3

Von einem windigen Berggipfel in Tibet, dort wo die Erde braun und hart war, sah Sum Sum aus der Ferne zu, wie man die Leiche ihrer Mutter in einem weißen Tuch herbeitrug und dann in Fötushaltung auf die kalten Steine legte. Am Himmel hoch über ihr kreisten zwei Geier im Aufwind, die schwarzen Schwungfedern aufgefächert, die Schwingen leicht nach vorn gebogen, und beobachteten, was da unter ihnen vor sich ging.

Der daodeng des Dorfes, der die Bestattung beaufsichtigte, steckte einen Klumpen Wacholder in Brand, um noch mehr Geier anzulocken. Würziger Rauch verteilte sich mit dem Wind, und schon bald erschien ein weiterer Schwarm Vögel am Himmel.

Die Tiere landeten nur wenige Schritt von Sum Sums Mutter entfernt. Die buschigen Federn am Hals aufgestellt wie Federboas umrundeten sie, von Stein zu Stein hüpfend, die Leiche. Zuerst waren es fünf oder sechs, dann landeten mehr als ein Dutzend auf einmal, und schließlich kam noch ein weiteres Dutzend.

Sum Sum wusste, was als Nächstes geschehen würde. Sie hielt den Atem an. Der daodeng hob seine Axt und ließ sie auf das Rückgrat ihrer A-Ma herabsausen. Die Wirbel krachten wie ferne Gewehrschüsse, als er den Leichnam in mehrere Teile zertrennte. Als Nächstes begann er, mit einem langen Messer die Muskeln in langen Streifen von den Knochen zu lösen und tsampa-Mehl unter das abgelöste Fleisch zu mischen. Schließlich lud der daodeng die Vögel mit einem leisen Piff ein, mit ihrem Festmahl zu beginnen. Dann klatschte er mehrmals aufmunternd in die Hände, als wolle er eine Herde Schafe herbeirufen.

Die Hälse ausgestreckt, die hellen Schnäbel und die Köpfe plötzlich mit Blut beschmiert begannen die Geier schon bald, sich um ihre Mahlzeit zu streiten. Sum Sum sah dabei zu, wie der Leichnam ihrer Mutter langsam in den Mägen der Vögel verschwand. Ein Schnabel schnappte einem anderen Eingeweide weg, Gedärme und Organe wurden gierig verschlugen.

Sie beschloss, nicht abzuwarten, bis der Schädel aufgebrochen wurde.

Die tibetische Sonne erhob sich über dem Horizont, schickte korallenrote Schatten aus ihrem Kupfermünzenauge. Sum Sum drehte sich um und lief den Pfad den Hügel hinunter.

Die Ohrenklappen ihrer Kappe schlugen gegen ihre Wangen, als sie losrannte, um ihren Bruder Hesha wiederzusehen. Er war jetzt Sergeant bei den Gurkhas und würde an diesem Morgen von der burmesischen Front zu einem viertägigen Sonderurlaub nach Hause kommen. Sie wollte ihn ganz fest an sich drücken und sein Herz an ihrem Ohr schlagen hören. Es war Aufregung, die sie über die Steine springen ließ, nicht Traurigkeit. Es war die Vorfreude auf dieses Wiedersehen, die ihre Augen mit Tränen verschleierte.

Zum ersten Mal seit fast sieben Jahren war Sum Sum mit ihrem Bruder allein. Sie standen im Haus ihrer Familie, einem Gebäude aus luftgetrockneten Ziegeln und Baumstämmen. Sie legte einen schmalen, weißen Schal, einen kata, über seine Schulter und verbeugte sich. Hesha nahm den Schal mit beiden Händen entgegen.

»Sieh dich nur an«, sagte sie. »Mager wie ein Skelett in der Wüste.«

Als sie auf Pferdefellkissen vor einem niedrigen Tisch saßen und heißen Buttertee aus hölzernen Schalen tranken, erzählte sie ihm vom Tod ihrer Mutter. Hesha hörte ihr schweigend zu, neigte dabei immer wieder ehrfürchtig den Kopf und flüsterte die Namen der Gottheiten, um ihr Andenken zu ehren.

Ihr Bruder wirkte erleichtert, als Sum Sum ihm berichtete, dass viele Vögel gekommen seien, um sich an ihrem Fleisch satt zu fressen. »Hoffen wir, das ihre Seele jetzt fortgezogen ist.«

Sie wollte noch mehr sagen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken.

Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über seine Stirn und sah aus dem Fenster, starrte zum Himmel hinauf. Dann blies er in seine Schale mit Buttertee, betrachtete den Stapel Feuerholz und das Sattelzeug, das auf dem Boden lag.

»Es ist uns bestimmt, die zu verlieren, die wir lieben, sonst würde uns niemals bewusst werden, wie viel sie uns bedeutet haben.«

Sum Sum berührte sanft seinen Arm. »Hier«, sagte sie und reichte ihm eine Schale mit tsampa. »Damit du ein bisschen mehr Fleisch auf die Rippen bekommst.«

Hesha nahm das tsampa entgegen, das er dann mit den Fingern in seinen Mund schaufelte. Während er aß, sprachen sie von ihrer Kindheit, von der Zeit, bevor Sum Sum zum Arbeiten in das fremde Land jenseits der Hochebene gegangen war.

»Erinnerst du dich noch daran, wie du im Frühling immer Drachen hast steigen lassen?«, fragte sie.

Sum Sum sah, wie ein Lächeln auf dem Gesicht ihres Bruders erschien. »Die alte Witwe Bayarmaa ist mir jedes Mal, wenn sich meine Drachenschnur in ihrer Wäsche verheddert hat, mit einem Besen hinterhergerannt.«

»Und erinnerst du dich auch noch an den Tag, als A-Pha dich zum Pferdefest mitgenommen hat und du auf einem mongolischen Pony reiten durftest?«

»Was schließlich damit endete, dass ich verkehrt herum auf dem Sattel saß.«

Sie mussten beide laut lachen.

Nach einer Viertelstunde gab Hesha ein halb unterdrücktes Gähnen von sich. Sum Sum kam während dieser untypischen Gesprächspause der Gedanke, dass Hesha vielleicht über das reden wollte, was er gerade tat. Sie fragte ihn, ob sein Rang als Sergeant bedeutete, dass er große Verantwortung trug.

»Viel Verantwortung«, erwiderte er.

»Was zum Beispiel?«

»Ich bin für einen Zug verantwortlich. Ich muss meinen Männern auf dem Schlachtfeld mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir nicht kämpfen, muss die Ausrüstung instand gehalten werden. Es ist meine Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass dies auch geschieht.«

»Erzähl mir von Burma. Du schreibst ja nie.«

Sein Gesicht wurde ernst. »Ich schreibe sehr wohl. Ich schreibe sogar viele Briefe, Schwester, ich richte sie aber nicht an Menschen, die ich kenne.«

Als sie ihn verständnislos ansah, fuhr er fort.

»Ich schreibe den Familien der Gefallenen. Jeden Monat sind es fünf oder sechs Briefe an nepalesische Mütter und Väter. Ich schreibe ihnen von ihren Söhnen, die erschossen, erstochen oder in die Luft gesprengt wurden. Die Worte sind schwarz wie Raben, die mein Herz heimsuchen. Ich bin das Briefeschreiben leid.«

Hesha wandte sein Gesicht ab, verbarg den Schmerz vor ihr. Sum Sum kannte diese Bewegung. So hatte er sich schon als kleiner Junge immer abgewandt, wenn A-Ma ihn gescholten hatte.

Sum Sum berührte sachte seine Schulter und bot ihm noch etwas von dem tsampa an. Danach erzählte er ihr, dass sein Bataillon, das zuvor in Rangoon stationiert gewesen war, auf einen Flugzeugträger verlegt worden sei.

»Man munkelt von einer möglichen Rückeroberung Malaysias.«

Sum Sum nickte und schwieg.

Ein Flugzeug zog über ihren Köpfen dahin. Die Einheimischen nannten es »Eisenvogel«. Sum Sum wusste, dass es sich um eine amerikanische C-87-Transportmaschine handelte, die aus Indien kam. Hesha hatte ihr gesagt, dass die Alliierten, seit die Japaner die Burma Road kontrollierten, eine Luftbrücke über dem Himalaja eingerichtet hatten, um Chiang Kai-sheks Streitkräfte in China zu unterstützen.

Es vergingen zwei weitere Tage, bevor sie ihm einen Umschlag in die Hand drückte. »Wenn der Krieg vorbei ist und du zufällig einmal in Penang bist, könntest du das dann für mich abgeben?« Er las den Namen auf dem Umschlag und neigte ehrfürchtig den Kopf.

»Dies ist der einzige Brief, den ich gern zustelle.« Er sah die Traurigkeit in den Augen seiner Schwester. »Wie lange hast du sie jetzt nicht mehr gesehen?«

Sie versteifte sich. »Ich habe England 1937 verlassen. Es ist jetzt acht Jahre her, dass ich meine beste Freundin im Stich gelassen habe.«

Selbst jetzt, nach all dieser Zeit, brachte sie das noch immer aus dem Gleichgewicht. Sie hatte das Gefühl, von einem sich drehenden Karussell abzusteigen.

»Und seitdem hattet ihr keinerlei Kontakt mehr?«

Sie schüttelte den Kopf und spürte, dass ihr Gesicht zu glühen begann. »Nein.«

Sie versuchte zu lächeln, versuchte so zu tun, als wurde ihr das nichts ausmachen, aber das gelang ihr nicht. Das Schuldgefühl drückte sie nieder wie der Regen das hohe Gras.

Sie hatte England verlassen und war nach Malaysia geflohen, hatte das Ticket für die Schiffspassage und das Geld an sich genommen, das noch immer in dem roten ang-pow-Päckchen von Onkel Hängebacke gewesen war. Sie hatte Lu See gegenüber mit keiner Silbe erwähnt, dass sie nach Lhasa zurückkehren wollte. Eines Morgens war sie in aller Frühe aufgestanden, hatte ihr Baby gefüttert und ihre Sachen gepackt, und dann hatte sie einfach das Haus verlassen. In Felixstowe war sie an Bord eines Schiffes gegangen, das sie nach Penang gebracht hatte. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, war sie sich wie eine Verräterin vorgekommen.

In Malaysia angekommen hatte sie nicht mehr genügend Geld gehabt, um nach Tibet weiterzureisen. Also hatte sie unter freiem Himmel geschlafen. Sie hatte als Aushilfe eines Straßenhändlers gearbeitet, wo sie Zuckerrohr zerstoßen hatte, um den Saft zu gewinnen. Sie hatte nicht ein einziges Mal versucht, Verbindung mit irgendeinem Mitglied der Familie Teoh aufzunehmen, um Hilfe zu erbitten. Schließlich hatte sie genug Geld zusammengespart, um nach Chittagong weiterreisen zu können. Sie hatte dazu ein langsames Boot von der Malakkastraße zum Golf von Bengalen genommen. Vierzehn Tage später war sie in Lhasa angekommen.

Seitdem hatten die brennenden Schuldgefühle sie nicht mehr losgelassen. Und dennoch war sie tief in ihrem Inneren davon überzeugt, dass das, was sie getan hatte, richtig gewesen war. Ihr Opfer war unerlässlich gewesen.

Fünf Tage nach der Himmelsbestattung ihrer Mutter ging Sum Sum zum Dorf der wolkigen Wipfel, legte ihre Zehenringe ab, die Zeichen ihres Stammes waren, und trat in das Nonnenkloster von Ani Trangkhung ein. Sie tat dies nicht, weil sie plötzlich tiefreligiös geworden war; nein, sie tat es, weil sie nicht wusste, wo sie sonst hätte hingehen sollen. Mit ihren achtundzwanzig Jahren war sie bei Weitem die älteste der Novizinnen.

Um die sechsunddreißig Novizen-Eide auswendig zu lernen, legte sie den quadratischen Teppich, den nur Novizen benutzen durften, aus und ließ sich langsam auf ein Knie nieder. Überall um sie herum murmelten junge Frauen in ihre Klangschalen hinein, strichen in kreisenden Bewegungen über deren Rand, um einen melodischen Ton zu erzeugen.

Kniend, die Handflächen unter dem Kinn aneinandergelegt, den Blick fest auf eine tropfende rote Kerze gerichtet lauschte Sum Sum der Stimme der Vorsteherin des Tempels, die durch den Weihrauch an ihr Ohr drang.

»Bist du bereit, Zuflucht unter der Führung und dem Schutz von Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen?«, fragte die alte Nonne.

»Ich bin bereit«, erwidert Sum Sum leise.

»Bist du bereit, allen weltlichen Beziehungen und Besitztümer zu entsagen?«

Im Hintergrund schlug die vajra leise eine Glocke. Sum Sum schloss die Augen, ließ ihren Geist leer werden und stellte sich dann einen Schirm aus weißem Licht vor, der die Klosteranlage umfing.

»Ja.«

Die Vorsteherin des Tempels legte ihren Daumen auf Sum Sums Kopf und übte einen leichten Druck aus. Sum Sum hörte ein erstes schnipp. Dann spürte sie, wie ihre dichten Haare glatt gezogen wurden, sodass sich ihr Kopf ein wenig zur Seite neigte. Ein mahlendes Geräusch ertönte in ihren Ohren, als die langen schrägen Klingen der Schere dicke Haarsträhnen abschnitten.

Ihre Haare kitzelten auf ihren Armen, als sie zu Boden fielen. Sum Sum hätte nur allzu gern die Hand gehoben, um sich mit ihren Fingern über den Kopf zu fahren und zu ertasten, was da gerade geschah, aber ihre Handflächen verharrten aneinandergelegt unter ihrem Kinn.

Die metallenen Kiefer schnitten und schnitten, entfernten ein Büschel nach dem anderen.

»Was macht ihr eigentlich mit den ganzen Haaren, lah?«, flüsterte Sum Sum.

»Psssst!«

»In England kaufen sie Haar wie meines, um Perücken daraus zu machen. Ihr solltet das auch tun. Fegt die Haare zusammen und schickt sie einem Perückenmacher. Das Geld könnt ihr vielleicht dazu verwenden, schärfere Scheren zu kaufen.«

»Zapple nicht so rum, und sei endlich still.«

Sie beobachtete eine Weile die tropfende Kerze. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, als sie das Rasiermesser sah.

»Wofür ist das, lah

»Was für eine dumme Frage! Das ist, als müsse man einem Fisch das Schwimmen beibringen! Schau, wie still die anderen Mädchen darauf warten, dass sie an die Reihe kommen. Sei so gut und mach es so wie sie, ja?«

Im Halbdunkel räusperte sich jemand. Vielleicht, um dagegen zu protestieren, dass sie so laut redeten, dachte Sum Sum.

Die Rasierklinge kratzte über Sum Sums Haut. »Aua!«

»Aua, so ein Quatsch. Halt still!«

Die Klinge pflügte einen bleichen Pfad durch die feinen schwarzen Stoppeln.

Schließlich schnipste die Vorsteherin des Tempels mit dem Finger gegen Sum Sums Ohrläppchen und sagte ihr, dass sie ins nächste Gebäude gehen solle, um sich bei der Leiterin der Gebetshalle ihre Kleidung abzuholen.

Das Büro von Jampa, der Leiterin der Gebetshalle, lag auf der anderen Seite des Hofes. Von dort aus hatte man eine gute Sicht auf die Schneeberge und den Potala-Palast mit seiner Fülle von Windpferd-Flaggen, die flatternden bunten Papiertüchern ähnelten.

Sum Sum hob den Türklopfer, der die Form eines Drachen hatte, und ließ ihn fallen.

»Yar Pep! Herein!«

Der kleine Raum war spartanisch eingerichtet. Ein Schreibtisch, drei Holzstühle, eine Sturmlampe mit geöltem Docht und ein Wandteppich aus Wolle mit dem Bild der Weißen Tara stellten das einzige Inventar dar. Sum Sum warf einen Blick auf das Bildnis der Mutter aller Buddhas mit ihren sieben Augen, suchte nach jenen in der Mitte ihrer Stirn, auf ihren Händen und ihren Füßen. Ein einzelnes Sprossenfenster mit lichtdurchlässigem Papier bespannt erlaubte einen verschwommenen Blick auf den Fluss und die Hügel dahinter.

Gebetshallenleiterin Jampa, eine beleibte Siebzigerin mit einem Gesicht wie ein kleines Ferkel, lächelte pausbäckig. Sie machte mit der Zunge ein schnalzendes Geräusch. »Du hast deinen Kopf rasieren lassen. Yakpo ndug, das ist gut.«

Sum Sum strich sich mit der Hand über ihren kahlen Schädel. »Aiyoo sami! Ich sehe bestimmt aus wie ein frisch gelegtes Ei. Kann ich wenigstens einen Eierwärmer tragen, wenn es kälter wird?« Ein Kichern stieg in ihr auf, es gelang ihr jedoch, es zu unterdrücken.

»Es wird von dir erwartet, dass du deinen Kopf immer rasierst. Die Vorsteherin des Tempels wird dir Rasierklingen zur Verfügung stellen. Ay-yi, aber was ist denn das? Deine Kleidung sitzt viel zu locker. Komm näher, ich will mir dein Gewand ansehen.«

Die Gebetshallenleiterin rückte Sum Sums rotbraunen Schal und ihr Untergewand zurecht, zog das Tuch an der Taille fest. »Diese schlichte Kleidung mag zwar für den Verzicht stehen, zu dem wir uns verpflichtet haben, aber wir müssen dennoch auf ein ordentliches Erscheinungsbild achten. Und jetzt nimm bitte Platz.«

Sum Sum setzte sich und legte die Hände respektvoll in den Schoß. Sie betrachtete den Schreibtisch. Dort lagen, sauber nebeneinander aufgereiht, Schriftrollen, Kalligrafie-Pinsel aus Kaninchenhaar und Schäften aus Ochsenhorn, ein Fläschchen Tusche, ein purpurfarbiger Reibestein und ein Pinselwascher aus Stein.

Jampa beugte sich über ihren Schreibtisch und bot Sum Sum natag-Schnupftabak an, den sie als fein gemahlenes Pulver in einem Behälter aus Yakhorn aufbewahrte. Eine Windbö drang durch die Spalten im Sprossenfenster und ließ Sum Sum frösteln.

»Ein klein wenig davon auf dem Daumennagel genügt«, sagte die Gebetshallenleiterin.

Die Schriftrollen bewegten sich im Wind. Sum Sum nahm eine Prise und legte dann den Kopf in den Nacken, als erwarte sie zu niesen. Nach ein paar Sekunden begann sie zu würgen.

»Ist er zu stark für dich?« Jampa lächelte Sum Sum freundlich an. Ihre Augen funkelten belustigt.

Sum Sum atmete langsam aus, wobei ihr Atem als graue Staubwolke aus ihrem Mund entwich. »Gütiger Dharmakaya-Himmel! Was ist denn da drin? Chilipulver?«

»Gemahlener Bockshornklee, Kardamom und Wacholderasche.«

Beide Frauen hatten jetzt wässrige Augen.

»Ndug’re. Okay. Eine Prise davon bewirkt morgens vor dem Fünf-Uhr-Gebet wahre Wunder. Erst danach bin ich wirklich wach. Ich biete allen Novizinnen an ihrem ersten Tag etwas davon an. Ich denke, es hilft ihnen dabei, die Nerven zu beruhigen. Aber die Äbtissin sollte besser nichts davon erfahren, sonst frisst sie mich zum Frühstück.«

Sum Sum und Jampa schnalzten zufrieden mit der Zunge.

Die Gebetshallenleiterin entnahm einer Mappe auf ihrem Schreibtisch einen Zettel und reichte ihn Sum Sum.

»Ndug’re. Es ist jetzt an der Zeit, dass wir uns den organisatorischen Dingen widmen. Wir haben entschieden, dass dies dein Dharma-Name sein wird.«

Sum Sum starrte das Stück Papier an. Es war beige und mit tibetischen Buchstaben beschriftet.

»Sengemo? Löwin?«

»Das ist ein guter Name. Er steht in Einklang mit deiner Abstammung – dein Vater war ein hervorragender Soldat, nicht wahr? Löwin, das passt zu dir. Ich möchte außerdem, dass du diese Mala-Perlen an deinem Handgelenk trägst. Jede dieser Perlen ist aus Knochen gefertigt. Sie werden dir bei deinen Gebeten helfen.«

Sum Sum dankte ihr.

»Wenn du in dieses Kloster eintrittst, lässt du deine Geschichte hinter dir«, fuhr die alte Nonne fort. »Man vergisst, was vorher war. Du musst zulassen, dass deine Erinnerungen rosten. Was vergangen ist, ist vergangen. In der Welt dort draußen erschaffen sich die Menschen ihre eigene Traurigkeit. Das ist hier nicht der Fall.«

Die Gebetshallenleiterin betrachtete nachdenklich ihren Aktenordner. »Ndug’re. Ich denke, wir sollten jetzt über deine zukünftigen Aufgaben sprechen. Wie du sicher weißt, erhalten wir im Gegensatz zu den Mönchen keine Bezahlung für rituelle Dienste. Aus diesem Grund können wir es uns auch nicht leisten, unsere Schwestern auf die Art und Weise zu verpflegen, wie das ein Mönchskloster kann. Du wirst hier Wissen erwerben und die Lehren des Buddha verinnerlichen, aber man wird von dir auch verlangen, dass du dazu beiträgst, die Gemeinschaft zu versorgen.«

Sum Sum nickte. »Tuteche.«

»Welche besonderen Fähigkeiten hast du? Was kannst du? Weißt du, wie man eine Spindel benutzt?«

»Leider nein, Gebetshallenleiterin.«

»Hmm. Kennst du dich mit der Feldarbeit aus?«

Sum Sum lächelte sie an, zeigte dabei ihre mit Neem gepflegten weißen Zähne. »Ich habe als Kind oft auf den Reisfeldern geholfen.«

»Aber seitdem nicht mehr?«

»Ein bisschen Gemüseanbau, wenn die Erde nicht allzu zu hart ist.«

Jampa kniff sich ins Kinn und gab ein weiteres halb amüsiertes, halb entsetztes Hmmm von sich.

»Also, einmal andersherum gefragt, was kannst du, Sengemo

Sum Sum griff sich instinktiv an den Kopf, um eine ihrer nicht mehr vorhandene Haarsträhnen um ihren Finger zu wickeln. »Kochen. Ich glaube, ich bin eine gute Köchin, lah

»Bei der sengenden Sonne, das wäre ja noch schöner. Die Aufgaben in der Küche sind den älteren Mitgliedern vorbehalten. Wir können schließlich nicht riskieren, dass du uns mit nicht durchgekochtem Essen vergiftest, oder? Nein, ich denke, die Wäsche ist das Richtige für dich. Ndug’re! Du wirst als Wäscherin anfangen und am Fluss die Kleidung waschen. Einverstanden?«

Sum Sum nickte. »Tuteche.«

»Da das jetzt geklärt ist, lass mich dich daran erinnern, dass Keuschheit unabdingbar ist und dass in deinen ersten fünf Jahren der Kontakt mit Menschen außerhalb der Klostermauern von Ani Trangkhung nicht gestattet ist. Danach darfst du das jährliche Pferdefest auf dem Grasland besuchen. Wenn du jemandem eine Nachricht zukommen lassen möchtest, dann tust du gut daran, zuerst bei einer Ältesten Rat zu suchen. Gibt es jemanden, mit dem du vor deiner endgültigen Aufnahme noch einmal Verbindung aufnehmen möchtest?«

Sum Sum war froh, dass es ihr möglich gewesen war, ihren Bruder Hesha noch einmal zu sehen, jetzt aber dachte sie an Lu See. Sie hätte ihr so gern mitgeteilt, wo sie war, was sie tat, sehnte sich danach, zu erfahren, ob sie und das Kind in Sicherheit waren. Acht Jahre waren es nun, acht Jahre ohne jeden Kontakt. Sie legte das alles jetzt in die Hände des Schicksals. Wenn es ihr bestimmt war, ihre Freundin noch einmal wiederzusehen, dann würde Hesha sie das wissen lassen.

»Nein.« Sie senkte den Blick. »Es gibt niemanden.«

»Ndug’re.«

Die Gebetshallenleiterin griff jetzt nach ihrem Behälter aus Yakhorn. »Verschmähe alle weltlichen Güter. Du besitzt jetzt nur noch ein Gewand und ein Paar Sandalen. Studiere die Schriften gründlich, arbeite hart und werde eine gelehrte und freundliche Nonne.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Innerer Friede und Kraft seien mit dir.«

Sum Sum erhob sich von ihrem Stuhl, hielt dabei ihre Mala-Perlen in der Hand und neigte den Kopf. »Innerer Friede und Kraft seien mit dir.«