15
Erst im Nachhinein kam mir der Gedanke, dass die Detectives schon alle Angestellten im Great Bods befragt hatten und Lynn ihnen womöglich bereits von ihrer Fremdgeher-Theorie erzählt hatte. Hatte mir Wyatt vielleicht nur erzählt, dass er meinem Hinweis nachgehen würde, weil er mir nicht jeglichen Mut rauben wollte? Was für eine ätzende Vorstellung.
Ich rief noch mal Lynn an. »Hast du das, was du mir über Nicole und die verheirateten Männer erzählt hast, auch der Polizei gesagt?«
»Ehrlich gesagt nicht«, gab sie zu. »Zum einen weiß ich nicht wirklich etwas; ich finde einfach, dass sie der Typ für so was gewesen ist. Und außerdem fragte mich der Detective nur, ob ich etwas von einer romantischen Beziehung wüsste, und ich antwortete nein, weil ich das tatsächlich nicht weiß. Es war nicht so, als hätten wir geplaudert und er hätte gefragt, mal unter uns, würde ich ihr dies oder das zutrauen, verstehst du? Aber danach habe ich mir Gedanken gemacht, und da ging mir auf, dass sie ständig mit den verheirateten Männern im Great Bods flirtete, verstehst du? Sie hat sich zwar an jeden Mann zwischen siebzehn und siebenundsiebzig rangeschmissen, aber die verheirateten hatten es ihr besonders angetan. Du hast sie selbst erlebt; du weißt, wovon ich spreche.«
Das wusste ich nur zu genau. Nicole hatte jeden Kerl betatscht, mal scheinbar einen Kragen gerichtet, mal einen Arm getätschelt, mal einen Arm um die Taille eines Mannes gelegt, der neben ihr ging – wahrhaftig eine manische Tatscherin. So blöd sind nicht mal Männer; sie wussten genau, was Nicole damit bezweckte. Die schlauen Kerle hatten sich vielleicht geschmeichelt gefühlt und waren ihr trotzdem nicht auf den Leim gegangen. Die nicht ganz so schlauen und die Schmierlappen hatten reagiert, daraus war zu schließen, dass es abseits des Great Bods auch zu intimeren Treffen gekommen war. Nachdem Nicole einen Typen abgeschleppt hatte, hatte sie ihn allerdings regelmäßig fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.
»Ist dir jemand aufgefallen, der sie besonders beachtet hätte?«, fragte ich Lynn, weil ich im Great Bods oft mit meiner Büroarbeit beschäftigt war und darum längst nicht so viel mitbekam wie sie. »Und es wäre super, wenn du auch noch wüsstest, was für eine Farbe sein Auto hat.«
»Lass mich mal nachdenken. In letzter Zeit war da niemand, weil wir vor allem Stammgäste haben, denen sie nichts mehr vormachen konnte. Aber vor ein paar Monaten habe ich Nicole mit einer derartigen Triumphmiene aus der Herrentoilette kommen sehen, dass ich ihr am liebsten eine geknallt hätte. Weil wenig später auch ein Kerl aus dem Klo kam, nehme ich an, dass sie es auf dem Topf getrieben haben.«
»Warum hast du mir das nicht erzählt?«, kreischte ich auf. »Ich hätte sie auf der Stelle rausgeschmissen!«
»Das hättest du tun können? Weil sie mit einem Mann auf der Toilette war?«
»Sie war in der Herrentoilette. Ein Wunder, dass sie nicht erwischt wurden.«
»Ich glaube nicht, dass sie das gestört hätte. Wahrscheinlich haben sie es in einer Kabine getrieben. Vielleicht hat sie ihm auch nur einen geblasen, obwohl das nicht ihrem Stil entsprochen hätte. Für sie war Nehmen eindeutig seliger als Geben, wenn du mich fragst.«
»Weißt du noch, wie der Mann hieß?«
»Nicht aus dem Kopf. Er kam nicht oft ins Studio, und ich kann mich nicht erinnern, ihn seither noch mal gesehen zu haben. Jedenfalls war er kein Stammkunde; er hatte sich für einen Monat angemeldet, kam ein paarmal zum Trainieren und ließ den Vertrag dann auslaufen. Aber ich denke, ich würde den Namen wiedererkennen. Hast du irgendwo eine Liste der Kunden, die ihren Vertrag nicht verlängert haben?«
»Nicht auf Papier. Aber sie müsste im Computer sein. Hast du heute schon was vor? Ich werde gleich die Bullen anrufen« – meinen Bullen, um genau zu sein –, »und es ist möglich, dass sie dich im Great Bods treffen und mit dir zusammen die Computerdateien durchgehen wollen.«
»Nein, das lässt sich einrichten. Falls ich zufällig nicht zu Hause sein sollte, kannst du mich auf dem Handy erreichen.«
»Okay. Ich rufe später wieder an.«
»Das klingt ja viel versprechend«, sagte Mrs. Bloodsworth, deren grüne Augen neugierig leuchteten. Sie gab sich keine Mühe, so zu tun, als hätte sie nicht zugehört. Immerhin saßen wir im selben Zimmer.
»Ich hoffe, es bringt uns weiter. Jetzt muss ich nur noch Wyatt dazu bringen, nicht wieder einfach aufzulegen …«
»Er hat einfach aufgelegt?« Jetzt sprühten Funken aus den grünen Augen. »Ich habe ihm bessere Manieren beigebracht. Lassen Sie mich kurz mit ihm reden …«
»O nein, das brauchen Sie nicht. Wenn ich es recht überlege, ist es sowieso besser, wenn ich ihn gar nicht erst anrufe. Ich wende mich lieber an Detective MacInnes.« Ich stöberte die Visitenkarte des Detectives in meiner Handtasche auf und wählte die angegebene Nummer.
Als er ans Telefon ging, sagte ich fröhlich: »Hallo, hier ist Blair Mallory …«
»Äh – einen Moment, Ms. Mallory, ich hole den Lieutenant …«
»Das brauchen Sie nicht. Ich wollte Sie sprechen. Die Sache ist so, dass ich eben mit meiner stellvertretenden Geschäftsführerin Lynn Hill gesprochen habe, die mich vertreten soll, wenn morgen das Great Bods wieder öffnet – es wird doch wieder öffnen können, oder? Sie haben Ihre grässlichen gelben Bänder doch wieder weggemacht?«
»Äh – ich kann Sie gleich deswegen zurückrufen …«
»Nicht so wichtig. Das hat Zeit bis später. Jedenfalls hat Lynn mir gegenüber erwähnt, dass sie glaubt, Nicole hätte Spaß daran gehabt, sich mit verheirateten Männern einzulassen. Sie wissen schon – die Herausforderung, einer anderen Frau etwas wegzunehmen. Lynn sagte, sie hätte das bei ihrer Vernehmung nicht erwähnt, weil es ihr erst später eingefallen ist, als sie die ganze Sache noch mal überdachte, aber so wie sich Nicole benommen hatte, hält sie das für sehr wahrscheinlich.«
»Äh …«, versuchte er mich zu unterbrechen, aber ich redete ihn in Grund und Boden.
»Als Lynn und ich über mögliche Kandidaten sprachen, erwähnte sie, dass sie Nicole vor ein paar Monaten mit einem Mann zusammen auf der Toilette erwischt hätte. An den Namen des Mannes kann sie sich nicht erinnern, weil er nur ein paarmal im Great Bods war und danach seinen Vertrag auslaufen ließ, aber sie ist ziemlich sicher, dass sie den Namen wiedererkennen würde, und wenn Sie möchten, würde Sie mit Ihnen ins Great Bods fahren und die Datei der Mitglieder, die ihren Vertrag nicht verlängert haben, durchgehen. Wäre das für Sie von Interesse?«
»Ja.« Inzwischen hörte er sich wesentlich aufgeschlossener und neugieriger an.
»Gut. Ich denke, das könnte ein Ausgangspunkt sein. Vielleicht hat dieser eine Mann nichts mit der Sache zu tun, aber dass sie eine Schwäche für verheiratete Männer hatte, rückt den Fall in ein neues Licht, nicht wahr?«
»Allerdings.« Jetzt klang er fast fröhlich.
»Ich gebe Ihnen Lynns Nummer, damit Sie nicht danach suchen müssen. Haben Sie was zu schreiben?« Dann ratterte ich die Nummer herunter. »Sie wartet auf Ihren Anruf. Und das ist ihre Handynummer, falls sie nicht zu Hause sein sollte.« Ich ratterte die nächste Nummer herunter. Dann flötete ich: »Einen schönen Tag noch, Detective«, und legte auf, noch während er sich gedankenverloren verabschiedete.
»Ich bin beeindruckt.« Mrs. Bloodsworth grinste von einem Ohr zum anderen. »Sie verstehen es ausgezeichnet, die beschränkte Blondine zu spielen, aber dann haben sie die Nummern so schnell herausgesprudelt, dass er wahrscheinlich kaum mit dem Schreiben nachkam.«
»Dann wird er zurückrufen«, antwortete ich cool. »Er oder jemand anderes.«
Natürlich rief jemand anderes an, und zwar keine fünf Minuten später. Er war bis zum Anschlag geladen. »Wenn du Informationen über den Fall hast, dann rufst du mich an, nicht einen meiner Männer«, knurrte er gepresst.
»Sagt das derselbe Mann, der mich schon zweimal aus der Leitung geschmissen hat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dich jemals wieder anrufen werde. Punktum.«
Ein Schweigen, so tief wie der Grand Canyon, senkte sich über die Leitung. Dann brummte er: »Ach du Scheiße«, in dem Tonfall eines Mannes, dem eben aufgegangen ist, dass er zu Kreuze kriechen und um Verzeihung bitten muss, weil er sich eindeutig wie ein Idiot benommen hat. Und damit nicht genug, er wusste, dass ich bei seiner Mutter war, die ihm bessere Manieren beigebracht hatte. Es war nur ein kleines Scharmützel, aber diesmal hatte ich ihn über die Flanke attackiert, und das freute mich irrsinnig.
Schließlich hörte ich ihn schwer seufzen. »Entschuldige bitte. Ich werde nie wieder einfach auflegen. Ehrenwort.«
»Entschuldigung angenommen«, verkündete ich knapp. »Also, wird das Great Bods morgen wieder öffnen können?« Es ist nicht fein, auf einen Gegner einzutreten, der am Boden liegt, oder? Ich hatte gesiegt, darum war ich milde gestimmt und ließ die Sache auf sich beruhen.
»Ich bin zu neunzig Prozent sicher, dass es öffnen kann.«
»Gut. Steht mein Auto immer noch davor?«
»Nein. Ich habe die Schlüssel aus deiner Tasche genommen und es heute Morgen zu dir nach Hause fahren lassen. Es steht sicher und wohlbehalten an seinem Platz.«
»Wann hast du die Schlüssel rausgeholt?«, fragte ich, weil ich nichts davon gemerkt hatte.
»Gestern Nacht. Du hast tief und fest geschlafen.«
»Ich hoffe, dass bei mir zu Hause alles in Ordnung war, dass keine Fenster eingeschossen waren oder so?«
»Der Kollege hat überall nachgesehen und erzählt, dass alles fest verriegelt war, die Fenster inklusive, und dass nirgendwo Einschüsse zu sehen waren.«
»Ist er auch über den Zaun geklettert und hat die Terrassentür auf der Rückseite kontrolliert?«
»Er sagte, er hätte alle Türen überprüft. Ich gehe kurz rüber und frage noch mal ausdrücklich nach der Terrassentür.« Er verschwand vom Telefon und kam wenig später zurück. »Simmons sagte, er habe nicht über den Zaun klettern müssen; er hat einfach das Tor aufgedrückt und ist reingegangen.«
Ein eisiger Schauer überlief mich. »Ich schließe das Tor grundsätzlich ab.« Meine Finger krallten sich um das Telefon. »Ich weiß, dass ich es abgeschlossen habe.«
»Scheiße. Ich schicke sofort jemanden hin. Du bleibst, wo du bist.«
»Als könnte ich was anderes tun«, sagte ich trocken. Wir verabschiedeten uns beide ungeheuer höflich, damit keiner dem anderen vorwerfen konnte, er hätte einfach aufgelegt; dann berichtete ich Mrs. Bloodsworth die neuesten Vorkommnisse.
Und dabei fiel mir Siana ein. Sie sollte heute in meine Wohnung gehen und frische Kleidung für mich einpacken. Und wenn sie durch einen grauenvollen Zufall genau in dem Augenblick in meinem Haus gewesen war, in dem der Unbekannte, der mein Tor aufgeschlossen hatte – was sich nur von innen machen ließ –, auch dort war? Siana war blond. Sie war ein bisschen größer als ich, aber das musste Nicoles Mörder nicht wissen. Und sie hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung, falls ich meinen verlieren sollte.
Sie konnte jederzeit in meine Wohnung gegangen sein, um meine Sachen zu holen; gleich heute Morgen, in der Mittagspause, oder sie würde erst nach der Arbeit hinfahren – obwohl ich nicht glaubte, dass sie so lange warten würde, weil sie manchmal bis acht oder neun Uhr abends arbeiten musste und noch Wyatt treffen musste, um ihm die Tasche zu übergeben.
»Was ist denn?«, fragte Mrs. Bloodsworth, die mich aufmerksam beobachtet hatte.
»Meine Schwester«, sagte ich leise. »Sie sollte heute in meine Wohnung gehen, um ein paar Sachen zu packen und sie Wyatt zu geben. Er hat das nicht erwähnt, und jetzt habe ich Angst, dass …«
Jemand sie mit mir verwechselt haben könnte. O Gott.
Ich betete so innig wie noch nie in meinem Leben, während ich erneut Wyatts Nummer eintippte. Er klang argwöhnisch, als er den Hörer abnahm. »Siana sollte heute für mich ein paar Sachen aus meiner Wohnung holen«, sprudelte es aus mir heraus. »Hast du schon von ihr gehört?«
»Ganz ruhig.« Sofort klang seine Stimme beschwichtigend. »Es geht ihr gut. Sie hat die Tasche gleich heute Morgen vorbeigebracht.«
»Gott sei Dank. Gott sei Dank.« Tränen brannten in meinen Augen. »Mir ist eben klar geworden … Sie ist blond; sie ist ungefähr so groß wie ich; der Mörder könnte uns leicht verwechseln.« Mir war fast schlecht, weil mir das nicht früher bewusst geworden war, und dem leisen Fluch nach zu urteilen, den ich aus dem Hörer hörte, hatte sich auch Wyatt keine Gedanken über unsere Ähnlichkeit gemacht, zumindest nicht in diesem Zusammenhang. Unsere Bekannten und Verwandten würden uns keinesfalls verwechseln, weil sich unsere Gesichter kaum ähneln, aber oberflächlich und aus der Ferne betrachtet …
Weil Wyatt Polizist war, fragte er sofort: »Ist es möglich, dass Siana dein Tor aufgeschlossen hat?«
Ich wischte die Tränen weg. »Ich rufe sie gleich an und frage sie. Ich wüsste aber nicht, warum sie das getan haben sollte.«
»Ich werde sie selbst anrufen. Ich muss sie noch ein paar Dinge fragen. Und dich muss ich auch noch was fragen: Ist deine Alarmanlage eingeschaltet?«
Ich klappte den Mund auf und wollte automatisch antworten: »Ja, natürlich«, aber dann klappte ich ihn wieder zu, weil mir einfiel, wie ich am Freitag, als ich das letzte Mal zu Hause gewesen war, auf den Wagen der Autovermietung gewartet hatte, der mich abholen sollte. Ich hatte an der Haustür gestanden und war losgelaufen, sobald der Mann auftauchte. Dass ich die Tür abgeschlossen hatte, war mir noch klar im Gedächtnis, aber ich wusste beim besten Willen nicht mehr, ob ich die Alarmanlage eingeschaltet hatte.
»Ich glaube nicht«, sagte ich schließlich. »Es sei denn, Siana hat sie heute Morgen eingeschaltet. Sie kennt den Code.«
»Na schön. Ich regle alles von hier aus. Ganz ruhig, wahrscheinlich kann ich dich in ein paar Stunden wieder abholen. Okay?«
»Okay.« Ich war froh, dass er mir keinen Vortrag gehalten hatte, weil ich vergessen hatte, die Alarmanlage einzuschalten. Wo in aller Welt war ich nur mit meinen Gedanken gewesen? Ach ja: am Strand. Ich hatte es kaum erwarten können, endlich wegzukommen.
Der Mörder hätte am Wochenende jederzeit in mein Haus einbrechen, sich dort einnisten und seelenruhig abwarten können, bis ich heimkam. Nur dass er es nicht getan hatte. Vielleicht hatte er die Wohnung beobachtet und, weil mein Auto nicht auftauchte, beschlossen, dass ich woanders übernachtete. Aber wenn er zum Great Bods zurückgekehrt war, hatte er mein Auto gesehen und sich dann vielleicht ausgerechnet, dass er mich dort am besten abpassen konnte, weil ich irgendwann meinen Wagen abholen musste.
Der Plan war um ein Haar aufgegangen; ich hatte einen Mordsdusel, dass ich noch am Leben war. Was würde er wohl als Nächstes unternehmen? Nein, Moment – vielleicht glaubte er ja, dass sein Plan gestern Abend aufgegangen war, denn immerhin war ich zu Boden gegangen, und er war offensichtlich nicht in seinem Versteck geblieben, um sich zu überzeugen, dass ich tot war. Bestimmt hatte er angenommen, dass er mich getötet hatte, bis ihn die Abendnachrichten eines Besseren belehrten – oder auch nicht. Die Krankenhäuser gaben bei Verbrechensopfern nicht mehr so freigiebig Auskunft über den Gesundheitszustand wie früher. Die Polizei hatte sich gestern Abend bestimmt ebenfalls nicht in die Karten schauen lassen, bis Wyatt mich an einen sicheren Ort verfrachtet hatte – als wäre sein Bett ein sicherer Ort, aber egal. Wahrscheinlich war erst in den Morgennachrichten gemeldet worden, dass ich im Krankenhaus behandelt und entlassen worden war.
Was würde er jetzt unternehmen? Vielleicht war er in diesem Augenblick in meinem Haus und wartete auf mich. Vielleicht hatte er sich nur umsehen und ausprobieren wollen, wie er in meine Wohnung kam. Die Terrassentür war der einfachste Weg, und der hohe Zaun würde ihm Sichtschutz geben, wenn er die Tür aufbrach oder einschlug oder was auch immer.
Allerdings wäre das ziemlich dumm. In dem Fenster auf der Frontseite meines Hauses prangte die Marke der Sicherheitsfirma. Er konnte unmöglich wissen, ob die Alarmanlage eingeschaltet war, und würde kein Risiko eingehen wollen – wenn er nur einen Funken Verstand im Kopf hatte.
Mrs. Bloodsworth riss mich aus meinen Gedanken, indem sie mich ängstlich fragte, ob Siana wohlauf sei. »Es geht ihr gut«, bestätigte ich und wischte die letzte Träne weg. »Sie hat schon heute früh meine Sachen gepackt und die Tasche Wyatt übergeben. Er ruft sie jetzt im Moment an, um sie zu fragen, ob sie die Alarmanlage eingeschaltet hat.«
Ich tippte darauf, dass sie es getan hatte. Siana hätte mein Haus bestimmt nicht unbehütet verlassen, selbst wenn die Anlage bei ihrer Ankunft ausgeschaltet war. Folglich war mein Heim, da kein Alarm ausgelöst worden war, noch unversehrt. Kein Mörder wartete dort auf mich. Vielleicht war er über den Zaun gesprungen und hatte durch die Terrassentür gespäht, aber ich hatte die Vorhänge zugezogen, sodass ihm dieser Blick wenig gebracht hätte. Alles war in Ordnung.
Ich atmete erleichtert auf.
»Weiß der Himmel, wann Wyatt kommt«, sagte Mrs. Bloodsworth. »Ich werde jetzt Abendessen machen. Wenn er nicht rechtzeitig auftaucht, stelle ich ihm seine Portion warm.«
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte ich hoffnungsvoll, weil es mir allmählich fad wurde, immer nur herumzusitzen und mich bedienen zu lassen.
»Einhändig?«, fragte sie und lachte. »Sie können den Tisch decken, aber sonst fällt mir nichts ein. Am nettesten fände ich es, wenn Sie mit in die Küche kämen und mir Gesellschaft leisteten. Seit ich allein bin, komme ich nicht mehr oft zum Kochen, wissen Sie? Wozu auch? Abends mache ich mir ein Sandwich oder im Winter eine Dosensuppe warm, aber ohne Gesellschaft ist das Essen eine recht langweilige Geschichte.«
Ich folgte ihr in die Küche und setzte mich an den Tisch. Natürlich gab es wie in allen viktorianischen Häusern ein Esszimmer für feierliche Anlässe, aber ich konnte spüren, dass die meisten Mahlzeiten im Haus der Bloodsworths an diesem Tisch eingenommen worden waren. »Das klingt, als würden Sie sich ein wenig langweilen. Haben Sie schon daran gedacht, wieder ins Great Bods zu kommen? Wir haben ein paar tolle neue Kurse im Programm.«
»Ich habe darüber nachgedacht, aber Sie wissen selbst, wie das ist. Über etwas nachzudenken und etwas zu tun sind zwei Paar Schuhe. Ich fürchte, dass ich seit meinem Fahrradunfall nachlässig geworden bin.«
»Wer hat nach dem Unfall für Sie gesorgt?«
»Meine Tochter Lisa. Es war elend. Das gebrochene Schlüsselbein war schon schlimm genug, aber die Rippen – die reine Quälerei. Jede Bewegung tat mir weh, und weil ich beim besten Willen keine bequeme Position finden konnte, bewegte ich mich in einem fort. Mein linker Arm ist inzwischen beinahe wieder wie früher, aber immer noch geschwächt, obwohl ich so fleißig damit geübt habe. Sechs Monate! Es ist einfach lächerlich, dass ich so lange brauche, um mich zu erholen, aber das bringt wohl das Alter mit sich.«
Ich schnaubte. Es war kein besonders vornehmes Geräusch, aber es drückte meine Meinung aus. »Ich hatte mir mal das Schlüsselbein gebrochen, als ich im Cheerleading-Team unserer High School war. Ich musste ununterbrochen üben, um für das nächste Jahr wieder in Form zu kommen. Zum Glück hat unser Team bei den Basketballspielen keine Pyramiden oder Würfe vorgeführt, sonst hätte ich die Sache vergessen können. Sechs Monate kommen mir nicht allzu lang vor.«
Sie lächelte. »Aber ich mache keinen Handstand. Sie damals schon, oder?«
»Damals nicht, o nein. Das ging nicht; meine Schulter hätte das nicht mitgemacht.«
»Können Sie heute noch einen Handstand?«
»Natürlich. Auch einen Rückwärts-Flickflack, Radschlagen, Spagat. Ich bemühe mich, mindestens zweimal wöchentlich Gymnastik zu machen.«
»Könnten Sie mir beibringen, wie man einen Handstand macht?«
»Warum nicht? Dazu braucht es vor allem Gleichgewicht, Kraft und Übung. Bevor Sie damit anfangen, müssten Sie allerdings ein paar leichtere Gewichtsübungen machen, um Ihren Arm und Ihre Schulter zu kräftigen. Sie wollen doch nicht umfallen und sich was anderes brechen.«
»Allerdings«, stimmte sie mir eifrig zu.
»Ich kann sogar einen einhändigen Handstand«, prahlte ich.
»Wirklich?« Sie drehte sich vom Herd weg und blickte nachdenklich auf meinen verletzten Arm, der in ihrem blauen Schal lag. »Aber jetzt nicht.«
»Wahrscheinlich schon, weil ich ihn auf dem rechten Arm mache, schließlich bin ich Rechtshänderin und mein rechter Arm ist kräftiger. Den linken Arm stecke ich immer hinter den Rücken, damit er mir nicht im Weg ist und mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen kann.«
Nun, das Fazit dieser Unterhaltung war, dass wir, als die Koteletts, grünen Bohnen, Stampfkartoffeln und Biskuits fertig waren, beide um jeden Preis ausprobieren wollten, ob ich einen Handstand hinbekommen würde. Mrs. Bloodsworth redete mir immer wieder zu, ich sollte kein Risiko eingehen, ich könnte mich noch mehr verletzen, die Nähte wären noch frisch, ich hätte zu viel Blut verloren und so weiter, aber ich erwiderte, dass bei einem Handstand das Blut, das ich noch im Körper hatte, in meinen Kopf fließen musste, sodass ich bestimmt nicht in Ohnmacht fallen würde.
»Aber Sie sind noch geschwächt.«
»Ich fühle mich aber nicht so. Gestern Abend war ich noch zittrig, heute Morgen noch leicht zittrig, und inzwischen geht es mir wunderbar.« Um das zu beweisen, musste ich natürlich einen Handstand machen.
Sie redete auf mich ein, als wollte sie mich um jeden Preis davon abhalten, wüsste aber nicht wie, aber gleichzeitig sah ich ihr an der Nasenspitze an, dass sie es kaum erwarten konnte. Wir nahmen die Schlinge von meinem linken Arm ab, und obwohl ich den Arm schon wieder etwas bewegen konnte, war der Spielraum begrenzt, weshalb sie ihn für mich hinter meinen Rücken schob. Dann band sie in einem Geniestreich den Schal um meine Hüften und den Arm, um ihn zu fixieren.
Ich stellte mich auf die andere Seite des Tisches, weg vom Herd und in den breiten Durchgang zum Esszimmer, wo ich jede Menge Platz hatte. Dann beugte ich mich vor, legte die Hand auf den Boden, stemmte den Ellbogen gegen das rechte Knie, brachte den Schwerpunkt genau über den Arm und begann mich langsam, langsam einzurollen, bis meine Füße vom Boden weg waren.
In dieser Position erblickte uns Wyatt, als er zur Hintertür hereinkam. Wir waren so in mein Kunststück vertieft gewesen, dass wir gar nicht gehört hatten, wie er die Auffahrt heraufgefahren war.
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es ihm mit einer Wucht, die seine Mutter und mich zusammenzucken ließ.
Das war gar nicht gut, weil ich dadurch aus dem Gleichgewicht geriet. Ich begann zu wackeln, Mrs. Bloodsworth schnappte nach meinem Knie, und Wyatt hechtete über den Tisch. Irgendwie bekam er meine beiden Beine zu fassen, wodurch er mich vor dem Umpurzeln bewahrte, und schlang dann einen sehnigen Arm um meine Taille, um mich sanft wieder aufzurichten.
Seine Miene war ganz und gar nicht sanft. »Was zum Teufel soll dieser Unfug?«, schnauzte er mich an, das Gesicht zornrot, bevor er sich zu Mrs. Bloodsworth umdrehte. »Mutter, du sollst sie von so einem Blödsinn abhalten und sie nicht noch anstiften!.«
»Ich wollte ihr nur zeigen …«, setzte ich an.
»Ich habe gesehen, was du ihr nur zeigen wolltest! Herr im Himmel, Blair, du wurdest vor vierundzwanzig Stunden angeschossen! Du hast eine Menge Blut verloren! Verrate mir bitte, wie unter diesen Umständen ein Handstand kein Blödsinn sein kann!«
»Da ich ihn hinbekommen habe, steht wohl fest, dass ich dazu durchaus in der Lage war. Wenn du mich nicht so erschreckt hättest, wäre überhaupt nichts passiert.« Ich sprach mit aller Nachsicht auf ihn ein, nachdem wir ihn so erschreckt hatten. Ich konnte ihn verstehen. Beruhigend tätschelte ich ihm den Arm. »Es ist alles in Ordnung. Warum setzt du dich nicht hin, und ich bringe dir was zu trinken. Eistee? Oder Milch?«
»Du brauchst dich nicht aufzuregen«, meinte seine Mutter beschwichtigend. »Ich weiß, dass du einen Schreck bekommen hast, aber wir hatten wirklich alles unter Kontrolle.«
»Unter Kontrolle? Sie – du …« Er verstummte stammelnd und schüttelte den Kopf. »Hier ist sie jedenfalls nicht sicherer als zu Hause. Ein Genickbruch kann sie genauso töten wie eine Kugel. Das reicht. Am besten bleibt sie ab sofort den ganzen Tag in meiner Wohnung, und zwar an die Kommode im Bad gekettet.«