21
Wir kamen zu früh bei Mom und Dad an, obwohl wir unterwegs noch Halt machten, um die Donuts und die Kondensmilch zu kaufen, die ich für meinen Kuchen brauchte. Alles andere hatte Wyatt zu Hause, die nötigen Kuchenformen eingeschlossen. Ganz recht, Kuckenformen. Im Plural. Wir kauften vier Dutzend glasierte Donuts. Schon bei dem Geruch lief mir das Wasser im Mund zusammen, aber ich blieb standhaft und öffnete nicht mal den Deckel.
Dad machte uns die Tür auf, stockte, sah mir lange ins Gesicht und fragte dann ganz ruhig: »Was ist passiert?«
»Ich hatte einen Unfall«, sagte ich und ließ mich von ihm in den Arm nehmen; erst danach wagte ich mich in die Küche und zu meiner Mutter. Hinter mir hörte ich Dad und Wyatt leise miteinander reden, woraus ich schloss, dass Wyatt meinem Vater die schaurigen Einzelheiten schilderte.
Nach längerem Hin und Her hatte ich gar nicht erst versucht, die blauen Flecken zu übertünchen. Gut, ich hatte eine leichte Baumwollhose mit rosa-weißen Streifen an und ein weißes T-Shirt, das ich über dem Bauch zusammengeknotet hatte, weil ich keine Shorts anziehen konnte, ohne dass es bei meinen grünen und blauen Beinen so ausgesehen hätte, als hätte mich Wyatt verprügelt, und ich hatte momentan keine Lust, seine Ehre zu verteidigen. Aber ich hatte keine Grundierung auf die blauen Flecken unter meinen Augen aufgetragen, weil ich sicher war, dass jedes Make-up verlaufen würde, wenn Mom das tat, was auch immer sie mit meinem Gesicht anstellen würde.
Sie stand vor dem geöffneten Gefrierschrank und schaute sinnierend hinein. »Eigentlich wollte ich einen Braten machen«, sagte sie, ohne aufzusehen, als sich mich hereinkommen hörte. Ich bin nicht mal sicher, ob sie wusste, dass ich es war und nicht Dad, aber das war auch egal. »Aber jetzt habe ich mich so lange mit diesem verflixten Computer rumgeschlagen, dass es dafür zu spät ist. Was hältst du von gegrillten …« Sie schaute auf, erblickte mich und riss die Augen auf. »Blair Mallory«, schalt sie mich vorwurfsvoll, als hätte ich mich selbst grün und blau geprügelt.
»Ein Autounfall«, sagte ich und ließ mich auf einen der Barhocker an der Küchentheke sinken. »Mein armes kleines Auto ist Schrott. Jemand hat meine Bremsleitungen durchgeschnitten, und ich bin an der Kreuzung bei mir zu Hause mit vollem Karacho in den Verkehr auf der Hauptstraße gerauscht.«
»Das muss aufhören«, bestimmte sie gepresst und wütend und schloss die Gefrierschranktür, um stattdessen die Kühlschranktür aufzuziehen. »Ich dachte, die Polizei hätte den Mann gefasst, der Nicole umgebracht hat.«
»Stimmt. Aber der war es nicht. Er hat auch nicht auf mich geschossen; nachdem er Nicole ermordet hatte, hat er sein Haus nur noch verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Seine Frau hat ihm ein Alibi gegeben, und sie wird ihn kaum decken, weil sie die Scheidung eingereicht hat, sobald sie erfahren hat, dass er sie betrügt.«
Mom schloss die Kühlschranktür, ohne etwas herausgenommen zu haben, und zog wieder die Gefrierschranktür auf. Mom ist geradezu beängstigend effizient, weshalb dieses Hin und Her verriet, wie sehr sie sich aufregte. Diesmal holte sie eine Tüte mit gefrorenen Erbsen heraus und schlug sie in ein sauberes Küchenhandtuch. »Das legst du auf die blauen Flecken«, befahl sie und reichte mir das Paket. »Was ist dir sonst noch passiert?«
»Ich habe nur einen Haufen blaue Flecken abbekommen. Und jeder Muskel tut mir weh. Ein anderes Auto hat meines auf der Beifahrerseite gerammt und mich zur Seite geschleudert. Der Airbag ist aufgegangen und hat mir die Nase blutig geschlagen.«
»Du kannst froh sein, dass du keine Brille trägst. Als Sally« – Sally Arledge ist eine gute Freundin von Mom – »ihr Auto an die Hauswand gefahren hat, hat ihr der Airbag die Brille und die Nase zerschmettert.«
Ich konnte mich nicht entsinnen, dass Sally gegen ihre eigene Hauswand gefahren war, und ich war sicher, dass Mom mir das erzählt hätte. Meine Schwestern und ich hatten sie früher immer »Tante Sally« genannt, und wir hatten viel gemeinsam unternommen – Mom mit ihren drei Kindern und Sally mit ihren fünf. Wir waren eine ziemliche Horde, wenn wir alle zusammen unterwegs waren. Sally hatte vier Jungs und eine Tochter. Die vier Jungen hatte sie nach den Aposteln benannt, aber die biblischen Mädchennamen gefielen ihr nicht, darum hießen ihre Kinder Matthew, Mark, Luke, John und Tammy. Tammy fühlte sich immer ein wenig benachteiligt, weil sie keinen Namen aus der Bibel hatte, weshalb wir sie eine Weile Rizpah nannten, was ihr aber auch nicht gefiel. Ich persönlich fand Rizpah Arledge apart, aber Tammy beschloss, bei Tammy zu bleiben, und musste deshalb nicht mal zum Psychologen gehen.
»Wann ist Sally gegen ihr Haus gefahren? Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Leg die Erbsen auf dein Gesicht«, mahnte sie, und ich legte gehorsam den Kopf in den Nacken und platzierte den Beutel mit gefrorenen Erbsen auf meinem Gesicht. Er war so groß, dass er meine Augen, die Wangen und die Nase abdeckte, und er war verflucht kalt. »Ich habe es dir nicht erzählt, weil es erst am Samstag passiert ist, als du am Meer warst, und ich seither keine Gelegenheit dazu hatte.«
Ach ja, das Meer. Sehnsüchtig erinnerte ich mich daran. Mein Urlaub war nur ein paar kurze Tage her, aber damals war Wyatt mein einziges Problem gewesen. Am Meer hatte niemand versucht, mich umzubringen. Vielleicht sollte ich wieder dorthin fahren. Tiffany würde das gefallen. Und mir auch, vorausgesetzt, niemand schoss auf mich oder pfuschte an meinem Auto herum, solange ich dort war.
»Hat sie das Gaspedal mit der Bremse verwechselt?«, fragte ich.
»Nein. Sie hat das Haus absichtlich gerammt. Sie war sauer auf Jazz.«
Sallys Mann heißt Jasper, was irgendwie auch ein biblischer Name ist, denn immerhin wird in der Bibel oft genug von »Jaspis« gesprochen, aber kein Mensch nennt ihn so; er war für alle immer nur Jazz.
»Und deshalb hat sie ihr Haus gerammt? Eine ziemlich teure Racheaktion.«
»Sie hatte es eigentlich auf Jazz abgesehen, aber der konnte gerade noch zur Seite springen.«
Ich nahm die Erbsenpackung von meinem Gesicht und starrte Mom mit offenem Mund an. »Sally wollte Jazz umbringen?«
»Aber nein, nur ein bisschen verstümmeln.«
»Aber dann hätte sie einen, ich weiß nicht, Rasenmähertraktor nehmen sollen und kein Auto.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass er einem Rasenmäher entwischt wäre«, meinte Mom nachdenklich, »obwohl er in letzter Zeit wirklich ein bisschen zugelegt hat. Nein, er wäre ihm ganz bestimmt entwischt, denn er war immerhin flink genug, um aus der Fahrbahn zu springen, als sie mit dem Auto auf ihn los ist. Mit einem Rasenmäher hätte sie ihn nie gekriegt.«
»Was hat er denn angestellt?« Im Geist sah ich, wie Sally ihn mit einer anderen Frau, vielleicht ihrer Erzfeindin, erwischte, was den Betrug doppelt schlimm machen würde.
»Du kennst doch diese Shows im Fernsehen, wo ein Mann oder eine Frau einen Innenarchitekten ins Haus holt und ein Zimmer neu gestalten lässt, um damit den Partner zu überraschen? Genau das hat er letzte Woche gemacht, während Sally in Alabama war und ihre Mutter besucht hat.«
»O. Mein. Gott.« Ich sah Mom entsetzt an. Die Vorstellung, dass jemand Fremdes in meine Wohnung kommen und meine liebevoll zusammengestellte Einrichtung umschmeißen würde, um alles neu einzurichten, ohne dass er oder sie eine Ahnung hatte, was mir gefiel oder nicht, war einfach grauenvoll. Ich schauderte. »Er hat einen von diesen Fernseh-Dekorateuren angeheuert?«
»Nicht mal das. Er hat Monica Stevens von Sticks and Stones beauftragt.«
Dem war nichts hinzuzufügen. Ein derart tragischer Missgriff ließ mich erschüttert verstummen. Monica Stevens hatte eine Vorliebe für Glas und Stahl, was vermutlich wunderbar ist, wenn man gern in einem Labor wohnen würde, und sie schwärmte für Schwarz. Viel schwarz. Unglücklicherweise neigt Sally geschmacklich eher zu einem kitschigen Landhausstil.
Trotzdem war mir klar, wie Jazz auf Monica gekommen war: Sie hatte die dickste Anzeige im Branchenbuch, woraus der arme Jazz mit Sicherheit geschlossen hatte, dass sie sehr erfolgreich und beliebt sein musste, da sie andernfalls keine solche Anzeigen schalten könnte. So denkt Jazz eben. Und er hat das zusätzliche Handicap, dass er, obwohl er seit fünfunddreißig Jahren verheiratet ist, keine Ahnung hat, wie weit ein Mann bei einer Frau gehen darf. Wenn er zuvor daran gedacht hätte, Dad zu fragen, ob das mit der neuen Einrichtung eine gute Idee ist, hätte er sich einen Haufen Ärger und Geld sparen können, weil Dad nicht nur Ahnung von Frauen hat, sondern daraus eine wahre Wissenschaft gemacht hat. Mein Dad ist ein kluger Kopf.
»Und welches Zimmer hat er Monica gestalten lassen?«, fragte ich mit schwacher Stimme.
»Tu die Erbsen auf dein Gesicht.« Ich gehorchte und hörte Mom sagen: »Das Schlafzimmer.«
Ich stöhnte. Sally hatte sich jahrelang abgemüht, die passende Einrichtung für ihr Schlafzimmer zu finden, und war von Auktion zu Auktion und von Flohmarkt zu Flohmarkt gezogen, um die perfekten Antiquitäten aufzutreiben. Einiges davon hatte das Zeug zum Erbstück gehabt. »Und was hat Jazz mit Sallys Möbeln gemacht?« Rein juristisch betrachtet waren es wohl auch seine Möbel gewesen, aber emotional gesehen hatte vor allem Sally investiert.
»Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Monica hat ihn überredet, die Möbel auf Kommission in ihren Antiquitätenladen zu geben, und natürlich war alles in Windeseile verkauft.«
»Was?« Ich ließ die Erbsen von meinem Gesicht rutschen und starrte meine Mutter mit offenem Mund an. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gehört hatte. Die arme Sally konnte ihr Schlafzimmer nicht einmal mehr restaurieren. »Vergiss das Auto, ich hätte einen Bulldozer geklaut und Jazz in den Boden gestampft! Warum hat sie nicht zurückgesetzt und einen zweiten Anlauf genommen?«
»Na ja, sie war verletzt. Ich habe dir doch erzählt, dass sie sich dabei die Nase gebrochen hat. Und sehen konnte sie auch nichts mehr, weil ihre Brille kaputt war. Ich weiß nicht, was aus ihnen werden soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihm das je verzeiht – Hallo, Wyatt. Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Blair, ich hatte keine Zeit, den Braten in den Ofen zu schieben, deshalb gibt es Hamburger.«
Ich drehte mich zu den beiden Männern um, die schweigend in der Tür standen und lauschten. Wyatts Miene war nicht mit Gold aufzuwiegen. Dad ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Wunderbar«, meinte er fröhlich. »Ich werfe schon mal den Grill an.« Er spazierte durch die Küche auf die Terrasse, wo er seinen Monstergrill stehen hat.
Wyatt war durch und durch Polizist. Er hatte eben von einem Mordversuch erfahren, auch wenn ich wusste, dass Sally Jazz nicht wirklich umbringen, sondern ihm eher beide Beine brechen wollte. Und er sah aus, als sei er eben in ein Paralleluniversum gebeamt worden. »Sie kann ihm nicht verzeihen?«, fragte er angestrengt. »Nachdem sie ihn umzubringen versucht hat?«
»Aber ja«, sagte ich.
Mom sah ihn an. »Er hat ihr Schlafzimmer umgestaltet.« Mussten wir ihm erst eine Skizze zeichnen?
»Ich gehe nach draußen«, meinte er vorsichtig und folgte Dad auf die Terrasse. Ehrlich gesagt sah es fast so aus, als würde er die Flucht ergreifen. Ich weiß nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht dachte er, wir hätten lieber über meine augenblicklichen Probleme sprechen sollen, aber ich habe doch schon erzählt, dass ich manchmal ganz gern geistige Pirouetten drehe, um nicht an etwas Bestimmtes denken zu müssen? Das habe ich von meiner Mom geerbt. Wir fühlten uns viel besser, wenn wir uns darüber unterhielten, wie Sally Jazz zu überfahren versuchte, als wenn wir uns den Kopf zermarterten, wer mich wohl umbringen wollte.
Trotzdem war das Thema wie ein Fünfhundertkilo-Gorilla; wir konnten es vielleicht vorübergehend in die Ecke verbannen, aber wir würden es bestimmt nicht vergessen.
Siana tauchte auf, nachdem sie kurz zu Hause gewesen und Shorts und ein T-Shirt angezogen hatte. Auch Jenni kam in einem fröhlichen hellgelben Kleid, das ihre Haut zum Leuchten brachte, hereingeschneit und musste in einer Kurzfassung über meinen Unfall aufgeklärt werden. Der Unfall war auch das Hauptthema am Esstisch über unseren saftigen Hamburgern. Eigentlich war es nicht der Esstisch, sondern der Picknicktisch auf der Terrasse, aber das Prinzip bleibt dasselbe.
»Ich werde morgen mit Blairs Exmann sprechen«, sagte Wyatt, als Mom ihn fragte, wie die Polizei weiter vorgehen wolle. »Blair ist zwar überzeugt, dass er es nicht war, aber die Statistik sagt, dass wir uns trotzdem mit ihm unterhalten sollten.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Tu, was du nicht lassen kannst. Wie gesagt, ich habe seit der Scheidung nicht mehr mit ihm gesprochen und mich auch nicht mit ihm getroffen.«
»Aber kaum wurde in den Nachrichten berichtet, dass auf sie geschossen wurde, da hat er angerufen und eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen«, erzählte Wyatt meiner gebannt lauschenden Familie.
Siana lehnte sich zurück und meinte nachdenklich: »Es ist nicht ganz und gar ausgeschlossen, dass er wieder mit dir zusammenkommen möchte. Vielleicht hat er Probleme mit seiner zweiten Frau.«
»Ein Grund mehr für mich, morgen ein paar Takte mit ihm zu reden«, meinte Wyatt mit einem leichten Peitschenschlag in der Stimme.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jason gewalttätig wird«, meinte Mom. »Er hätte zu viele Bedenken, wie so was aussehen würde. Er würde alles tun, um seine politische Karriere zu schützen.«
»Würde er vielleicht sogar töten, um sie zu schützen?«, fragte Wyatt, und alle verstummten. Jenni spielte mit ihrem Besteck herum und schaute betreten auf ihren Teller.
»Aber ich gefährde seine politische Karriere doch überhaupt nicht«, wehrte ich mich. »Was ich über Jason weiß, weiß ich schon seit Jahren; da gibt’s nichts Neues. Warum sollte er nach fünf Jahren plötzlich beschließen, dass er mich umbringen muss?«
»Vielleicht hat sich nicht deine Situation, sondern seine verändert. Vielleicht will er für ein höheres Amt kandidieren, etwa als Gouverneur oder Kongressabgeordneter.«
»Und du meinst wirklich, er glaubt, dass er ungestraft davonkommt, wenn er dafür einen Mord begeht? Wie wahrscheinlich ist das?«
»Das kommt darauf an. Ist er wirklich schlau oder hält er sich nur dafür?«
Wir sahen einander an. Das Problem war, dass Jason zwar nicht auf den Kopf gefallen, aber bei weitem nicht so gewitzt war, wie er meinte. »Okay, mag sein«, sagte ich schließlich. »Aber trotzdem fällt mir beim besten Willen kein Motiv ein.«
»Dir fällt überhaupt kein Motiv ein, basta, und zwar für niemanden, weshalb ihn dieses Argument nicht reinwäscht.«
»Ich verstehe. Weil ich niemand Bestimmten in Verdacht habe, müsst ihr jeden verdächtigen.«
»Aber wie wollen Sie Blair beschützen, bis Sie den Täter verhaftet haben, Wyatt?«, fragte Mom. »In ihr Fitnessstudio kann sie nicht; und in ihrer Wohnung kann sie auch nicht bleiben. Es überrascht mich ehrlich gesagt, dass Sie sie hierher gebracht haben.«
»Ich hatte überlegt, ob ich lieber absagen soll«, gab er zu. »Aber ich musste das gegen andere Bedürfnisse abwägen. Ich kann Blair beschützen, wenn ich sie zum Auto oder vom Auto zum Haus bringe, und ich kann mich überzeugen, dass wir nicht verfolgt werden, wenn wir heimfahren. Solange der Täter nicht weiß, dass Blair und ich zusammen sind und wo ich wohne, kann uns nichts passieren. Hat einer von Ihnen einem Dritten von uns erzählt?«
»Ich habe es nicht mal Sally erzählt«, antwortete Mom. »Aber sie ist zurzeit sowieso nicht in der Verfassung, mir zuzuhören.«
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen«, sagte Siana. »Natürlich haben wir darüber geredet, dass auf Blair geschossen wurde, aber wir haben nichts Persönliches diskutiert.«
Jenni schüttelte den Kopf. »Bei mir ist es genauso.«
»Dann ist das geklärt«, sagte Dad. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, über Blairs Privatleben zu plaudern.«
»Gut. Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt. Meine Mutter hat ebenfalls mit niemandem gesprochen, das weiß ich. Und wie steht es mit dir, Blair?«
»Ich habe es nicht mal Lynn erzählt. Wir hatten andere Dinge zu besprechen.«
»Dann kehren wir zu unserem ursprünglichen Arrangement zurück. Sie bleibt bei mir, sie geht vorerst nicht ins Studio, und Sie werden sie einstweilen nicht mehr sehen, bis wir diesen Kerl geschnappt haben. Telefonieren können Sie, so oft Sie wollen, aber keine persönlichen Begegnungen. Okay?«
Alle nickten. Er wirkte zufrieden. »Die Detectives durchkämmen zurzeit Blairs Wohnviertel, sie reden mit jedem, sogar mit kleinen Kindern. Vielleicht hat jemand den Täter beobachtet, während er sich an deinem Auto zu schaffen machte, und sich nichts weiter dabei gedacht.«
In dieser Hinsicht machte ich mir keine allzu großen Hoffnungen. Ich parkte nicht am Bordstein, und mein Auto war von der Straße aus nicht zu sehen. Falls nicht zufällig irgendein Nachbar zur betreffenden Zeit aus einem Fenster auf der Rückseite unseres Hauses geschaut hatte, hatte sich der Mann leicht anschleichen und unter mein Auto legen können, ohne dass man ihn von der Straße aus bemerkte.
Es war vielleicht nicht besonders edel von mir, aber ich hatte darauf gebaut, dass Dwayne Bailey hinter den Anschlägen auf mich steckte. Er war der Einzige, der meines Wissens überhaupt ein Motiv hatte, und selbst er hatte im Grunde keines gehabt; er hatte nur nicht gewusst, dass ich ihn nicht identifizieren konnte. Seit ich erfahren hatte, dass er ein wasserfestes Alibi hatte, war ich völlig ins Schwimmen gekommen, weil mir beim besten Willen kein weiterer Grund einfiel, warum mich jemand umbringen wollte. Ich spannte anderen Frauen nicht den Mann aus, ich betrog niemanden und bemühte mich, zu jedem nett zu sein, solange man mich nicht provozierte. Ich ging sogar so weit, dass ich während des Winterhalbjahres keine weißen Schuhe trug. Im Ernst, ich habe Kathleen Turner als Serial Mom gesehen, und ich habe mir den Film zu Herzen genommen. Ich möchte nicht, dass mich die Mode-Nazis auf ihre Liste setzen.
»Wenn es nichts Persönliches ist«, dachte ich laut nach, »dann müsste es doch was Geschäftliches sein, oder? Geld. Worum könnte es sonst gehen? Aber ich habe niemanden übers Ohr gehauen und auch kein anderes Studio in den Ruin getrieben, als ich das Great Bods eröffnete. Das Halloran’s hatte schon zugemacht, bevor ich das Gebäude kaufte und renovierte. Fällt jemandem sonst noch was ein?«
Rund um den Gartentisch wurden die Köpfe geschüttelt. »Es ist unbegreiflich«, stellte Siana fest.
»Was sind denn die gängigsten Motive?«, fragte Dad. »Eifersucht, Rache, Gier. Was noch? Politik und Religion können wir außen vor lassen, denn soweit ich weiß, ist Blair weder politisch engagiert noch eine religiöse Eiferin. Und dass ein Unbekannter ausgerastet ist und nun ohne nachzudenken zuschlägt, können wir ebenfalls ausschließen, oder, Wyatt?«
Wyatt schüttelte den Kopf. »Beide Anschläge waren geplant. Wenn wir nach der Wahrscheinlichkeit gehen, haben wir es mit einem Mann zu tun …«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Siana, die jede intellektuelle Diskussion reizt, selbst wenn es darum geht, wer mich wohl umzubringen versucht.
»Die Entfernung war zu groß, als dass die eingesetzte Waffe eine Pistole gewesen sein könnte. Wir wissen, von wo der Schütze geschossen hat, weil wir die Patronenhülse gefunden haben. Es war ein Gewehr mit.22er Kaliber, von denen es in unserer Gegend Tausende gibt und das keine große Durchschlagskraft hat, aber mit einem gut gezielten Schuss durchaus töten kann. Außerdem hat der Schütze geräuscharme Munition eingesetzt. Nur weil Blair sich zufällig bückte, als der Schuss abgegeben wurde, hat er sie am Arm und nicht an einer gefährlicheren Stelle getroffen. Frauen benützen zwar manchmal Pistolen, aber selten ein Gewehr, weil man für einen Schuss auf große Distanz viel Training und Geschick braucht, und dafür interessieren sich Frauen im Allgemeinen nicht.«
»Was ist mit den Bremsen?«, fragte Mom.
»Hier sitzen vier Frauen. Wie viele von Ihnen wissen, wo die Bremsleitungen verlaufen?«
Mom, Siana und Jenni schauten ihn nur fragend an. »Unter dem Auto«, sagte ich. »Ich habe dich beobachtet, als du nachgesehen hast.«
»Und wusstest du es davor?«
»Nein, natürlich nicht.«
»An der Unterseite des Autos verlaufen mehrere Leitungen und Kabel. Woher wüsstest du, welches davon du durchschneiden musst?«
»Ich würde wohl jemanden fragen müssen. Wahrscheinlich würde ich einfach alles durchschneiden.«
»Was für meine Annahme spricht. Die wenigsten Frauen kennen sich gut genug mit Autos aus, um die Bremsleitungen durchzuschneiden.«
»Oder ich würde mir ein Buch besorgen, in dem ich nachschlagen kann, wo die Bremsleitung verläuft«, sagte ich. »Wenn ich um jeden Preis eine Bremsleitung durchschneiden wollte, würde ich schon rauskriegen, wie man so was macht.«
»Na gut, dann lass mich anders fragen. Würdest du diese Methode in Betracht ziehen, wenn du jemanden umbringen wolltest? Könntest du dir so was vorstellen?«
»Wenn ich jemanden umbringen wollte«, überlegte ich, »müsste ich erst einmal sehr, sehr wütend oder sehr, sehr verängstigt sein, zum Beispiel weil ich mich oder einen geliebten Menschen schützen müsste. Wahrscheinlich würde ich die erstbeste Waffe nehmen, die mir einfällt, ganz egal, ob das ein Wagenheber, ein Stein oder meine blanken Hände wären.«
»Damit entsprichst du den meisten Frauen, und damit entfiele jede Planung. Ich sagte den meisten Frauen, nicht allen, aber statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass wir nach einem Mann suchen. Einverstanden?«
Alle nickten.
»Es wäre aber was anderes, wenn ich einfach nur sauer auf jemanden wäre.«
Wyatts Miene ließ erkennen, dass er es für einen Fehler hielt nachzufragen, aber er fragte trotzdem. »Inwiefern?«
»Also, das würde sehr wohl einige Planung erfordern. Ich könnte zum Beispiel ihre Friseuse bestechen, damit sie irgendwas Schreckliches mit ihren Haaren anstellt. Solche Sachen.«
Er stützte das Kinn in die Hand und sah mich versonnen und beinahe lächelnd an. »Du bist eine Furcht einflößende, skrupellose Amazone«, sagte er. Dad lachte prustend und schlug ihm auf die Schulter.
»Aber ja«, sagte ich. »Vergiss das nur nicht.«