16

Die Kulis schoben Handkarren, die mit Anti-Malaria-Öl beladen waren, vor sich her. Sie suchten die Bushäuschen und die Erholungsareale auf und pumpten ganze Wolken von Sprühnebel in die Luft. Die Moskito-Männer zwängten sich in Abzugsgräben, kämpften sich in schwer zugängliche Örtlichkeiten vor und richteten dort die Auslassdüsen ihrer Sprühpistolen in alle Winkel und Ecken.

Begleitet vom ständigen kss-kss-kss der Sprühkanonen draußen auf der Straße stieg Lu See in ihrem Restaurant mit einigen Dosen Eagle-Brand-Kondensmilch eine hölzerne Trittleiter hinauf, um sie auf dem obersten Regalbrett zu stapeln. Dann sah sie nach unten. Drei Augenpaare waren auf die Titelseite des Malay Advocate geheftet: ihre Mutter und Dungeonboy drängelten sich neben Pietro, der die Zeitung vor sich auf dem Tisch hatte, um zu sehen, was da stand.

Schon seit mehreren Wochen, genaugenommen seit Singapur im September 1963 der Federation of Malaya beigetreten war, berichteten die Zeitungen von einer zunehmenden Welle ethnischer Disharmonie und dem tiefen Misstrauen, das die Rassen mittlerweile gegeneinander hegten. Angst und Frustration drohten sich Bahn zu brechen.

»Wer oder was ist denn diese LPM?«, fragte Lu Sees Mutter mit der für sie so typischen beiläufigen Verachtung in der Stimme.

»Hören Sie, ich bestehe darauf, dass Sie sich links von mir hinstellen«, entrüstete sich Pietro. »Ich bin, wie Sie wissen, auf dem rechten Ohr taub!«

Sie ging um ihn herum. »Mir ist bekannt, dass sie sich die ›Labour Partei von Malaysia‹ nennen, aber ich bin mir sicher, dass sie waschechte Kommunisten sind. Sie tun nichts anderes, als die chinesische Kultur und die chinesische Erziehung zu fördern und antimalaiisches Gedankengut zu verbreiten.«

»Die einen sind genauso schlimm wie die anderen. Alle schüren sie den ethnischen und religiösen Hass, nur um Wählerstimmen zu gewinnen«, sagte Pietro nachdenklich.

Lu Sees Mutter beugte sich, auf die Ellbogen gestützt, ein Stück nach vorn. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass ein LPM-Mitglied vor ein paar Tagen von der Polizei erschossen wurde, weil er sich seiner Festnahme widersetzt hat.«

»Das geschah aber erst, nachdem ein gegnerischer Politiker von chinesischen Radikalen in Penang geradezu in Stücke gehackt worden war«, erwiderte Pietro und stieß dabei einen Seufzer aus, als würde er gleich ohnmächtig.

»Ist wahr?«, fragte Dungeonboy mit großen Augen.

»Hand aufs Herz!«

Das Telefon läutete. Fishlips Foo nahm ab. »Wai-eeeee!«

Er knallte den Hörer auf die Gabel und kratzte sich an den Knöcheln, während er vor sich hin brummte: »›Söhne der Erde‹ nennen sich diese Malaien! Hum gaa chaan! Sind wohl mehr ›Söhne des Drecks‹.«

Er beäugte den Nachbartisch. Onkel Hängebacke, dem der Schweiß auf der Stirn stand, machte sich gerade über seine Schale mit Gemüsesuppe her.

Lu See stieg von der Trittleiter herunter und streckte die Arme über dem Kopf aus, um den Schmerz in ihrem Bauch ein wenig zu lindern, bewegte dabei die Ellbogen von rechts nach links. Das Telefon läutete erneut.

»Hum gaa chaan!«

Lu See riss dem alten Mann den Hörer aus der Hand. Sie hörte ein leises Zischen in der Leitung. Es klang wie das Brutzeln von Palmöl in einem heißen Wok. Dann hörte sie Stimmen und das Klappern von Schreibmaschinen.

»Ja? Wer ist da?« fragte sie.

»Hier spricht P. K. Au vom Malay Advocate

»Ja?« Lu See spielte nervös mit der Telefonschnur herum, während sie das sagte. Pietro streckte ihr auf der anderes Seite des Raums die Zunge heraus und schnippte einen Brotkrümel in ihre Richtung. Sie wandte ihm dem Rücken zu.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr Au?«

Ein Brotkrumen traf sie am Rücken.

»Ich würde gern einen Artikel über Ihr Restaurant, das Il Porco, schreiben. Vielleicht könnten wir die Einzelheiten persönlich besprechen. Ich würde mir gern das Restaurant ansehen, ein paar Fotos machen und Sie interviewen.«

»Und natürlich etwas essen«, fügte sie hinzu.

»Was?«

»Ich nehme an, dass Sie in ihrem Artikel über das Essen berichten wollen.«

»… ja … äh, ja …«

Lu See atmete hörbar aus. »Mr Au, worüber genau wollen Sie schreiben?«

Er zögerte. »Nun, wir wollen eine Story über Rassenprovokationen vor der Wahl bringen. Können Sie bestätigen, dass Sie versuchen, ihre muslimischen Nachbarn zu brüskieren, indem sie Schweinefleisch anbieten? Trifft es zu, dass … ?«

Sie knallte den Hörer mit voller Wucht auf die Gabel.

»Wer war das?«, fragte ihre Mutter und kratzte sich an den Handflächen.

»Ein Reporter. Diese verdammten Geier wollen doch nur böses Blut schüren!« Lu See ging erbost in die Küche und kehrte mit einer Schale Gemüsebrühe für Fishlips Foo wieder.

Fishlips beugte seinen mit Leberflecken übersäten Schildkrötenkopf über die Suppe und probierte einen Löffel. Er grunzte angewidert: »Die Suppe ist lausig.« Sein Löffel klirrte gegen den Rand der Schale. »Vollkommen verwässert. Kein Geschmack!«

»Onkel Hängebacke schmeckt die Suppe«, bemerkte Lu See.

»Sieh dir doch nur an, wie fett er ist! Er isst eben alles.«

»Sie bestellen jetzt seit zehn Jahren jeden Tag die gleiche Suppe, Mr Foo.«

»Und jedes Mal schmeckt sie nach nichts. Und außerdem: Warum ist meine Portion immer viel kleiner als seine? Immer betrügst du mich!«

»Ich bringe Ihnen gern noch eine Schale«, stöhnte Lu See.

»Wieso denkst du, dass ich mehr haben will? Die Suppe hat keinen Geschmack.«

Onkel Hängebacke tupfte gerade die Brotkrümel mit seinem Mittelfinger von der Tischplatte auf.

»Welche Nachricht vernimmt man aus den Mauern von Troia?«, fragte Pietro.

Lu See hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

»Oh, du einfältiges Äffchen«, rief er theatralisch. Seine Zähne blitzten auf. »Tibet? Sum Sum?«

Lu See zuckte mit den Schultern. Sie hatte es versucht. Mit aller Macht versucht. Aber niemand war bereit gewesen, ihr irgendwelche Auskünfte zu geben. Die Nachrichten im Radio und den Zeitungen widersprachen sich. Erst letzte Woche hatte sich ein Stammkunde vor seinen Teller Schweinefleisch gesetzt und glaubhaft versichert, dass sich China im Krieg mit Tibet befände.

Lu See breitete bittend die Hände aus. »Ich rufe jeden Tag in der chinesischen Botschaft an, aber immer wieder wimmeln sie mich ab. Gestern habe ich sogar drei Mal dort angerufen, aber sie haben sich mehr als vage ausgedrückt, haben sogar abgestritten, irgendetwas von einem ›entschlossenen Vorgehen‹ in Tibet zu wissen.«

Ihre Mutter brummte leise etwas. Lu See kannte diesen Gesichtsausdruck nur allzu gut. Er sagte ihr, dass es ihrer Meinung nach reine Zeitverschwendung war, wenn Lu See weiter versuchte, Sum Sum ausfindig zu machen.

»Also bin ich wieder einmal persönlich zur chinesischen Botschaft gegangen«, fuhr sie fort. »Eine schreckliche Frau mit platten Füßen hat mich zunächst einmal ewig warten lassen, dann hat man mich in einen kleinen Raum geführt, in dem sich nur ein leerer Schreibtisch, drei Stühle und zwei Männer in Mao-Anzügen befanden. Sie haben mir mehr Fragen gestellt als ich ihnen. Und was habe ich von ihnen erfahren? Nichts.«

Pietro, der gerade an seiner langen Zigarettenspitze sog, hielt inne. »Typische Diplomaten eben.«

»Ich habe sogar mit jemandem vom Roten Kreuz gesprochen und mit dem Indischen Hochkommissariat telefoniert – niemand jedoch war willens oder in der Lage, mir irgendwelche Auskünfte zu geben, was den Dalai Lama oder die Situation in Tibet betrifft.«

»Oh, du archimedische Schraube! Das arme Würstchen. Aber wir alle wissen, dass unsere liebe Sum Sum eine Überlebenskünstlerin ist. Hoffen wir, dass sie dem Beispiel des Dalai Lama folgt und es über die Grenze nach Dharamsala schafft!«

Pietro nahm einen Schluck Tee, öffnete dann seinen Diplomatenkoffer, um, wie er es sich angewöhnt hatte, hier im Restaurant die weniger wichtige Post zu lesen. Mit einer Nagelfeile schlitzte er den Umschlag eines Briefes auf, der ihn anscheinend irritierte. Plötzlich sprang er auf, setzte sich seinen Filzhut auf den Kopf und stürmte zur Tür hinaus.

»Was ist denn los mit ihm?«, fragte Lu Sees Mutter. »Hat er seinen Friseurtermin vergessen?« In diesem Moment sah sie, wie Lu See einen roten Zehndollarschein aus der Kasse nahm und in einen Umschlag steckte. Sie holte hörbar Luft. »Was machst du da?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Klaust du etwa?« Sie betonte das erste Wort.

»Das geht dich nichts an, Mutter.«

»Spielst du? Ist es das?«

»Nein, ich spiele nicht.«

»Du trinkst! Du nimmst das Geld aus der Kasse und kaufst dir heimlich Alkohol!«

»Hör zu, das hier ist mein Restaurant. Ich kann mit den Einnahmen machen, was ich will.«

Ihre Mutter starrte sie mehr neugierig als verblüfft an. »Dein Onkel und ich sind stille Teilhaber. Uns gehören zehn Prozent. Vielleicht hast du das vergessen.«

Lu See spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Sie versuchte ihre Verlegenheit zu überspielen, indem sie Dungeonboy auf den Sprung in einer Teetasse aufmerksam machte.

Schon wieder klingelte das Telefon. Diesmal war Lu See schneller als Fishlips Foo. Sie nahm das Gespräch entgegen. Doch schon nach kurzer Zeit legte sie wieder auf.

»Das war James. Er sagt, dass gerade mehrere Tausend Menschen hier in der Nähe demonstrieren. Er rät uns dringend, das Restaurant zu schließen.«

»Schließen?«, fragte Onkel Hängebacke. »Warum?«

Lu See war sich nicht sicher. »Er hat nur gesagt, dass sie maoistische Parolen rufen und die Malaien mit Gesten, als wollten sie ihnen die Kehle durchschneiden, provozieren.«

Alle, einschließlich Fishlips Foo, kratzten sich nachdenklich am Kopf. Lu See jedoch drückte Dungeonboy ungerührt einen sauberen Teller in die ausgestreckten Hände, dann einen weiteren. Sobald er sie ins Regal geräumt hatte, ließ er das Gitter vor der Tür herunter und spülte dann weiter das Geschirr ab.

Eine Minute später hörten sie etwas. Dungeonboy, der bis zu den Ellbogen in Seifenwasser am Spülbecken stand, forderte die anderen auf, still zu sein. Er reckte den Hals und wischte sich mit einem Geschirrtuch den Seifenschaum von den Armen.

Das Geräusch näherte sich. Es war eine Art unterirdisches Pulsieren, das sich durch den Boden fortpflanzte, so wie das Trommeln schweren Regens in der Ferne.

Lu See, ihre Mutter, Onkel Hängebacke, Dungeonboy und Fishlips Foo gingen zu den Fenstern des Restaurants mit ihren kräftig orangeroten Fensterläden und spähten gebannt hinaus.

Nach und nach kam ein Heer von Menschen in Sicht. Es sah aus, als würden Ameisen von einem glühenden Ameisenhügel strömen. Laute Stimmen peitschten durch die Luft, wurden von den Glasfronten der anderen Ladenlokale der Straße zurückgeworfen. Die Menschen skandierten: »Malai Sai! Tötet die Malaien! Malai Sai! Tötet die Malaien!«

Tausende chinesische Demonstranten waren auf den Straßen. Sie blockierten die Fünf-Fuß-Wege, ergossen sich wie Wasser aus einem gebrochenen Damm.

»Der Osten ist rot! Die Kommunistische Partei ist die Sonne! Wo sie scheint, wird sich unsere Lehre verbreiten!«

Es klang wie das Tosen von tausend Stromschnellen.

Lu See schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Die Szenerie weckte Erinnerungen in ihr. So etwas hatte sie schon einmal gesehen: 1936 in London. Der Mob war außer Kontrolle, gierte nach Blut.

»Malai Sai! Malai Sai!«

Lu Sees Mutter griff sich mit der Hand an die Kehle. »Du hörst, was sie schreien? Sie wollen die Malaien töten! Sollen wir die Polizei rufen?«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass so etwas hier geschieht!«, keuchte Lu See.

Große Plakate, auf denen der Vorsitzende Mao zu sehen war, schwebten über den Köpfen der Menschen. Er blickte vom Himmel hernieder wie der Kopf eines Gottes.

»Der Vorsitzende Mao ist die rote Sonne in unseren Seelen!«

Sie marschierten dicht gedrängt, Seite an Seite, oftmals nur in Sandalen und mit Shorts und Unterhemd bekleidet. Viele von ihnen schwenkten ein kleines rotes Buch. Außerdem hielten sie alle entweder einen Stock, ein parang-Schwert, einen Knüppel oder eine Fackel in den Händen. Sie brüllten den Malaien zu, sie sollten zurück in den Dschungel kriechen. Dann rissen sie das Ladenschild des Kesselflickers herunter und trampelten darauf herum, als wäre es eine Mangrovenschlange.

»Wo wollen sie hin?«, fragte Lu See und krallte die Hände in den Stoff ihrer kebaya.

»Warum müssen sie ausgerechnet hier entlangmarschieren? Wissen sie denn nicht, dass das ein muslimisches Viertel ist?«, rief ihre Mutter.

»Genau deshalb tun sie es doch! Sie wollen die Malaien provozieren.«

Lu See steckte ihren Kopf zum Fenster hinaus, stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Meer von dahinziehenden Leibern überblicken zu können. So blieb sie stehen. Der aufdringliche Geruch verschwitzter Körper stieg ihr in die Nase und dann ein Geruch, der noch weit beunruhigender war: der ölige Gestank von Fackeln aus Lumpen, die man inzwischen entzündet hatte.

Es waren bereits erste Zeichen der Zerstörung zu sehen. Hier waren Karren umgeworfen, dort Laternen und Fenster eingeschlagen worden. Die meisten Passanten waren unterdessen voller Angst geflohen, ein paar von ihnen aber standen noch wie versteinert da. Einige der Straßenverkäufer drängten sich wie eine Herde verschreckter Schafe unter einem Verkehrspodium am Ende der Straße zusammen und starrten mit aufgerissenen Augen die tobende Menge an. Als diese immer dichter wurde, drängten sie sich noch enger aneinander.

In diesem Moment sah Lu See Pietro. Einige der Demonstranten zerrten ihn aus seinem Auto und stießen ihn hin und her. Lu See sah auch, dass ihr muslimischer Nachbar Abdul bin Kassim misshandelt wurde. Das Johlen der Menge in den Ohren, schob Lu See das Eisengitter nach oben und stürzte nach draußen. Sie riss irgendjemandem eine brennende Fackel aus der Hand und schwenkte sie wild hin und her, um sich einen Weg durch den Pöbel zu bahnen.

»Wagt es ja nicht, ihn anzufassen!«, schrie sie.

Ein Chinese umklammerte mit seiner Faust Abdul Bin Kassims fest zusammengerollten Bart, ein anderer zerriss seinen songkok.

»Was glaubt ihr, macht ihr hier?«, fauchte Lu See.

Der Kerl zögerte. »Wir erteilen diesen Malaien eine Lektion!«

»Dieser Mann ist mein Nachbar, und er ist mein Freund. Er lebt dort in dem Haus neben meinem Restaurant!«

»Restaurant?« Einer der Männer ließ seinen Blick irritiert umherwandern. Er war um die dreißig und hatte Beine so dünn wie Streichhölzer. Er zeigte auf das Il Porco. »Das ist Ihr Restaurant?« Er schwankte vor Überraschung.

»Bitte! Seht euch nur den Schaden an, den ihr bereits angerichtet habt.«

»Die haben es herausgefordert«, erwiderte ein Mann mit einem Pickel auf der Nase.

»Die Einzigen, die das herausgefordert haben, sind die Politiker. Sie sind diejenigen, die dafür verantwortlich sind, wie die Konzessionen vergeben werden.« Sie richtete sich auf. »Wenn ihr Ärger mit meinem Freund Abdul bin Kassim anfangen wollt, dann solltet ihr euch das besser noch einmal überlegen. In all den Jahren, die ich jetzt schon hier lebe, hat er sich noch kein einziges Mal über mein Restaurant beschwert, obwohl es bei mir vor allem Gerichte mit Schweinefleisch gibt. Er hat mir kein einziges Mal gesagt, dass ich von hier verschwinden soll.« Die Hitze der Fackel ließ ihr Gesicht glühen. »Was zum Teufel wollt ihr eigentlich? Wollt ihr wirklich Rassenunruhen?«

»Wir wollen, dass die Regierung auf unsere Probleme aufmerksam wird. Die Malaien haben so viele Privilegien, und …«

»Und deshalb brennt ihr ihre Geschäfte nieder?! Das ist doch Schwachsinn«, rief sie. »Legt eure parangs weg. Wenn ihr gehört werden wollt, dann demonstriert vor dem Parlamentsgebäude. Aber lasst uns in Ruhe! In dieser Straße hier sind wir alle Malaysier. Wir sind alle gleich!«

Der Mann mit dem Pickel auf der Nase senkte den Blick und starrte stirnrunzelnd auf seine knochigen Füße.

Lu Sees Augen funkelten. »Wer ist eigentlich für diesen dämlichen Pöbel verantwortlich? Was ihr hier macht, ist nichts anderes als sinnlose Zerstörung. Ihr benehmt euch wie Tiere. Bald werdet ihr mit Klauen und Zähnen übereinander herfallen. Du«, sagte sie zu dem Mann mit den Streichholzbeinen. »Was hast du für einen Beruf?«

»Ich bin Elektriker.«

»Ist das, was ihr hier tut, ein Spiegel dessen, wie du lebst?«

»Wie ich lebe? Ich lebe ein überaus zivilisiertes Leben«, antwortete er sichtlich gekränkt.

»Mit wem lebst du zusammen? Mit deiner Mutter? Deiner Frau? Deinen Kindern?«

»Mit meiner Frau, und ich habe zwei Töchter.«

»Was würden sie sagen, wenn sie dich jetzt sehen könnten? Wie du auf arme, unschuldige Leute losgehst?«

Der Mann betrachtete jetzt ebenfalls stirnrunzelnd seine Füße.

»Ich bin mir sicher, dass sie das sehr traurig machen würde. Ein intelligenter Mensch wie du …« Lu See funkelte ihn wütend an.

»Es tut mir leid«, sagte er zu seinen Füßen. Einige der anderen Männer starrten ihn an. Sie schienen sich nicht sicher zu sein, was sie tun sollten.

Eine Minute später erschien Stan Farrells Ford Anglia mit Blaulicht und Sirene.

Abdul bin Kassim klopfte sich den Staub von der Kleidung und zog sich in sein Haus zurück. In diesem Moment sah Lu See, wie Pietro versuchte, sich durch die Menge einen Weg zu ihr zu bahnen. »Lasst mich durch, ihr schwieligen Scheusale«, schrie er.

Die Demonstranten begannen sich zu zerstreuen. Schweigend und beinahe lautlos gingen sie jeder für sich davon.

Lu See, die Stan auf keinen Fall gegenübertreten wollte, nahm Pietro am Arm und zog ihn ins Restaurant. Sobald sie sich gesetzt hatte, drückte ihr Dungeonboy eine Tasse teh tarik in die Hände.

Onkel Hängebacke machte ein paar Schritte rückwärts und ließ sich dann wie ein Sack Kartoffeln auf einen stabilen Holzschemel plumpsen. »Du hast großes Glück gehabt, aahh. Ein Mob wie dieser kann total durchdrehen, lah. Dann gibt es kein Halten mehr!«

»Vor zehn Jahren wäre ich noch mit dir hinausgegangen«, sagte Fishlips. »Hum gaa chaan!«

Auch Lu Sees Mutter veranstaltete ein großes Theater. »Chee! Seit wann kommandierst du erwachsene Männer herum, hnn? Von wem hast du das nur?«

»Das frage ich mich auch«, erwiderte Lu See und legte ihrer Mutter beruhigend die Hand auf den Arm. Dann wandte sie sich Pietro zu. »Du bist vorhin sehr hastig aufgebrochen.«

»Ja. Ich habe einen Brief erhalten. Einen ziemlich beunruhigenden Brief, genau genommen.«

»Das ist mir nicht entgangen. Von wem ist der Brief?«

»Die Äbtissin von Sum Sums Nonnenkloster hat mir geschrieben.«

Lu See richtete sich kerzengerade auf, so als hätte man ihr mit einem elektrischen Viehtreiber einen Schlag versetzt. »Die Äbtissin? Von Sum Sums Kloster? Ich verstehe nicht … Wie? Warum hat sie dir geschrieben? O mein Gott! Ist Sum Sum etwas zugestoßen?«

»Nein. Es geht ihr gut.« Pietro war jetzt sichtlich verlegen. »Sum Sum schreibt mir schon seit einiger Zeit. Das schlaue Mädchen hat mit meinem College in Cambridge Kontakt aufgenommen. Sie hat das Sekretariat gebeten, ihre Post an mich weiterzuleiten.«

Lu See spürte einen Stich der Eifersucht. »Was schreibt sie denn?«

Er sah sie mit ruhigem Blick an. »Bis vor Kurzem gab es nichts Besonderes zu berichten. Kleinigkeiten, zum Beispiel, dass sie den Kommunisten am liebsten eine Bratpfanne um die Ohren hauen würde, solche Dinge eben. Die letzten beiden Briefe jedoch waren überaus beunruhigend. Es waren Hilferufe. Ich glaube, sie hatte Bedenken wegen der chinesischen Zensur, also hat sie das Ganze sehr rätselhaft und abenteuerlich formuliert. Es war ein bisschen so, als müsste ich Rapunzels verhedderten Zopf entwirren, aber schließlich ist es mir doch gelungen, die einzelnen Stücke zusammenzusetzen: Sie wird, so wie es der Dalai Lama getan hat, nach Indien gehen.«

»Was? Allein? Über den Himalaja?«

»Dem Brief der Äbtissin zufolge, ja. Sie will nach Dharamsala.«

Lu See spürte eine leise Panik in ihrem Inneren aufsteigen. »Ich habe im LIFE Magazine gelesen, dass der Dalai Lama mit Pferden und … und mit vielen Sherpas unterwegs war. Allein zu gehen, das ist doch reiner Selbstmord!«

»Was ist los?«, fragte Mabel, die sich gerade für ihre Nachtschicht im Krankenhaus fertig gemacht hatte und auf den Weg nach unten an der Zimmertür ihrer Mutter vorbeigegangen war.

»Nichts«, erwiderte Lu See, während sie Wollsocken und ihre dicke Winterkleidung, die sie schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte, in ihren fischledernen Koffer warf.

Mabel betrat Lu Sees Schlafzimmer, schob ein paar Kissen beiseite und setzte sich an das Fußende des Bettes. »Es ist irgendetwas Schreckliches, nicht wahr? Du gehst fort, um zu sterben. Du hast vor, dein Leben an einem abgeschiedenen Ort, einer Einöde oder in einer Höhle zu beschließen. Genauso wie es die alten Elefanten machen, wenn sie glauben, dass sie bald sterben werden. Sie gehen zu einem Elefantenfriedhof oder suchen irgendeine dunkle Höhle in der Wildnis auf.«

Lu See faltete sorgfältig einen Schal zusammen und legte ihn dann auf eine wollene Jacke.

»Das ist es, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Lu See. »Ich mache mich nicht auf die Suche nach irgendeiner Höhle in der Wildnis.«

»Was ist es dann? Sag es mir! Du hast eine schlimme Nachricht erhalten. Ich sehe doch, dass etwas nicht in Ordnung ist.«

»Nun, ich würde es nicht unbedingt eine schlimme Nachricht nennen. Im Gegenteil, sie war sogar ziemlich erfreulich.«

»Erfreulich?«

»Ja.« Lu See griff über ihren Koffer hinweg und nahm eine Landkarte in die Hand.

»Was ist das?«, fragte Mabel.

»Eine Karte von Indien.«

»Um Himmels willen! Das sehe ich doch. Aber wozu brauchst du sie? Hast du vor, nach Indien zu fahren?«

»Nicht nur ich. Du wirst mich begleiten.« Lu See drehte sich zu Mabel um. Sie strahlte übers ganze Gesicht.

»O Gott! Ich kenne diesen Gesichtsausdruck bei dir. So ein Gesicht machst du immer, wenn du irgendetwas Verrücktes vorhast. Was wollen wir denn in Indien?«

»Das erzähle ich dir später. Geh und pack deine Koffer. Vergiss nicht, eine dicke Jacke und warme Unterwäsche einzupacken.«

Mabel rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen musterte sie ihre Mutter nervös. »Was zum Teufel geht hier vor?«

»Wenn mir die Ärzte hier nicht helfen können, dann werde ich mir eben selbst helfen müssen.«

»Dir selbst helfen? Wovon in aller Welt sprichst du eigentlich?«

»Ich spreche von einer Medizin, Mabel. Ich werde mich auf die Suche nach einem Heilmittel machen.«

An diesem Abend war es im Restaurant sehr ruhig.

Lu See und Pietro saßen gerade bei einer Kanne Tee und plauderten miteinander, als sie ein leises Klopfen am Eisengitter hörten. Stan Farell trat, seine Polizeimütze unter den Arm geklemmt, zögernd über die Schwelle.

»Verzeihung, dass ich störe. Ich wollte nur sagen, dass sich die Lage wieder beruhigt hat.«

Lu See blies den Schaum von ihrem Tee. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du nie wieder einen Fuß in mein Restaurant setzen sollst.«

»Ja, richtig. Dann sollte ich jetzt wohl besser wieder gehen.«

»Nein, setz dich«, wies Lu See ihn an.

Stan tat, wie ihm geheißen. Vornübergebeugt saß er da. Die Hände hatte er zwischen seine Knie geschoben.

Sie funkelte ihn an. »Ich habe dir keineswegs verziehen.«

»Das weiß ich.«

»Und ich werde dir auch niemals verzeihen. Du bist ein hinterhältiger und heimtückischer Bastard!«

Pietro strich sich die Augenbrauen mit dem Daumen glatt. »Vorsicht, Schätzchen. Kleine Jungs lieben es, von kleinen Mädchen beleidigt zu werden. Sie haben dann das Gefühl, geliebt zu werden.«

»Du bist ein bösartiger und verschlagener Kerl!«

»Das mag durchaus richtig sein«, sagte Stan. »Aber mir ist wichtig, dass du eines erfährst: Man hat mich genauso getäuscht wie dich. Ich wusste nichts von der Bombe. Ich hatte niemals vor, dich oder Mabel zu verletzten.«

Sie hob warnend den Zeigefinger. Ihre Augen bohrten Löcher in sein Gesicht. »Was auch immer du sagst, es wird nichts zwischen uns ändern. Das ist dir doch bewusst, oder?«

Stan zog seine Lippen unbehaglich über seine hervorstehenden Zähne.

»Und du, Pietro, dich habe ich vorhin davor bewahrt, verprügelt zu werden. Dieser Mob hätte dich übel zugerichtet!«

Pietro schob seinen zarten Unterkiefer nach vorn. »Ach, Schätzchen, du kannst ja so melodramatisch sein.«

»Halt den Mund!«

Beide Männer fuhren zusammen.

Lu See hielt ihren Zeigefinger weiterhin erhoben wie eine Waffe. »Und da ihr beide mir etwas schuldig seid, werdet ihr jetzt auch etwas für mich tun.«

»Werde ich?«, jammerte Pietro.

»Werden wir?«, fragte Stan.

»Ihr werdet!«

»Was«, fragten sie unisono und schluckten.

»Pietro und ich werden uns in ein kleines Abenteuer stürzen.«

»Ein Abenteuer?«, rief Pietro sichtlich erschrocken. »Um Himmels willen! Wo willst du denn hin?«

»Du wirst mich nach Dharamsala in Indien begleiten.«

Pietro wurde blass. »Nach Indien? Mit all den Bettlern, die man schon aus zehn Metern Entfernung riechen kann?«

»Ja, Pietro. Du wirst für mich deinen ganzen diplomatischen Einfluss geltend machen müssen. Und du, Stan, du hast ein Jahr in Bombay gelebt. Du hast doch bestimmt noch einige Kontakte. Du wirst für mich herausfinden, wie wir am besten von Madras nach Himachal Pradesh gelangen.«

»Wann soll es losgehen?«, fragte Stan.

»Nächste Woche«, sagte Lu See.

»Oh, bei Edesias Klistier! Wie soll mein Magen nur mit all diesen Currys fertigwerden?«, jammerte Pietro. »Was ist mit meinen Darmwinden?«

»Steck dir einen Korken rein«, empfahl Stan.

»Oh, brah-haaa, sehr spaßig, Stan, wirklich sehr spaßig.«

»Was willst du dort, Lu See?«, wollte Stan wissen.

»Das, was ich schon die verdammten letzten zwanzig Jahre hätte tun sollen: Sum Sum finden.«

»Wie kommst du darauf, dass sie in Dharamsala ist?«

»Weil dort die Exilregierung des Dalai Lama ihren Sitz hat. Wenn ich Sum Sum irgendwo finde, dann im Geden-Choezon-Asyl für verbannte Nonnen.« Lu See ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Aber es bleibt noch eine Sache zu tun, bevor wir aufbrechen. Ich werde mit Mabel nach Juru fahren. Es gibt dort etwas, was sie unbedingt sehen soll.«

Lu Sees Mutter, die dem Gespräch gelauscht hatte, meldete sich plötzlich zu Wort. »Juru? Was in aller Welt willst du in Juru? Cha! Wenn du mich fragst, ist das jetzt nur noch ein Ort für die unteren Schichten.«

»Nun, sagen wir einfach, ich habe dort noch etwas zu erledigen.« Lu See wählte die Nummer des Krankenhauses und bat darum, Mabels Chef, den gut aussehenden Chirurgen, sprechen zu dürfen. Sie sagte ihm, dass ihre Tochter den nächsten Tag freinehmen würde. Er erhob keine Einwände.