8

Ganze zehn Tage waren vergangen, seit Lu See den Kommunisten das Dutzend batteriebetriebener Funkempfänger übergeben hatte. Von Stan hatte sie in dieser Zeit nichts Neues gehört. Auch vom Maultier hatte es keinerlei weitere Nachricht gegeben. Sie war inzwischen das reinste Nervenbündel. Anstatt sich an der Unterhaltung zu beteiligen, saß sie still an der Registrierkasse des Il Porco und hörte zu, wie ihre Mutter und Onkel Hängebacke darüber sprachen, dass Malaysia sich immer mehr zum Schlechteren hin veränderte.

»Ich meine, es ist die Art, wie sie mich manchmal ansehen«, sagte Lu Sees Mutter gerade zu Onkel Hängebacke, während sie ihren teh tarik tranken. Wieder einmal zog sie über ihre Mitmenschen her. »Genauso, wie sie Larry Talbot ansehen, weißt du, wenn sie merken, dass er sich gleich in den Wolfsmann verwandelt. Als ob ich irgendein Ungeheuer in mir tragen würde.«

»Was erwartest du denn von einem Haufen debiler Satay-Fresser?!«, schrie Fishlips quer durch den Raum.

»Hören Sie, Mr Foo! Das ist ein privates Gespräch«, antwortete ihm Lu Sees Mutter.

»Hum gaa chaan!«

»Diese Probleme werden noch schlimmer werden«, unkte Onkel Hängebacke. »Zwischen den Chinesen und den Malaien wachsen die Spannungen, aahh. Die Chinesen spüren jetzt die Auswirkungen von Artikel 153 der Verfassung, in dem die Malaien als ›besondere Klasse von Bürgern‹ bezeichnet werden. Singapur macht deswegen ein Riesentheater.«

»Nun, es freut mich, dass du mit mir einer Meinung bist«, bemerkte seine Schwester, wobei sie sich jedoch alles andere als erfreut anhörte. Sie kratzte sich an den Handflächen.

Nachdem Lu See das Restaurant um 23 Uhr geschlossen und mit einem Stock das eiserne Rollgitter heruntergezogen hatte, ging sie zur Registrierkasse, nahm aus dem Banknotenfach einen Zehndollarschein und steckte ihn in den Umschlag, auf dem Juru stand. Dann ging sie die Treppe hinauf und trat durch das Hundegitter. Sobald sie den Deckenventilator eingeschaltet, ihre Schürze abgelegt und an den Haken auf der Rückseite der Tür gehängt hatte, wurde sie von ihren sechs schwanzwedelnden und vor Begeisterung jaulenden Hunden begrüßt.

Sie warteten auf ihr Futter. Lu See füllte die Näpfe in ihrer Küche mit Keksen und Speiseresten, zündete dann die Mückenspiralen an und stellte sie ans Fenster. Nachdem sie sich in der Eimerdusche rasch gewaschen hatte, versuchte sie, zwischen ihren angesammelten Besitztümern etwas Platz zu schaffen. Zwischen den hohen Stapeln von alten Büchern und Zeitungen standen ihr abgestoßener Fischlederkoffer, Mabels rostiges Hawthorne-Fahrrad, einige Töpfe und Pfannen aus Messing, eine Schneiderpuppe, Trittleitern aus Bambus, Kissen, Gehstöcke und Schirme, die mit einer Schnur zusammengebunden waren, mehrere Nähmaschinen, ein stabiler Bollerwagen und eine umfangreiche Sammlung von Farben und Leinwänden.

Das war alles Plunder, aber Lu See brachte es einfach nicht übers Herz, die Sachen wegzuwerfen. Seit sie im Krieg alles an die Japaner verloren hatte, war sie zu einer geradezu zwanghaften Sammlerin geworden. Nichts wurde weggeworfen, egal wie abgenutzt oder alt es auch sein mochte. Mit allem, was sie aufbewahrte, waren Gefühle und Erinnerungen verbunden, aber nachdem sie nun schon seit Jahren Dinge angehäuft hatte, wusste sie langsam nicht mehr, wohin damit. Dennoch war sie fest davon überzeugt, dass all diese Sachen eines Tages als Tauschobjekte ihren Wert haben würden.

Sie starrte die Schließklappen ihres Koffers aus Fischleder an. Vor vielen Jahren hatte sie in ebendiesem Koffer etwas versteckt: einen Brief, den Sum Sum geschrieben hatte, bevor sie in Felixstowe an Bord eines Schiffes gegangen war, um England und damit auch Mabel und Lu See zu verlassen. Lu See hatte versprochen, diesen Brief niemals irgendjemandem zu zeigen, niemals irgendjemandem auch nur davon zu erzählen. Er war das Geheimnis von Sum Sum und Lu See. Der Koffer war seit vielen Jahren nicht geöffnet worden.

Sie nahm die Schneiderpuppe, ignorierte ein weiteres Mal an diesem Tag den Schmerz in ihrem Magen, und versuchte, das unpraktische Ding in einen Schrank zu stopfen. Die Türen des Schranks hatten sich durch die Feuchtigkeit jedoch verzogen und sprangen deshalb immer wieder auf, so fest Lu See auch dagegendrückte.

Genau in diesem Moment fiel wieder einmal der Strom aus. Nicht nur in ihrer Wohnung, sondern in der ganzen Umgebung. Straßenlampen, Gebäudebeleuchtungen, Laternen − alles erlosch. Von plötzlicher Dunkelheit umgeben suchte Lu See sich ihren Weg an der Wand entlang, stieß dabei gegen alle möglichen Dinge, tastete sich voran wie ein Wels mit seinen Barthaaren am Grund eines Flusses.

»Dungeonboy!«, rief sie die Treppe hinunter in die Dunkelheit hinein.

»Haak mung mung, haak mung mung! Es sehr dunkel!«, schrie er zurück, bevor er wieder ein Doris-Day-Lied anstimmte.

»Holst du bitte ein paar Kerzen?«

Er sang ein Kauderwelsch von durcheinandergewürfelten Textzeilen.

»Sie müssten irgendwo in der Küche sein, wahrscheinlich in der Schublade bei den Essstäbchen!«

Bald darauf steckte Dungeonboy seinen Kopf zur Tür herein. Er hatte die Kerzen gefunden und drei davon angezündet. Lu See setzte Batterien in ihr Radio ein. Der Sender spielte gerade einen Song von Bill Haley and The Komets.

»Okay, la«, sagte Dungeonboy leise in sich hineinlachend und dabei die Flammen betrachtend. »Heut kein Haare brennen!«

»Nein, Gott sei Dank. Gute Nacht, Ah Fung.«

»Gut-nackt, Missie.«

Lu See zog sich in ihr Schlafzimmer zurück und legte sich für ein paar Minuten auf ihr Bett. »Total kaputt«, sagte sie laut und und vergrub dann ihr Gesicht in dem dicken weißen Kopfkissen.

Das Restaurant zu führen zehrte ihre Kräfte nach und nach auf. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie viel Arbeit das alles bedeutete – der Alltagstrott, der aus Kochen, Putzen und Einkaufen auf dem Markt bestand. Damals, als Schülerin, hatte sie die Energie und das Durchhaltevermögen besessen, zehn Stunden am Tag ohne Pause zu lernen. Aber diese Art von Arbeit war einfach zermürbend. Sie war erschöpft, und ihre ständige Müdigkeit führte dazu, dass sie oft ungeduldig und streitlustig war. Manchmal war sie auch einfach nur frustriert darüber, dass sie keine akademische Laufbahn eingeschlagen hatte. All die guten Noten für nichts, dachte sie. Dennoch musste sie weitermachen, um über die Runden zu kommen.

In letzter Zeit hatte sie morgens oft das Gefühl, nicht mehr in der Lage zu sein, zur Schweinegasse zu gehen, um frisches Fleisch zu kaufen. Sie verkraftete es einfach nicht mehr, die Kadaver im Freien hängen zu sehen, einige noch mit Hoden, sodass die Käufer wussten, was sie bekamen. Es war dann stets der Anblick ihrer Batikschürze an der Rückseite ihrer Tür, der ihr die Kraft verlieh, den Schmerz in ihren Eingeweiden zu ignorieren. Und bevor sie sich versah, rührte sie auch schon in einem Schmortopf, streute Rosmarin in die Brühe und freute sich darauf, den ersten Gast in ihrem Restaurant begrüßen zu dürfen.

Sie schloss die Augen. Ihr Magen schmerzte noch immer. Sie war sich sicher, dass sie auch wieder leichtes Fieber hatte. Sie versuchte, eine einfache Yogaposition einzunehmen, was ihr jedoch nicht gelang, weil einer der Hunde ins Zimmer gelaufen kam und versuchte, zu ihr aufs Bett zu springen.

»Nicht jetzt, Pebbles«, sagte sie zu der Hündin, die auf den Hinterbeinen stehend mit den Vorderpfoten am Moskitonetz kratzte. »Mami braucht Ruhe.«

Gehorsam wedelte Pebbles mit dem Schwanz und begann dann, an den Beinen des Bettes herumzuschnüffeln, die, zum Schutz gegen Ameisen, in mit Wasser gefüllten Campbell’s-Suppendosen standen.

Lu See fand jedoch keine Ruhe. Nur wenige Augenblicke später verließ sie das Bett wieder und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber, wo sie einen Stapel Zeitschriften zur Seite schob und sich dann dem Brief zuwandte, den sie vor drei Tagen zu schreiben begonnen hatte. Es war ein Brief an Sum Sum. Nachdem Lu See Ende 1937 aus Cambridge zurückgekehrt war, hatte sie acht Jahre lang nichts von Sum Sum gehört. Erst nach dem Krieg hatte Sum Sums Bruder Hesha ihr einen Brief von ihrer Freundin ausgehändigt. Auf diese Weise hatte Lu See erfahren, dass Sum Sum in das Nonnenkloster Ani Trangkhung in Lhasa eingetreten war. Lu See hatte sich daraufhin bemüht, eine Einreisegenehmigung für Tibet zu bekommen. Das tibetische Außenministerium hatte sich jedoch konsequent geweigert, ihr das notwendige Visum auszustellen.

Den Stift in der Hand, ließ sie ihre Augen langsam über die Seite wandern.

Meine liebste Sum Sum,

noch immer gibt es keine Nachricht von Mabel. Ich weiß, dass ich sie verletzt habe, als ich ihr von ihrer Herkunft erzählt habe, aber es ist mir einfach unbegreiflich, warum sie auf diese Art und Weise rebelliert und ihr Leben für eine Sache aufs Spiel setzt, die sie überhaupt nicht versteht. War ich vielleicht zu fürsorglich? Versucht sie sich dafür jetzt bei mir zu revanchieren, indem sie so töricht handelt? Jetzt weiß ich auch, wie sich meine arme Mutter gefühlt haben muss, als ich vor so vielen Jahren ohne ihr Wissen nach England abgereist bin.

In Kuala Lumpur hat sich die Lage einigermaßen beruhigt, aber auf den Straßen gibt es noch immer Auseinandersetzungen, vor allem jetzt, da die neue Verfassung in Kraft getreten ist. Ich fürchte, dass es zwischen den Chinesen und den Malaien schon bald mehr als nur böses Blut geben wird.

Auch mein Leben ist jetzt ruhiger geworden. Nachts komme ich mir oft wie ein kleines Samenkorn vor, das ganz allein keimen soll. Wenn ich nicht schlafen kann, lausche ich dem Knarren und Knarzen des Hauses. Es ist fast so, als würde es mit mir sprechen. Oft frage ich mich, ob es hier einen Geist gibt. Gott sei Dank habe ich meine Hunde! Habe ich dir schon von meinen Hunden erzählt? Da ist Pebbles, die dominante, energische Mutter dreier kleiner Welpen: Lightning, Thunder und Rain. Dann gibt es noch Boris mit dem geringelten Schwanz und den fröhlichen Augen. Und schließlich Goose, einen schwarzen Spaniel, der jedes Mal zu heulen anfängt, wenn ein Feuerwehrauto vorbeifährt.

Rate mal, was ich gefunden habe! Das Bild, das ich auf der MS Jutlandia von dir gemalt habe. Es hat in einem alten Koffer gelegen. Es ist zwar ziemlich ausgeblichen, aber der gute alte Kürbiskopf ist noch immer zu erkennen!

Ich würde dir gern ein Foto von Mabel schicken, aber man hat mir gesagt, dass die Briefe von und nach Tibet einer strengen Zensur unterliegen und Fotos jeder Art vernichtet werden.

Ich habe mich bei Stan Farrell nach Aziz erkundigt. Ich weiß, dass du einmal gesagt hast, er sei dir egal, aber ich finde, dass du es trotzdem wissen sollst. Stan hat das War Records Office angeschrieben. Vor ein paar Wochen hat er dann endlich eine Antwort erhalten: Aziz hat in der 50. Indischen Panzerbrigade gedient und ist 1943 in Burma gefallen.

Lu See hörte auf zu lesen. Sie sah Aziz mit seinem wackelnden Kopf vor sich, wie er mit Sum Sum auf dem Deck der Jutlandia gelacht und gescherzt hatte. Als das Licht der Kerzen flackerte, verschwamm das Bild. Sie ließ ihren Blick im Zimmer umherwandern, ohne jedoch irgendetwas wahrzunehmen. Dann schüttelte sie die Erinnerungen von sich ab, öffnete ein Päckchen Krabbenbrot und begann zu schreiben.

Die Zeitungen veröffentlichen noch immer die Namen der gefangen genommenen Guerillas. Manchmal drucken sie sogar die Namen derer, die getötet wurden. Mabel ist vielleicht verletzt, schwer verletzt, aber es gibt keine Möglichkeit, etwas in Erfahrung zu bringen. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihr verbracht, hätte sie viel öfter in die Arme genommen. Es tut mir leid, dass ich mich so deprimiert anhöre. Vielleicht bin ich ja auch nur eine sentimentale alte Närrin. Wir hatten schon wieder einen Stromausfall, und ich glaube, das schlägt mir aufs Gemüt.

Erinnerst du dich noch an das dreibeinige Krokodil, das die Männer auf dem tongkang damals gefangen haben? Es ist schon so viele Jahre her, aber ich denke noch oft daran, dass die Männer damals behauptet haben, ein solches Krokodil bringe Unglück. Das fehlende Bein würde einen in seinen Träumen heimsuchen und das erstgeborene Kind rauben.

Dies ist wohl schon der hundertste Brief, den ich dir schreibe, aber noch immer habe ich keine Antwort erhalten. Vielleicht kommen meine Briefe ja auch gar nicht bei dir an. Ich warte auf Nachricht von dir, ja, ich sehne mich danach.

Lu See legte ihren Füllhalter auf den Tisch und zündete eine frische Mückenspirale an.

Die Last der Sorge ließ ihr das Herz schwer werden. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Im Zimmer war es still, nur das ferne Geräusch der Frösche in den Regenrinnen der Häuser war zu hören.

Plötzlich schreckte sie ein lauter Ruf draußen auf. Als sie das Fenster öffnete, sah sie einen schwarzen Fiat 600 mit rotem Diplomatenkennzeichen und zwei italienischen Flaggen auf den Kotflügeln. Seine Scheinwerfer durchstachen die Dunkelheit der unbeleuchteten Straße.

Ein Mann in einem weißen Anzug und mit Filzhut ging unten auf und ab wie ein aufgeregtes Huhn. Er schnalzte dabei ärgerlich mit der Zunge.

»Hallo! Wer ist dort?«, rief sie, aber der Mann blickte weder nach oben noch reagierte er auf sie.

Die roten Nummernschilder riefen ihr in Erinnerung, dass sie für den 13. in die Residenz des italienischen Botschafters eingeladen war. Und heute war der 13. Sie war nicht hingegangen, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, abzusagen. War der Mann hier, um ihr Vorhaltungen zu machen, weil sie nicht erschienen war? War sie womöglich sogar für einen diplomatischen Zwischenfall verantwortlich?

Nein, ganz bestimmt war dies nicht der Fall.

Erneut sah sie zu dem Mann mit dem Filzhut hinunter und überlegte, ob sie ihn nicht doch fragen sollte, was er wollte.

Sie warf einen Blick in den Spiegel. Wie ich nur wieder aussehe. Kein Make-up. Und erst meine Haare! Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, wie sie einem Besucher erscheinen mochte: eine einsame, flachbrüstige und exzentrische Chinesin. Eine alleinerziehende Mutter, die mit ihren stinkenden Hunden in einem kleinen Haus voller Vorkriegsgerümpel lebte …

Sie hörte ein Hyänenlachen von unten heraufschallen.

… die wahrscheinlich irgendwann einmal den Tod einer dieser alten Damen in der Großstadt sterben würde, allein in ihrem Zimmer, von irgendeinem schweren Gegenstand erschlagen, erst nach vielen Wochen gefunden, wenn der Gestank so schlimm wurde, dass er auch auf der Straße unten wahrzunehmen war …

Lu See musste über ihre eigene Verdrießlichkeit lächeln.

Sie ging die Treppe hinunter und schob das Eisengitter mit einem Ruck nach oben.

Der Mann mit dem Filzhut drehte sich bei diesem Geräusch um. Sein Hut saß schräg auf dem Kopf, verbarg sein Gesicht. Als er sie sah, stellte er sich so breitbeinig hin wie Gary Cooper in High Noon, die Hände lässig an den Seiten, und bewegte dabei seine Finger, als wolle er gleich einen Revolver ziehen.

Als Erstes fiel ihr eine geradezu päpstlich anmutende Menge von Ringen an seinen Händen auf. Ein leuchtendes rosafarbenes Taschentuch wallte wie ein riesiger Blumenstrauß aus seiner Brusttasche, raschelte in der nächtlichen Brise. Dann hob er eine Hand und nahm seinen Hut ab. Eine gewaltige Stirn kam zum Vorschein.

»Brah-haaa!«

Seine Zähne glänzten wie silberne Lira-Münzen.

»Pietro!«, schrie Lu See. Sie rannte auf ihn zu und drückte ihn fest an sich. »Bist du es wirklich?«

»Oh, meine liebe Lausie. Es ist so wunderbar, dich zu sehen!«

Er gab, den Kopf in den Nacken geworfen, ein lautes, herzhaftes Lachen von sich.

»Was in aller Welt machst du denn hier in Malaysia?«

»Was ich hier mache? Ich bin der neue italienische Botschafter, du Dummerchen. Und der italienische Botschafter hasst nichts mehr, als versetzt zu werden. Die letzte Person, die mich versetzt hat, war dieser hübsche Botaniker im zweiten Jahr am Caius.« Er fuhr sich demonstrativ mit dem Handrücken über die Stirn. »Als du nicht aufgetaucht bist – quelle horreur! Also habe ich mich, nachdem der Empfang vorbei war, in meinen kleinen Fiiii-at geschwungen und Abrakadabra, Simsalabim, schon bin ich hier!«

»Ich glaub’s nicht«, keuchte Lu See und hüpfte dabei vor Freude auf und ab. »Ich glaub es einfach nicht, dass du hier in Kuala Lumpur bist!«

»Ich weiß! Man hat mich zuerst an fürchterliche Orte geschickt, wo ich nur dämlichen Fatzkes begegnet bin. Orte, wo die sogenannte ›Elite‹ ihr Messer beim Essen wie einen Bleistift hält und Tee aus der Untertasse trinkt. Aber du weißt ja, was man sagt.« Er glättete sich mit einem beringten Finger die Brauen. »Vom Reisen bekommt man einen breiten Hintern.«

Lu See umarmte ihn noch einmal. »Kommst du rein?«

»Eigentlich, liebe Lausie, hatte ich eher an ein spätes Abendessen im Fatty Crab’s gedacht. Ich bin nämlich am Verhungern. Du weißt ja, wie das ist. Auf seinem eigenen Empfang kommt man so gut wie nie zum Essen.«

»Ich kann dir doch auch hier etwas kochen. Magst du Curry-Nudeln?«

Pietro sah sie entsetzt an. »Davon muss ich immer furzen wie ein römischer Kaiser. Nein, Fatty’s oder gar nichts. Abgesehen davon freue ich mich schon den ganzen Abend auf ein Glas ihres Château de Coques Roche.«

»Aber ich bin dafür nicht passend angezogen, schau dir meine Haare an …«

»Du hast auch kein Rouge aufgelegt, nicht wahr? Mach dir keine Gedanken, kneif dir einfach in die Wangen, das gibt Farbe und …« Er nahm das Satinband von seinem Filzhut ab, band es zu einer Schleife für ihre Haare und lächelte sie an. »Tra-raa! Und schon ist Cinderella fertig für den Ball. Es ist einfach wunderbar, wenn man ein Mädchen ist, nicht wahr?«

Das Fatty Crab’s befand sich in der Nähe der Rennbahn, zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Lu See, die eingekeilt zwischen einem Nashornvogel und Pietro auf dem Beifahrersitz saß, kam sich ein wenig wie ein Hering in der Dose vor.

Pietro zeigte lächelnd seine Zähne. »Sein Name ist Hartley. Er ist ein Geschenk des Sultans von Selangor.«

»Er beißt doch nicht etwa?« Sie beobachtete argwöhnisch die roten Augen des Vogels und seinen großen Schnabel mit dem wulstigen Aufsatz.

»Nein, aber er hat einen bissigen Humor. Pass auf, dass du ihm mit deiner Nase nicht zu nahe kommst, er könnte sie für eine Palmnuss oder ein Cocktailwürstchen halten. Da wir schon von Würstchen sprechen: Gibt es Neuigkeiten von meiner Lieblingstibeterin, Sum Sum? Ich nehme an, dass du ihr altes blaues Rezeptbuch hast wiederaufleben lassen.«

Lu See kniff verzweifelt die Augen zu. Sie hatte den größten Teil des vergangenen Tages damit verbracht, mit der chinesischen Botschaft zu telefonieren. Wieder einmal hatte man ihr die Einreisegenehmigung nach Tibet verweigert.

»Ihr Bruder Hesha lässt mir gelegentlich eine Nachricht zukommen. Er dient in einem Gurkha-Regiment. Aus seinen Briefen weiß ich, dass sie bei guter Gesundheit ist und in einem tibetischen Nonnenkloster lebt.«

»Geh in ein Kloster!«, bellte Pietro, sodass Hartley erschrocken mit den Flügeln flatterte. »Oh, wie ich doch meinen Hamlet liebe!«

»Ich würde alles geben, um sie wiederzusehen.«

Sie fuhren am Sikh-Tempel in der Bandar Road vorbei, dort wo in trockenen Nächten fromme punjabis, aus dem Norden Indiens stammende Männer, in den Gärten schliefen. Ein Stück weiter blockierte ein Bauer mit seinem Wasserbüffel die Fahrbahn. Sie mussten warten, bis er das Tier, das ein Netz voller Ananas auf den Rücken trug, über die Straße geführt hatte. Pietro hupte ungeduldig, was ihm einen tadelnden Blick von Lu See einbrachte.

»Ich habe gehört, dass Mabel sich den Kommunisten angeschlossen hat«, sagte er plötzlich.

»Woher weißt du das?«

Sie spürte, wie ihre Wangen zu brennen anfingen.

»Ach, das übliche diplomatische Geschwätz. Mit ein wenig Raffinesse kann man fast alles in Erfahrung bringen.« Er hielt die Augen auf die Straße gerichtet. »Ist schon komisch, dass Adrian ein Kommunist war und Mabel jetzt in seine Fußstapfen tritt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich Adie vermisse. Er war ein wunderbarer Mensch. Hör zu, du solltest alles dafür tun, dass Mabel so bald wie möglich aus dem Dschungel kommt, Schätzchen. Der britische Geheimdienst hat einen ganz speziellen Funkempfänger konstruiert, einen, der angepeilt werden kann.« Er hielt inne. Lu See schwieg. »Wenn die Guerillas das Gerät einschalten, sendet es ein Signal, eine Art Funkfeuer, das von Flugzeugen aufgefangen werden kann. Wenn sie den Standort erst einmal geortet haben, werden sie dort alles ins Jenseits bombardieren. Sie machen keine Gefangenen.«

Lu See blieb bei diesen Worten fast das Herz stehen.

Am folgenden Abend schloss Lu See das Restaurant wie üblich um 23 Uhr und zog mit einer Stange das eiserne Rollgitter auf der Vorderseite herunter. Dank der fünf Whisky stengahs, die sie mit Pietro im Fatty Crab’s getrunken hatte, hatte sie den größten Teil des Tages mit ihrem gehörigen Kater verbracht.

Lu See massierte ihre Nasenwurzel und ging in Gedanken noch einmal ihre Unterhaltung mit Pietro durch. Sie hatte ihm gesagt, wie Stan sie getäuscht hatte.

»Wie konnte er nur? Wie konnte er mir das nur antun?«, hatte sie laut geschluchzt.

»Vielleicht hat er es nicht gewusst.«

Pietro hatte mit den Schultern gezuckt.

»Es nicht gewusst? Natürlich wusste er es! Er hat mich die ganzen Jahre über belogen. Er hat so getan, als wäre er mein Freund!«

Sie hatten bis in die frühen Morgenstunden miteinander geredet, bis die Pappadums, die dünnen indischen Fladen aus Linsenmehl, und die Zigaretten in der schwülen Nachtluft feucht geworden waren. Nichts von dem, was Pietro gesagt hatte, hatte sie jedoch zu trösten vermocht.

Am Vormittag war sie dann in die Klyne Street geeilt, um mit dem Maultier zu sprechen, stellte aber fest, dass die schmale Tür des Friseurgeschäfts mit Brettern vernagelt worden war. Die Nachbarn sagten ihr, dass die Polizei den Eigentümer verhaftet habe. Dann rief sie Stan an, aber bei ihm zu Hause hob niemand ab, und als sie versuchte, ihn unter seiner Büronummer zu erreichen, sagte man ihr, dass er nicht im Hause sei.

Als Pietro sie dann später am Tag noch einmal besuchte, um sie zu trösten, war sie völlig außer sich.

»Was soll ich nur tun?«, fragte sie ihn voller Verzweiflung.

Er nahm sie in die Arme. »Es gibt nichts, was du jetzt noch tun könntest. Am besten, du regst dich nicht auf. Du siehst ein wenig kränklich aus. Du brauchst Ruhe.«

»Ich habe ihr Todesurteil unterschrieben, Pietro. Ich habe meine eigene Tochter getötet!«

»Geh nach oben und ruh dich aus. Versprichst du mir, dass du dich hinlegst und ein bisschen schläfst?«

Sie hatte genickt.

»Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«, hatte er ihr angeboten.

»Nein. Ich komme schon klar.«

Dann hatte sie zugesehen, wie Pietro in seinen Fiat gestiegen und davongefahren war.

Als sie jetzt die Treppe hinaufging, warteten die Hunde schon ungeduldig auf ihr Futter. Sie schaltete den Deckenventilator ein, hängte ihre Schürze an den Haken an der Tür und füllte die Näpfe mit Speiseresten. Dann ging sie zu ihrem Badezimmerschränkchen, um etwas Tigerbalsam für ihre Stirn und das Fläschchen Magnesiamilch für ihren Magen herauszunehmen.

Sie kam an ihrer Schlafzimmertür vorbei und sah die dicken weißen Kopfkissen, die sich hinter dem Moskitonetz türmten. Die Neuigkeiten, die sie von Pietro erfahren hatte, und die Angst um Mabel hatten sie in eine Art Schockzustand versetzt. Jetzt war sie unglaublich müde und erschöpft. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kissen. Wie warme Brötchen, die in einem Korb liegen, dachte sie. In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als ins Bett zu sinken und zu schlafen. Kaum hatte sie jedoch die mentholhaltige Salbe auf ihre Schläfen aufgetragen, hörte sie unten am Eisengitter ein gedämpftes Klopfen.

»O Gott! Nicht schon wieder. Müssen diese Italiener denn nicht auch irgendwann ins Bett?«

In der Erwartung, den schwarzen Fiat auf der Straße stehen zu sehen, blickte sie aus dem Fenster und wollte schon rufen: »Geh nach Hause, Pietro. Ich komme schon klar.«

Aber auf der Straße war kein Auto zu sehen.

Als sie wieder das leise Hämmern gegen das Eisengitter hörte, begann sie, wie ein malakkischer Seemann zu fluchen.

Dungeonboy kam keuchend angerannt. »Jemand an Tür, Missie – jemand klein und wie schwarze Schatten«, berichtete er aufgeregt.

Sie ging die Treppe hinunter, um die metallenen Rollläden hochzuziehen. »Wahrscheinlich ist es Mr Pietro.« Sie bat Dungeonboy, einen Stock zu holen, nur für den Fall, dass es sich doch um einen Einbrecher handelte.

»Was wollen Sie?«, rief sie. Dann packte sie, von einer plötzlichen Vorahnung erfüllt, das Gitter mit beiden Händen und schob es mit einem Ruck nach oben.

Das Metall klapperte.

Eine junge, entsetzlich dürre Frau stand mit gesenktem Kopf vor ihr. Sie verströmte den Geruch des Dschungels. Ihr Gesicht war völlig verdreckt. Erde hing in ihren Haarspitzen. Den rechten Arm trug sie in einer provisorischen Schlinge.

Lu See stockte der Atem. Sie öffnete stumm den Mund, streckte die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen.

»O mein Gott«, japste sie. »Mabel.«