriffe zu ersetzen. Im Garten stellten sie eine Schaukel auf, die sie aus einem alten Autoreifen gefertigt hatten. Ihre Mutter nähte Kleider aus alten Vorhängen und schnitt Sandalen aus kaputten Gummireifen zu. Die Kleider, die sie für Mabel nähte, verzierte sie oft sogar mit Falten, die aussahen wie eine Jalousie.

Es waren lange und anstrengende Tage. Abends, wenn die Sonne unterging, nahm Lu See Adrians alte Armbanduhr ab und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Die Uhr war nach wie vor defekt, aber Lu See brachte es einfach nicht über sich, sie in eine Schublade zu legen – noch nicht. Es war, als wäre Adrian noch immer bei ihr, solange sie die Uhr in der Nähe ihres Pulses trug.

Während der kurzen Momente, wenn Lu See die Armbanduhr abgelegt hatte, rieb Mabel die rauen Hände ihrer Mutter mit Palmöl ein, um die Schwielen zu glätten und die aufgesprungene Haut mit Feuchtigkeit zu versorgen. Danach kämmte Lu See ihrer Tochter die Haare und entwirrte vorsichtig die Knoten, bevor sie sie zu einem langen Zopf flocht.

Seit der Kapitulation der Japaner waren mehrere Wochen vergangen. Mabel war auf der Suche nach Peter und James und fand die beiden im alten Gemüsegarten hinter dem großen Haus, wo sie gerade Zitronengrasschößlinge aus der Erde zogen. Beide trugen Armeeshorts, die ihnen viel zu groß waren. Wie üblich lagen sie sich wieder einmal in den Haaren.

»Ganz sicher nicht. Nein, das werde ich nicht tun«, sagte James, und wieder einmal sahen seine Augen, die aus dem Kopf hervortraten, wie Murmeln aus. Er begann, Hampelmann-Sprünge zu vollführen und laut aus dem Buch Ruth zu zitieren.

Peter verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Also, die Sitzung ist morgen um neun. Es wird von dir erwartet, dass du erklärst, was geschehen ist.«

»Bist du taub? Ich sagte doch, dass ich das nicht machen werde!«

»Nun, irgendjemand muss dafür gerade stehen, dass fünfhundert Bögen mit dem falschen Aufdruck aufgelegt wurden.«

»Sie können das doch einfach als Fehldruck verbuchen.«

»Irgendjemand muss trotzdem die Verantwortung dafür übernehmen.«

»Ich werde das jedenfalls nicht sein!« James riss wütend an einem Büschel Zitronengras. Seine Hand fuhr in die Luft, als sich das Kraut mit einem Ruck aus der Erde löste. Kleine Erdklumpen regneten auf seinen Kragen und seinen Nacken herab.

»Pass doch auf, du Tollpatsch!«

»Ach, sei du doch still!«

Lu See stellte sich neben Mabel. »Worüber in aller Welt streitet ihr euch denn jetzt schon wieder?«

Peter verdrehte die Augen, wischte Erde von seinem Hemd. »Dein genialer Bruder hat nicht achtgegeben, und jetzt trägt die ›Wiedergeburt‹-Briefmarkenserie den Aufdruck Burmesische Okkupation. Der Generalinspekteur ist stinksauer.«

Lu See gab sich Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. »James, du Dussel, hast du dir die Probedrucke denn nicht angesehen?«

»Man kann doch von mir nicht erwarten, dass ich mich so schnell auf das neue System umstelle!«

»Und von welchem neuen System sprichst du?«, fragte Peter und stieß seinen Bruder dabei mit der Schulter zur Seite. »Von einem, das Briefe in alle Welt verschickt, mit Marken, die verkünden, dass wir nunmehr von den Burmesen überrannt worden sind?«

»Du bist doch derjenige, der für die Qualitätskontrolle zuständig ist!«

»Aber deine Aufgabe ist es, schon im Vorfeld Fehler auszumerzen.«

»Und deine, das Ganze noch einmal zu kontrollieren!«

»Jehova ist mein Zeuge, du bist der unfähigste Mensch, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.«

»Um genau zu sein: Das bist du auch.«

»Nun, wenigstens stimmen wir in diesem Punkt überein.«

»Genau.«

»Aber du hast noch immer unrecht.«

James schüttelte den Kopf. »Du bist ein solcher fan-tung. Kein Wunder, dass Irene Ting dich nicht heiraten wollte!«

Lu See, die sich gerade zu einem Büschel wilder Minze heruntergebeugt hatte, richtet sich wieder auf und wedelte mit den Armen. »Frieden. Frieden.«

»Nur wenn James zugibt, dass er unrecht hat«, sagte Peter.

»Du musst immer das letzte Wort haben, nicht wahr?«, fauchte James zurück.

»Tu ich nicht!«

»Siehst du?«

»Was soll ich sehen?«

Nachdem sie noch eine Weile weitergestritten hatten, drohte schließlich einer dem anderen damit, ihm den Mund zuzukleben.

Mabel sah Lu See kichernd an und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Weißt du, Mama«, sagte sie. »Ich bin mordsmäßig froh, dass ich Einzelkind bin.«

»Nun, mein mordsmäßig frohes Einzelkind, ich habe da eine Aufgabe für dich«, sagte Lu See. »Wie du weißt, haben die Japaner die Dorfkirche als Pferdestall genutzt. Holen wir uns also Besen und Eimer und machen sie sauber. Und wenn wir damit fertig sind, werden wir in den Dschungel gehen und einen Schatz ausgraben.«

»Was für einen Schatz?«

»Etwas, das in die Kirche gehört. Du wirst schon sehen.«

Ein paar Stunden später sah die Kirche wieder so aus wie früher. Und sie roch auch so. Lu See und Mabel hatten geschrubbt, gescheuert und gekratzt, um den stinkenden Pferdemist zu entfernen. Es war ihnen sogar gelungen, dem Spieltisch und der Pedalklaviatur der Orgel etwas von ihrem früheren Glanz zurückzugeben. Zwar fehlten einige der Registerzüge, und im Gehäuse zeichneten sich etliche Hufabdrücke ab, insgesamt aber war Lu See nicht unzufrieden.

»Der Schaden ist nicht allzu groß«, sagte sie und wischte dabei mit einem feuchten Handtuch über das oberste Paneel.

Mabel stellte sich neben sie und ließ ihre Finger langsam über die Tasten wandern. »Wieso kommt denn da kein Ton raus?«

»Das ist genau der Grund, warum wir in den Dschungel gehen und den Schatz ausgraben müssen.«

Onkel Hängebacke hob grinsend den Kopf und spielte an einem seiner Ohrläppchen herum. Er stand im Eingang der Kirche und sah hinein. »Ah! Du hast ein wahres Wunder vollbracht.«

»Nun, irgendjemand musste es ja tun.«

»Wann werden wir die Pfeifen holen? Wenn die Briten wieder die Kontrolle im Land übernommen haben?«

»Ja, lass uns noch so lange warten, bis endgültig wieder Recht und Ordnung herrscht. Es sind noch immer Plünderer unterwegs.«

»Wirklich beeindruckend, wie du nicht nur die Kirche, sondern auch das Haus wieder hergerichtet hast. Dein Vater wäre stolz auf dich«, sagte er, seinen Stumpen paffend.

»Wenn er nicht zur Flasche gegriffen und sich am Ende sogar erschossen hätte, könnte er das Ergebnis mit eigenen Augen sehen.« Sie merkte, dass in ihrer Stimme nur wenig Bedauern lag.

»Haarwasser zu trinken. Dumm, so dumm, eh?«

»Mein Ah-Ba war zu diesem Zeitpunkt schon sehr krank. Er war nicht mehr richtig im Kopf. Aber das war schließlich kein Wunder. Die Japaner haben ihn gezwungen, die Plantage zu 125 Dollar pro Hektar an die Mitsui Group zu verkaufen. Vor dem Krieg war der Hektar 800 Dollar wert!«

»Eher 1000 Dollar. Aahh, du kennst doch meinen Freund Perak Suan, ah, er ist letzte Woche an einer Lungenkrankheit gestorben. Fang nie an zu rauchen. Das ist sehr ungesund. Sag das auch deiner Tochter.«

»Und warum rauchst du dann?«

»Ich rauche nicht. Ich halte die Moskitos fern. Mein Großvater hat übrigens Sumatra-Zigarren geraucht, bis er 94 war.«

»Und dann ist er gestorben.«

»Nein. Er ist auf Pfeife umgestiegen. Aber wie dem auch sei, du darfst den Rauch niemals inhalieren.«

Gedankenverloren lockerte Lu See das Band ihrer Armbanduhr und rieb sich ihr Handgelenk. Sie schüttelte irritiert den Kopf. »Wovon haben wir gerade gesprochen?«

»Davon, dass die Japaner deinem Vater die Gummiplantage abgekauft haben«, sagte er und hob dabei herausfordernd den Kopf.

»Ja, und dann haben sie auch noch seinen Bentley konfisziert.«

»Und besaßen die Frechheit, ihn als ›Geschenk an die Kaiserliche japanische Regierung‹ zu bezeichnen.« Der massige Mann schnaubte verächtlich, rieb sich den Scheitel mit Zigarrenasche ein und schüttelte dann sein Hemd aus. »Haben ihm eine Bescheinigung gegeben und das Ganze dann ein Geschenk genannt. Verdammte Straßenräuber, aahh.«

Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater sich immer mehr zurückgezogen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits unten am Fluss in dem kleinen Haus im chinesischen Stil gelebt. Er hatte sich mit einem Revolver in der Küche eingeschlossen und getrunken. Als er mit dem Whisky fertig gewesen war, war er zu Brandy übergegangen, dann hatte er zu Haarwasser und zu Rasierwasser gegriffen und schließlich zur Waffe.

Er hat vor Wut geschnauft und sich das Gehirn weggeblasen.

Immer wenn sie an einem Tiefpunkt angelangt war, musste sie daran denken, wie sie ihn mit explodiertem Schädeldach gefunden hatte.

Lu See blies ihre Backen auf. »Du weißt, dass seine Hände am Schluss so zitterten, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, sein Rasiermesser ruhig zu halten. Er musste sich von mir rasieren lassen.«

Onkel Hängebacke legte Daumen und Zeigefinger auf seine Kehle. »Eine verdammte Tragödie. Aber so ist das Leben nun einmal. Einfach verrückt.«

Bei der Erwähnung ihres Ah-Bas hatte sich eine seltsame Kälte in Lu Sees Adern ausgebreitet. Jetzt ging sie nach draußen und setzte sich auf die Stufen vor der Kirche. Sie schloss die Augen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.