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In der darauffolgenden Woche versprach Adrian den Mädchen, mit ihnen nach London zu fahren, um Lu Sees Erfolg zu feiern.
Ein Tag im Zoo und ein Besuch im Museum für Naturgeschichte! Lu See konnte ihre Begeisterung kaum im Zaum halten.
»Das wird ein Riesenspaß, meinst du nicht auch, Kürbiskopf? Du wirst vielleicht sogar deine Festminister-Abtei sehen. Wenn wir in London sind, werde ich Conrad P. Hughes, dem Orgelbauer, einen Besuch abstatten.«
Pietro hatte beschlossen, sie bei ihrem Ausflug zu begleiten.
Sie schlenderten im Wartesaal des Bahnhofs von Cambridge umher, bevor sie in den 9.45-Uhr-Zug nach King’s Cross stiegen. Der Zugbegleiter ließ, sich aus einer Waggontür lehnend, seine Pfeife ertönen, und eine dichte Dampfwolke aus dem Schornstein der Lokomotive hüllte den Zug ein.
Adrian war in einen Plaid und einen zweireihigen Windsoranzug gekleidet, auf seinem Kopf thronte ein Homburg im Stil von James Cagney. Seinen Mantel trug er lässig über dem Arm. Lu See nahm an, dass er sich an diesem Morgen in aller Eile angezogen hatte, denn sein hinteres Kragenknöpfchen fehlte.
»Ich liebe deine Garderobe«, flötete Pietro. »Gefällt dir mein Hut? Er ist von Elsa Schiaparelli. Ein Damenhut, ich weiß«, er seufzte, »aber ich musste ihn einfach haben.«
Als Lu See zusah, wie Sum Sum Platz nahm, fiel ihr etwas auf, was sie bei ihrer Freundin noch nie gesehen hatte – sie kam ihr irgendwie verdrießlich vor. Sum Sum war stets reizbar, manchmal auch überempfindlich, aber sie war noch nie verdrießlich gewesen.
Es muss dieses graue Wetter und das schwer verdauliche englische Essen sein, entschied sie. Die vielen Schweinepasteten! Aber das ist doch kein Grund, dass sie sich benimmt wie eine beleidigte Leberwurst.
Lu Sees musternden Blick einfach ignorierend tat Sum Sum so, als würde sie in einer Ausgabe des Modern-Screen-Magazin lesen, dessen Cover ein Bild von Marlene Dietrich zierte. Adrian steckte seine Nase indessen in den Manchester Guardian. Nach einer Weile murmelte er etwas von deutschen Truppen, die das Westufer des Rheins überschritten hätten.
»Das ist eine schwerwiegende Verletzung des Versailler Vertrags«, sagte er kopfschüttelnd, anscheinend mehr zu sich selbst als zu einem von den anderen. »Verdammte Faschisten!«
Draußen vor dem Fenster fiel ein beständiger Nieselregen, der sich als feiner Nebel auf die Scheibe legte.
Pietro klatschte in die Hände, um alle aufzumuntern. »Wenn wir heute Abend wieder in Cambridge sind, seid ihr alle zum Essen in der Christ’s College Hall eingeladen. Ich habe dem Chef de Cuisine gesagt, dass er etwas ganz Besonderes zubereiten soll – ich habe sogar angeboten, ihm zur Hand zu gehen.«
»Du? Kochen? Nein, lah!«, verkündete Sum Sum, die von dieser Neuigkeit wenigstens vorübergehend aus ihrer Lethargie gerissen wurde.
Sichtlich gekränkt setzte Pietro seinen Hut ab und fuhr sich mit seinen Fingern durch die blonden Haare. »Du musst wissen, Samson, dass die Familie meiner Mutter aus Italien kommt. Das Kochen ist somit Teil dessen, was meine Familie mir vererbt hat. Und wenn wir schon von Erbe sprechen: Gehen wir gleich ins Museum, wenn wir nach London kommen?«
Adrian schüttelte den Kopf. »Als Erstes werden wir Lu Sees Orgelbauer aufsuchen. Und dann gehen wir erst einmal in den Zoo.«
Als sie am King’s Cross ankamen, schoben sie sich an den rot livrierten Gepäckträgern vorbei und riefen dann ein Taxi. Sum Sum hatte zwar eine vage Vorstellung davon, wo London lag, wusste jedoch weder, wo sie die Stadt auf einer Landkarte hätte suchen sollen, noch wie groß oder klein sie war. Als sie jetzt aus dem Taxifenster starrte, war sie ein wenig enttäuscht. Das, dachte sie, das soll also das Herz des Empires sein?
»Alles so grau und schmutzig hier. Sieht nicht so aus wie Fotos von Big Ben und Pack-in-Hemd-Palast.«
Das Taxi setzte sie vor einem Ladengeschäft in der Nähe der U-Bahn-Station Angel ab. Über dem Haupteingang war ein schwarzes Vitrolite-Glasschild mit der Aufschrift Conrad P. Hughes – Orgelspezialisten in erhabenen karminroten Buchstaben angebracht. Im Laden wurde Lu See von einem feingliedrigen bekümmert wirkenden Mann in einem Maßanzug begrüßt. Irritiert bemerkte Lu See, dass seine Schuhe nicht zusammenpassten. Sie hatten unterschiedliche Farben.
»Conrad P. Hughes, zu Ihren Diensten«, sagte er. »Miss Teoh, richtig? Ja, ich habe letzte Woche Ihren Brief erhalten.« Er musterte Adrian, Sum Sum und Pietro der Reihe nach. »Es geht um ein Projekt, das Sie in Malaysia geplant haben, wenn ich mich recht erinnere. Ja, wir wären mehr als glücklich, den Auftrag anzunehmen.«
Er nahm sich die Zeit, ihnen einen niedrigen Schrank mit Glasfront zu zeigen, in dem eine stattliche Reihe von Miniatur-Orgeln standen.
»Alle Modelle sind maßstabsgetreu gefertigt«, erklärte er. »Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen und hier Platz nehmen würden …«
Die nächsten Minuten verbrachte er damit, den vier Personen, die sich zunächst ein Bild von seiner Arbeit machen wollten, sich selbst und seine Entwürfe vorzustellen.
»Wie lange sind Sie in diesem Gewerbe schon tätig, Mr Hughes, wenn Sie mir die Frage gestatten.«
»Aber selbstverständlich, Miss Teoh«, erwiderte er und betastete dabei stolz das Revers seines Maßanzugs. »Ganze sechzehn Jahre. Es ging zwar auch ein wenig auf und ab, insgesamt ist das Geschäft aber sehr gut gelaufen. Soll ich Ihnen die technischen Details einer Orgel erläutern?«
»Bitte, tun Sie das.«
Fast eine halbe Stunde lang erklärte er ihnen die einzelnen Konstruktionsmerkmale des Instruments, erläuterte, wie der Klang mithilfe des Windkastens, der Lingual- und Labialpfeifen sowie der Registertraktur erzeugt wurde, und dass jede Pfeife einem Ton entsprach.
»Es ist nicht wie bei einer Flöte oder einer Klarinette, mit der man je nachdem, welche Klappen man betätigt, verschiedene Töne erzeugen kann. Nein, der Ton einer Orgelpfeife wird allein durch deren Länge bestimmt.«
»Wie viele Pfeifen werden wir brauchen?«, fragte Lu See.
»Normalerweise umfasst das Manual einer Kirchenorgel fünf Oktaven, vom großen bis zum dreigestrichenen C. Und jede Oktave besteht aus zwölf Halbtönen, daraus ergeben sich einundsechzig Pfeifen.«
»Das ist jede Menge Rohr«, bemerkte Pietro lakonisch.
»Unsere Pfeifen werden nur aus dem besten Kupfer und Aluminium gefertigt. Bei diesem Punkt sind wir zu keinen Kompromissen bereit. Was wir von Ihren Leuten in Malaysia allerdings brauchen, sind Einzelheiten zum Hauptwerk und dem Schwellwerk. Hier«, sagte er und reichte Lu See ein kleines Heft, »in dieser Broschüre ist alles genau erklärt. Es bezieht sich auch auf den Tonumfang, den Sie für Ihre Orgel haben wollen. Wenn wir erst einmal eine Vorstellung haben, wie Ihre Wünsche aussehen, können wir die Sache mit ein paar Zeichnungen und Skizzen in Angriff nehmen.«
Hocherfreut schüttelte Lu See Conrad P. Hughes die Hand und verabschiedete sich.
Nachdem sie das erledigt hatten, hielten sie ein weiteres Taxi an und machten sich auf den Weg zum Regent’s Park Zoo.
»Insgesamt ein durchaus vielversprechendes Gespräch, meinst du nicht auch, Goosey?«
»Ja«, erwiderte Lu See, die in Gedanken bereits einen Brief an ihre Zweite Tante Doris verfasste.
»Sieht so aus, als wären da einige Straßen gesperrt, Mister«, sagte der Taxifahrer.
Das Taxi bog nach Norden in die Eversholt Street ein. Ein paar Sekunden später sahen sie eine Menschenmenge, die sich an der Camden High Street versammelt hatte.
»Streiks«, murmelte Adrian in gedämpftem Ton.
Sum Sum fasste sich unwillkürlich mit einer Hand an den Hals.
Ein Stück weiter, an der Oval Road, fuhren sie an einem heftigen Gedränge vorbei. »Arbeitslose, bleibt in Bewegung!«, ertönte der Ruf durch ein Messingmegafon. »Arbeiter der Welt, vereinigt euch!«
Demonstranten in schmuddeligen Hosen und Unterhemden marschierten mit Transparenten und Plakaten die Straße auf und ab. Sie bildeten dabei Gruppen von sechs oder sieben Personen und drängten sich an Frauen und Kindern vorbei, die am Straßenrand standen. Ihre Rufe unterbrachen sie immer wieder mit Gesang und Pfiffen.
Während Pietro auf einen »schnuckeligen Kerl mit herrlich muskulösen Armen« deutete, betrachtete Lu See das Spektakel voller Staunen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass ihnen hier keine Gefahr drohte: Diese Menschen interessierten sich nicht für sie. Ihr Protest richtete sich allein gegen jene, die Macht und Einfluss hatten.
»In Malaysia würde eine solche öffentliche Unmutsbekundung in kürzester Zeit die Armee auf den Plan rufen«, hörte sie sich sagen.
Weiter die Straße hinunter protestierte die NUWM, die Nationale Arbeitslosenbewegung.
»Hungerkundgebung«, informierte Adrian sie. »Ich wollte, dass du das einmal siehst«, fuhr er fort.
Die Demonstranten schlugen auf ihre Trommeln und hielten Blecheimer als Sammelbüchsen vor sich. Streikposten forderten lautstark, man solle die Bedürftigkeitsprüfung abschaffen.
»Schmeißt die Leute vom Arbeitsamt raus«, schrien sie.
»Nieder mit der Nationalen Regierung!«, kam als Antwort.
Berittene Polizisten begleiteten den Aufmarsch und versuchten, für Ordnung zu sorgen.
Lu See sah Adrian an. »Wusstest du, dass hier eine Kundgebung stattfindet?«
Adrian gab zu, dass Lu See mit ihrer Vermutung recht hatte. »Meiner Meinung nach ist es ungeheuer wichtig, dass du das hier einmal direkt miterlebst. Um dein politisches Bewusstsein zu schärfen.«
»Falls du vorhast, mich zu einer Kommunistin zu machen, dann kannst du dir die Mühe sparen. Ich vertraue auf die Religion. Ich vertraue auf den Kapitalismus!«
Lu See spürte, wie die Luft im Taxi sofort zu knistern anfing, so wie immer, wenn sie und Adrian über Politik debattierten. Sie versteifte sich, weil sie wusste, was als Nächstes kommen würde.
»Und was ist mit dem Faschismus?«, fuhr er fort. »Und mit dem Imperialismus? Vertraust du auf den auch? Wünschst du dir denn kein freies Malaysia?«
»Ja, schon, aber erst, wenn das Land reif dafür ist.«
»Und wer entscheidet, wann wir reif sind? Die Kolonialherren oder das Volk von Malaysia?«
Lu See wurde langsam ärgerlich. »Was soll das ganze Theater eigentlich? Versuchst du, mich zu bekehren oder, schlimmer noch, mich zu radikalisieren?«
»Nein, ich möchte nur, dass du die Welt so siehst, wie sie wirklich ist! Ich glaube nicht, dass du Angst vor Veränderungen haben solltest. Habe ich dir nicht beigebracht, dich deinen Ängsten zu stellen?«
»Wie kannst du mir vorwerfen, ich würde Veränderungen fürchten? Ich habe meine Familie verlassen! Ich bin in England, das ist wohl Beweis genug, dass ich mich meinen Ängsten stelle, oder etwa nicht?«
»Ich meinte politische Veränderungen.«
Lu See schüttelte den Kopf und wandte sich Sum Sum zu. Diese zog eine Augenbraue hoch und tat weiterhin so, als würde sie in ihrer Modern Screen lesen.
Im Zoo besuchten sie das Reptilienhaus, das Aquarium und das Affengehege, wo Pietro lautstark einen männlichen Affen schalt, weil dieser ungeniert masturbierte. Auf der künstlich angelegten Felsenlandschaft der Mappin Terraces sahen sie Eisbären und Schneeleoparden. Sie durften sogar die Pinguine füttern. Ein leichter Nieselregen fiel, der den Pinguinen offensichtlich weit mehr behagte als den Zoobesuchern. Adrian hatte seinen Homburg tief ins Gesicht gezogen.
Nach ihrem Besuch im Zoo aßen sie in einem Restaurant in Marylebone zu Mittag. Eine Kellnerin mit einem weißen Häubchen mit gekräuselten Rändern auf dem Kopf und einer raschelnden Uniform aus schwarzem Satin servierte ihnen Lammkoteletts mit Kartoffeln. Sie ließen es sich schmecken, nur Sum Sum stocherte lustlos in ihrem Essen herum.
»Fühlst du dich nicht wohl, Kürbiskopf?«, fragte Lu See.
Sum Sum zuckte mit den Schultern. »Ich okay, lah.«
»Du lässt noch Platz für das Essen heute Abend«, kommentierte Pietro den Wortwechsel der beiden anerkennend. »Kluges Mädchen.« Er schnippte die Asche seiner Zigarette, die in einer schlanken Zigarettenspitze steckte, in einen Standaschenbecher aus Messing. »Natürlich wird es ein Vier-Gänge-Menü geben. Drei Gänge sind so schrecklich gewöhnlich.«
Lu See fiel auf, wie modisch die Damen in London gekleidet waren. Die Frauen schmückten sich mit langen Perlenketten, trugen ihr Haar kurz mit Wasserwellen oder in weichen Locken. Einige hatten glockenförmige Cloche-Hüte auf dem Kopf, andere Turbane aus Samt, die schräg auf den Scheiteln saßen. Ihre Kleider zeigten, verglichen mit jenen, die die Frauen in Cambridge trugen, wesentlich mehr Eleganz, waren passgenauer und hatten breitere Schultern.
Nach dem Mittagessen gaben sie dem Garderobenfräulein ein Trinkgeld, dann nahmen sie ein Taxi zum Museum für Naturgeschichte. Als sie die Marylebone Road entlangfuhren, stand eine lange Schlage von Männern mit übergroßen, flachen Mützen vor Grimble’s Vinegar Factory, um dort nach Arbeit zu fragen. Pietro und die Mädchen bemühten sich, die Männer nicht taktlos anzustarren. In der Edgeware Road sahen sie immer wieder Menschen, die ihre Wohnungen hatten räumen müssen und deren Möbel nun am Straßenrand standen. Ein kleines Stück weiter kickten Kinder mit schmutzigen Knien einen Ball aus zusammengerollten Zeitungen zwischen maroden Ziegelmauern hin und her. Die Mauern waren mit Plakaten der Kommunistischen Partei, antisemitischen Sprüchen und Anschlagzetteln beklebt, die für Fry’s Pure Breakfast Cocoa (4 ½ Pence pro ¼ Pfund) warben.
Sie verbrachten vier Stunden im Museum. Am frühen Abend hielten sie ein weiteres Taxi an. Der Taxifahrer kurbelte sein Fenster herunter, als sie auf den Wagen zugingen: »Wohin soll’s geh’n?«
»Zur King’s Cross Station, bitte«, antwortete Adrian.
»Das soll wohl’n Witz sein! Wissen Sie denn nich, dass da ’ne verdammte Kundgebung is? Fast die ganze Euston und die Hälfte der Straßen nordöstlich vom Hyde Park sind gesperrt.«
»Was für eine Kundgebung?«
»Ne Demonstration gegen die Massenarbeitslosigkeit. Aber da is auch ’ne Unmasse von Linken, die gegen die Faschisten auf die Straße gehen.«
»Wir müssen aber zum Bahnhof. Unser Zug geht um sechs.«
»Für zwei Schilling extra kann ich ’nen Umweg durch Kensington, über die Picadilly und dann rauf durch die Farringdon machen. Wie wär’s damit?«
»Sehr gut.«
Das Taxi fuhr los.
»Diese Dinosaurierknochen waren schon toll, findet ihr nicht auch?«, strahlte Adrian.
Pietro überprüfte im Spiegelbild der Fensterscheibe seine Frisur. »Ein Ausflug ins Museum ist immer ein bisschen, als würde man Topfschlagen spielen, nicht wahr? Es macht wirklich Spaß, aber nur, wenn es nicht allzu lange dauert.«
Als sie am Hyde Park entlangfuhren und an der Abzweigung Queen’s Gate vorbeikamen, fiel Lu See auf, dass sich noch mehr Menschen auf den Straßen versammelt hatten als am Nachmittag. Viele Straßen waren bereits nicht mehr passierbar. In der Nähe der Kensington Gore wurde eine der Fahrbahnen von einem Doppeldeckerbus blockiert, dessen Reklameaufschrift für Schweppes Sparkling Lime warb.
»Was ist denn da vorn los?«, fragte sie und packte Adrian am Arm. »Wer sind diese Leute?«
»Mosleys Faschisten«, zischte Adrian unter seinem Homburg verächtlich hervor.
»Sag dem Fahrer, er soll umkehren!«
»Sei nicht albern, Goosey.«
Die Stimmung auf der Straße unterschied sich deutlich von dem, was sie noch wenige Stunden zuvor beobachtet hatten. Dies hier war keine Demonstration, es ähnelte vielmehr einer Rebellion. Immer mehr unbarmherzig dreinblickende, hässliche Gesichter waren zu sehen, sie gehörten zu etwa dreißig Männern in schwarzen Hemden und mit schwarzen Kappen. Einige von ihnen verteilten die Fascist Week.
Sum Sum starrte verwirrt aus dem Fenster. »Warum haben sie an ihr Arme die Swastikas von Hindus?«
»Sag dem Fahrer, er soll umkehren!«, drängte Lu See Adrian noch einmal.
»Uns wird nichts passieren.«
Der Taxifahrer sah in den Rückspiegel. »Hier geht’s drunter und drüber, Mister. Die verflixten Rechten beschuldigen die Juden, dass sie versuchen würden, Britannien in den Krieg gegen Deutschland zu treiben. Die Linken nennen Baldwin Hitlers Marionette. Und jetzt mach’n auch noch die Gewerkschaften Ärger. Himmelherrgott, die Welt is wirklich bescheuert geworden. Sie sollten jetzt die Köpfe besser unten halten.«
Als das Taxi an der Albert Hall vorbeifuhr, sah Lu See noch mehr düster aussehende Gestalten. »Ich habe kein gutes Gefühl, Adrian.«
»Aiyoo sami, ein Mann dort in Schwierigkeiten«, rief Sum Sum.
Lu See drückte ihr Gesicht an die Scheibe. In der Ferne sah sie einen Menschenauflauf. Während sie sich diesem näherten, wurde ihre Beklemmung immer größer. »Ich will nicht weiterfahren, Adrian!«
Ein Kutschpferd scheute, trat wiehernd aus.
»Lass uns zurückfahren, Adie!«
Zwanzig Meter von ihnen entfernt, in einer schmalen Seitenstraße, sahen sie drei Schwarzhemden, die einen alten Mann anbrüllten, ihn zu Boden stießen, an seinem Bart und den lockigen Koteletten rissen und auf seine Kippa spuckten.
»Anhalten!«, befahl Adrian.
»Das is nich Ihr Ernst!«
»Ich sagte, halten Sie den Wagen an!«
Adrian riss sich den Homburg vom Kopf, sprang aus dem Taxi und rannte auf die Gruppe zu.
Er packte einen der schwarz gekleideten Männer am Kragen und stieß ihn zur Seite. Mit dem Finger auf die anderen zeigend, forderte er sie auf zurückzutreten und half dem alten Mann auf die Beine. Zuerst schienen die Schwarzhemden angesichts seines Muts verwirrt zu sein, dann jedoch breitete sich auf ihren Gesichtern ein niederträchtiger Ausdruck aus.
»Verpiss dich, du Judenfreund!«, schrie einer von ihnen. Er hatte einen blonden Schopf und eine gezackte Narbe am Kinn. »Oho«, höhnte er dann, »noch dazu ein verdammtes Schlitzauge!«
Lu See sah voller Entsetzen, wie der Mann mit der Faust ausholte. Adrian wich einen Schritt zurück und wehrte dann den Schlag mit erhobenem Arm ab, doch einer der anderen trat ihm von hinten gegen das Knie, und Adrian knickte ein. Die Männer umkreisten Adrian wie eine Horde hungriger Krokodile.
»Tun Sie doch etwas!«, schrie Lu See den Taxifahrer an.
»Ich bin doch nich bescheuert! Ihr chinesischer Freund soll das mal schön allein machen!«
Die drei Männer hatten Adrian jetzt umstellt. Sie hielten ihn an den Haaren und an seinem Mantel fest, versuchten ihn zu Boden zu zwingen. Adrian kämpfte, um sich aus ihrem Griff zu befreien, holte mit seinem Arm weit aus, während sie miteinander rangen.
Wenn er zu Boden geht, dann werden sie auf ihn eintreten, dachte Lu See. Sie hörte die Männer schnaufen, ineinander verschlungen wie ein Knäuel von Schlangen.
»Sum Sum, Pietro!«, schrie Lu See. »Wir müssen ihm helfen!«
»Lai-lah, lai-lah! Wir kommen!« Sum Sum zog eine Hutnadel aus ihrer Tasche, während sich Lu See bereits mit dem Regenschirm des Taxifahrers bewaffnet hatte. Sie sprangen aus dem Wagen, genau in dem Moment, als ein brutaler Fausthieb Adrians Gesicht traf.