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»Bettler!«, jammerte Lu Sees Mutter, ohne dabei jemand Bestimmten anzusprechen, als sie sich an einen der Tische im Il Porco setzte. »Der verdammte Narr hat uns zu Bettlern gemacht.« Sie sah sich kopfschüttelnd ihr Sparbuch an und schlug dann die Hände vor ihr Gesicht.
»Wassis passiert?«, fragte Dungeonboy Onkel Hängebacke, der sich gerade mit sichtlichem Appetit über einen Teller char siu faan hermachte.
»Nichts, aahh! Missie-Mummy ist noch immer sauer, weil ihr Mann den Japanern vor seinem Tod die Bank- und Gummikonzessionen überschrieben hat. Als Gegenleistung für seine Sicherheit. Einmal im Jahr oder so kriegt sie deswegen noch immer einen mordsmäßigen Wutanfall.«
Seine Schwester schnalzte mit der Zunge. »Und was noch schlimmer ist: Genau das war es, was meine Söhne in die Fänge von diesen Zeugen Jehovas getrieben hat. Man könnte meinen, einen einzigen Zeugen Jehovas in der Familie zu haben wäre schon schlimm genug. Aber nein, bei mir sind es gleich beide Söhne, die steif und fest behaupten, zu den ›Erleuchteten‹ zu gehören! Diese Trottel glauben doch allen Ernstes, dass Bluttransfusionen gegen den Willen Gottes sind. Und was geschieht, wenn einer von ihnen einen Unfall hat? Chee-chee-chee! Ich sage euch, ich bin mit meiner Weisheit am Ende!«
»Inschulligung, mögen Sie heute Morgen Kaffee, ja, Missie-Mummy?«, fragte Dungeonboy.
»Kaffee? Dein Kaffee schmeckt wie Durianstaub. Bring mir Toastbrot mit Kondensmilch.«
Lu See kam aus der Küche. »Morgen, Mutter. Du siehst heute ein wenig gereizt aus.«
»Gereizt? Ich bin nicht gereizt«, giftete ihre Mutter.
»Geht es dir gut?«
»Gut? Mir geht es besser als gut! Was ist mit dir? Was macht dein Magen?«
»Tut immer noch weh. Vielleicht ist es ein Geschwür.«
»Ich bin mir sicher, dass das von all den Bazillen kommt. Wie viele einäugige Hunde hast du heute wieder versorgt?«, fragte sie spöttisch und sah dabei Pebbles, die eifrig an einer ihrer Vorderpfoten herumknabberte, mit durchdringendem Blick an. »Warum musst du immer wieder diese Straßenköter anschleppen? Cha! Was für schmutzige Tiere! Die ganze Zeit lecken sie ihre … ihre … Dinger.«
»Nun, ich versuche ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Hier haben sie wenigstens ein Dach über dem Kopf, und einmal im Monat werden sie gebadet. Wer weiß, wie lange sie sonst bei all diesen verrückten Autofahrern dort draußen zu leben hätten. Nicht wahr, Pebbles?«
Pebbles legte die Ohren zurück und wedelte freundlich mit dem Schwanz.
»Schon bald, nah, werden wir überall Zecken und Flöhe haben. Schau doch, wie sie sich den ganzen Tag kratzt! Du solltest sie alle vor die Tür setzen, liao!«
Lu See verzog verärgert das Gesicht.
»Wenn du nachher in die Küche gehst, dann denk wenigstens ein paar Minuten über das nach, was ich dir gerade gesagt habe, und du wirst zu dem Schluss kommen, dass ich recht habe. Deine Mutter hat nämlich immer recht.«
»Wie kommt es nur, dass ich jedes Mal, wenn ich mit dir rede, das Gefühl habe, man würde mich zwingen, Essig zu trinken?«
»Cha!« Lu Sees Mutter sah an ihrer Tochter vorbei. »Seht ihr, wie freundlich sie sich mir gegenüber verhält?«
»Bitte nimm mir das nicht übel, Mutter, aber manchmal bist du hier so willkommen wie ein Arzt mit einem Klistier.«
»Ich habe den ganzen weiten Weg auf mich genommen, nur um dich zu besuchen!«
»Mutter, du wohnst gerade einmal zwei Straßen von hier entfernt.«
Sie zog ihre Augenbrauen hoch, setzte ihre Lesebrille auf und begann dann, das Kreuzworträtsel von letzter Woche zu lösen. Mit einem matten Lächeln sagte sie schließlich. »Bring mir heißen Milchtee, nah. Eine Tasse von deinem besonderen teh tarik.«
Lu See rückte ihre Schürze zurecht und schnalzte mit der Zunge. Widerwillig machte sie sich auf den Weg in die Küche, um Wasser aufzusetzen. In der Küche begannen die Röhren des Radios gerade zu glimmen – Dungeonboy starrte fasziniert auf den schwarzen Zeiger des Zenith-Schrankradios.
»Verdammt noch mal, muss sie sich denn wirklich in alles einmischen, sie ist so … kaypoh!«, platzte Lu See heraus, als sie Teeblätter in eine Kanne gab. »Ich wette, sie kommt nur her, um mich zu kontrollieren.«
Aus dem Radio ertönte gerade ein Peggy-Lee-Song. Dungeonboy schnippte dazu unrhythmisch mit den Fingern.
»Falls sie dich jemals etwas über mich fragt, sag ihr kein Wort!«
Dungeonboy knabberte an seinen Lippen und nickte dabei wie ein Metronom. Sein Blick blieb unverwandt auf das pulverisierte schwarze Sprechgitter geheftet. Bevor er im Il Porco angefangen hatte, hatte er noch nie ein Radio gesehen.
»Hast du mich verstanden? Kannst du mir folgen?«
»Naturlik, ich Ihnen folgen wie mein eigener Schatten.«
Ein paar Sekunden später wurde Peggy Lees Stimme langsam ausgeblendet.
»… und jetzt ist es Zeit für die Stunde der malaysischen Frau«, verkündete der Radiosprecher. »Heute werden unser geschätzter Dr. Chow und Mrs Gangooly über den gesundheitlichen Nutzen von Sternanis sprechen …«
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Ja, lah! Nix sagen zu Missie-Mummy.«
»Und warum nicht?«
»Weil Missie-Mummy wie ein Furzblase in Badewanne. Alle rümpfen Nase.«
Lu See massierte ihre Nasenwurzel. In ihren Eingeweiden gurgelte es schmerzhaft. »Nun, das ist zwar nicht ganz das, was ich gemeint habe, aber ich denke, im Großen und Ganzen hast du begriffen, worum es geht.«
Sie verließ die Küche mit einer Tasse teh tarik. Als ihre Mutter sie kommen sah, hob sie die Augenbrauen und wedelte einen nicht vorhandenen Krümel von der Tischplatte. Lu Sees Sommerkleid, das sie unter ihrer Batikschürze trug, hatte an der rechten Schulter ein kleines Loch. Als sie die Tasse auf den Tisch stellte, sah ihre Mutter sie so missbilligend an, als hätte ihre Tochter gerade ein Familienerbstück versetzt, so wie das ihr Ehemann während des Krieges immer wieder getan hatte. Sie hob ihren Zeigefinger und tippte Lu See auf den Arm. »Chee! Was ist bloß mit dir los? Dein Kleid ist zerrissen!«
»Ich werde es später flicken.«
»Da bin ich aber froh«, sagte sie grimmig.
»Das hier ist ein Restaurant und keine Boutique. Tee und Toast, das macht sechzig Cents.«
»Was ist, wenn du von einem Bus angefahren wirst? Was werden die Sanitäter sagen, wenn sie dich in einem solchen Lumpen sehen.«
»Ich glaube, wenn ich von einem Bus angefahren werde, wäre meine einzige Sorge, am Leben zu bleiben und nicht, wie meine Kleider aussehen.«
»Du bringst uns wirklich noch in Verruf!«
Onkel Hängebacke zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Und das sagt ausgerechnet jemand, der so viel Make-up aufgelegt hat, dass sogar eine ipoh-Prostiutierte rot vor Scham werden würde!«
»Seht ihr, was ich mir alles gefallen lassen muss?«, sagte Lu Sees Mutter, an ein imaginäres Publikum gewandt. »Nicht der geringste Respekt gegenüber Ah-Ma!«
»Das war doch nur ein Scherz, lah«, besänftigte sie ihr Bruder.
»Ich meine«, fuhr Lu Sees Mutter fort und gestikulierte dabei wild mit einer mit Kondensmilch bestrichenen Scheibe Toast in Richtung ihrer Tochter, »ich bin absolut nicht snobistisch, dennoch bin ich der Überzeugung, dass ein gepflegtes Aussehen und eine angemessene Kleidung das gesellschaftliche Ansehen fördern.«
Natürlich wusste Lu See, dass ihre Mutter recht hatte. Als Eigentümerin des Il Porco war es durchaus von Bedeutung, dass sie so gut wie möglich aussah. Sie wollte ihrer Mutter nur einfach den Triumph nicht gönnen.
»Kein Wunder, dass du keinen Mann findest, lah«, fuhr ihre Mutter unbarmherzig fort und kratzte dabei an ihren Handflächen herum. »Du solltest dir wirklich langsam Gedanken machen.«
»Ich komme allein ganz gut zurecht, vielen Dank«, versicherte ihr Lu See.
»Ja, da bin ich mir sicher.«
Lu See schüttelte resigniert den Kopf. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihre Mutter, mehr, um den Schmerz in ihrem Bauch zu lindern, als um ein Friedensangebot zu machen. Sie sahen sich an. »Ich bin fast einundvierzig.«
»Und ich bin vierundsechzig. Kein junges Gemüse mehr. Habe die besten Jahre schon hinter mir.«
»Die hattest du schon hinter dir, als Churchill geboren wurde.«
Ihre Mutter sah in die Runde, wandte sich wieder an ihr imaginäres Publikum. »Cha! Seht ihr, wie sie mit mir spricht?«
»Die Wahrheit ist doch, dass ich viel zu alt bin, um noch einen Mann zu finden. Ich hätte weiß Gott gern jemanden, der mir zur Seite steht, jemanden, der mir im Restaurant hilft. Der mir hilft, die Hunde zu versorgen.« Jemanden, mit dem ich wilden Sex haben kann. »Aber wer interessiert sich denn in meinem Alter noch für mich?«
»Großonkel Loo hat mit vierundachtzig noch eine Frau geschwängert, aahh!«, schnaufte Onkel Hängebacke.
Lu See lächelte, ihre Mutter ebenso. Dann begannen beide zu kichern.
»Nun, vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für mich. Noch einen Toast?«
»Nein, danke.« Ihre Mutter nahm einen malaysischen Dollar aus ihrer Brieftasche und gab ihn Lu See.
»Stimmt, in deinem Alter solltest du auf dein Gewicht aufpassen.«
Katsching! Das war die Registrierkasse.
Dreißig Sekunden vor Mitternacht unterbrach Radio Malaysia sein Programm. Elvis Presley verstummte mitten in seinem Teddy Bear.
Es folgten zwanzig Sekunden Stille, bevor eine schneidige Stimme mit Empire-Akzent beschrieb, wie am Selangor Club der Union Jack eingeholt und genau eine Minute nach Mitternacht an seiner Stelle die neue Flagge der Föderation von Malaysia gehisst wurde.
»Nach dreiundachtzig Jahren britischer Herrschaft ist Malaysia nun ein souveräner, unabhängiger Staat.«
Der Sprecher führte weiter aus, dass das Land im Commonwealth verbleiben würde. Die Commonwealth Far East Strategic Reserve würde die äußere und innere Verteidigung Malaysias weiterhin gewährleisten. Die Notstandsverordnungen blieben vorerst in Kraft. Außerdem würde eine nicht näher genannte Zahl höherer britischer Polizei- und Justizbeamter im Land bleiben, um die Übergangszeit zu organisieren.
Es war eine feuchte, drückende Nacht. Stans Hemd klebte an seinem Rücken. Er musste immer wieder den Stoff von seiner Haut ziehen. Überall um ihn herum waren Menschen auf den Straßen. Die Feiernden brannten Feuerwerkskörper ab, tranken Coca-Cola und Green Spot mit Strohhalmen und riefen: »Merdeka! Merdeka! Freiheit! Freiheit!« Die meisten von ihnen, dessen war er sich sicher, wussten nicht einmal, was dieser Begriff bedeutete.
Er bahnte sich seinen Weg durch das Durcheinander von Straßenhändlern. Erst kurz zuvor hatte er an einem Stand eine Portion otak-otak, die köstliche, in ein Bananenblatt eingewickelte Fischpastete, gegessen. Bunte Wimpel flatterten an den Straßenlaternen. An den Fenstern hatte man Lichterketten aufgehängt. Die Palmen waren mit unzähligen glänzenden Fähnchen geschmückt. Ein Malaie mit einem songkok-Hut tanzte die Straße entlang, spielte dabei auf einer Trompete. Neben ihm trommelte ein dicker Chinese mit einem Paar Essstäbchen auf einem umgedrehten Wok. Überall sangen und jubelten die Menschen. »Malaysia gehört uns allen!«, riefen sie mit Tränen in den Augen. Obwohl gerade Ramadan war, waren nahezu alle Malaien auf der Straße, schwenkten begeistert die neue Flagge ihres Landes. Nachdem sie zwischen fajr, der Morgendämmerung, und maghrib, dem Sonnenuntergang, gefastet hatten, gestatteten sie sich jetzt endlich, ausgelassen zu feiern. Autohupen ertönten, überall spielten Radios. Selbst auf den Dächern baufälliger Häuser standen Bewohner und klatschten und jubelten, während kleine Kinder auf den Schultern ihrer Eltern der Menge zuwinkten. Es war eigentlich schon längst Zeit für sie, ins Bett zu gehen, aber sie wurden von der Begeisterung der Erwachsenen mitgerissen und waren deshalb allesamt hellwach, auch wenn sie nicht wussten, warum alle so glücklich waren.
An der Petaling Street gab es noch Straßensperren, Sandsäcke und Stacheldraht. Stan stand dort, seinen Schlagstock in der Hand. Er hatte den Befehl über mehr als einhundert Polizisten, die in einer Reihe nebeneinander, an den Armen untergehakt, vor dem Independence Stadium standen. Sie bildeten eine Kette, welche die Delegierten der UMNO von den Massen schützten. Die UMNO war inzwischen die größte politische Partei des Landes.
»Um Himmels willen! Halten Sie die verdammte Kette, Sergeant!«, rief Stan.
»Ja, Sir!«
Stan mochte diesen Bezirk nicht. Die Old Pudu Road und ein paar weitere Straßen waren eine wahre Brutstätte für Spione, Informanten und Doppelagenten. Spione. Bei diesem Wort musste er an Mabel denken. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie spurlos verschwunden war.
Er hatte an jenem Nachmittag gerade im Il Porco beim Essen gesessen, als Mabel angerufen hatte, um ihrer Mutter zu sagen, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde.
»Was soll das heißen, du kommst nicht mehr nach Hause?«, hatte Lu See gefragt und dabei sehr aufgeregt geklungen.
»Es ist wegen Bong. Er möchte mich in seiner Nähe haben.« Mabels Stimme, das hatte Lu See später erzählt, hatte sich vollkommen ruhig angehört.
»Du kannst doch hier mit ihm zusammen sein. Du musst doch nicht gehen. Warum musst du gehen?«
»Weil ich das will.«
»Das verstehe ich nicht.«
Stan erinnerte sich an die Angst, die plötzlich Lu Sees Blick verschleiert hatte. Was ist passiert?, hatte er sie fragen wollen, es dann aber doch nicht getan.
Nachdem sie den Hörer langsam auf die Gabel gelegt hatte, hatte sie ihm gesagt, dass Mabel sich den Kommunisten angeschlossen hätte. Den Rest des Tages hatte sie dann, den Kopf in den Händen vergraben, einfach nur stumm da gesessen.
Stan wischte sich über die Stirn und ließ seinen Blick langsam über die Straßen vor ihm wandern. Eine kleine Gruppe von Schwestern aus der St John Ambulance wartete vor dem Postamt. Die Mädchen standen neben der Barriere aus Stacheldraht und rauchten. Stan atmete tief durch und kletterte auf die Haube eines gepanzerten Mannschaftswagens, um sich einen besseren Überblick über die Menge zu verschaffen, die von der Sultan Street herbeiströmte. In der Ferne erkannte er die riesigen Reklametafeln des Rex Cinema. Er griff in seine Tasche und nahm ein Bonbon heraus. Er schob sich das Caramel Bullet in den Mund und hielt dann, die Arme in die Seiten gestemmt, weiter Ausschau. So wie er dastand, hätte man ihn durchaus für Robert Mitchum in Die Nacht des Jägers halten können.
Er drehte sich um und sah auf das Gedränge, das sich an den Grenzen des padang gebildet hatte. Eine Gruppe von Frauen mit Papierfächern trank Green Spot. Sie hatten Strohhalme in ihre Flaschen gesteckt. Ihre Gesichter strahlten vor Freude. Wenige Augenblicke später hörte er laute Rufe. Zwei Sikh-Polizisten waren gestürzt, als sie einem Chinesen auf einem Fahrrad hinterhergerannt waren. Er hatte seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über die Kreuzung rasend hielt er mit seinem Fahrrad direkt auf die Polizeikette zu. Stan sah, wie er schlitternd zum Stehen kam, sich mit einem in Sandalen steckenden Fuß auf der Straße im Gleichgewicht hielt, eine Pistole aus seinem Gürtel zog und damit direkt auf Stans Gesicht zielte.
Noch bevor Stan reagieren konnte, drückte der Mann ab.