12
»Weißt du«, sagte ich zu Wyatt, als wir nach einem kurzen Zwischenstopp an der Apotheke zu ihm nach Hause fuhren, »der Typ hat dein Auto gesehen, und das schreit praktisch ›ich bin ein Bulle‹. Wer außer einem Bullen – oder einem Rentner – würde einen Crown Vic fahren?«
»Und?«
»Du hast mich auf dem Parkplatz geküsst, schon vergessen? Er weiß also, dass wir was miteinander haben, er kann erkennen, dass du ein Bulle bist, und kann sich den Rest ausrechnen. Wie schwer wird das schon sein?«
»Wir haben auf unserem Revier über zweihundert Leute; mich da zu finden, könnte länger dauern. Und dann müsste er mich erst aufspüren. Ich habe privat eine Geheimnummer, und niemand aus der Zentrale würde irgendwelche Informationen über mich oder sonst jemanden herausgeben. Wenn mich jemand aus beruflichen Gründen sprechen will, ruft er hier an«, dabei tippte er auf sein Handy, »und das ist auf die Stadt angemeldet.«
»Na schön«, gestand ich zu. »Vielleicht bin ich bei dir wirklich sicherer. Nicht sicher, aber sicherer.« Jemand wollte mich umbringen. Obwohl ich mich redlich anstrengte, den Gedanken zu verdrängen, schob sich diese düstere Erkenntnis hartnäckig immer wieder in den Vordergrund. Mir war klar, dass ich bald Initiative entwickeln musste – hm, irgendwann morgen vielleicht. Irgendwie hatte ich es fast erwartet … nein, nicht erwartet, doch ich hatte die Möglichkeit nicht ausgeschlossen …, aber den Schock über die Erkenntnis, dass tatsächlich jemand auf mich schoss, hatte ich eindeutig unterschätzt. Der kam völlig unerwartet.
Einfach so – zack! – war mein Leben aus dem Gleis gesprungen. Ich konnte nicht mehr in meine Wohnung, ich hatte nichts mehr anzuziehen, ich hatte Schmerzen, ich fühlte mich schwach und wacklig, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was aus meinem Fitnesscenter werden sollte. Ich musste mein Leben so schnell wie möglich wieder in den Griff bekommen.
Verstohlen sah ich zu Wyatt hinüber. Er fuhr aus der Stadt hinaus; die beleuchteten Stadtstraßen lagen längst hinter uns, und sein Gesicht wurde nur noch von der Beleuchtung des Armaturenbretts erhellt. Ich musste unwillkürlich schaudern, so unnahbar wirkte er auf mich. Auch die Sache mit ihm war völlig aus dem Gleis gelaufen. Ich hatte mit aller Kraft die Notbremse gezogen, und trotzdem fuhr ich mit ihm nach Hause. Er hatte seine Chance erkannt und zugegriffen, obwohl mich das echt überraschte, nachdem er so sauer über meine Liste gewesen war.
Wer hätte gedacht, dass ihn eine solche Kleinigkeit derart aus der Fassung bringen konnte? Ein empfindsames Kerlchen, unser braver Lieutenant. Und jetzt war ich ganz und gar seiner Gnade ausgeliefert. Niemand war da, der mich retten konnte …
Mir kam ein schrecklicher Gedanke. »Kannst du frisieren?«
»Wie bitte?«, fragte er, als hätte ich Französisch gesprochen.
»Frisieren. Du wirst mich frisieren müssen.«
Er sah kurz auf meine Haare. »Am Donnerstag hattest du einen Pferdeschwanz. Den bringe ich noch hin.«
Okay, das war akzeptabel und wahrscheinlich am praktischsten, bis ich mich wieder selbst kämmen konnte. »Das muss genügen. Meinen Fön habe ich sowieso nicht mit. Der ist noch in meinem Auto.«
»Ich habe deine Tasche herausgeholt. Sie liegt hinten neben meiner.«
Ich war so erleichtert, dass ich ihn am liebsten geküsst hätte. Die meisten Sachen aus meiner Tasche mussten natürlich gewaschen werden, aber um ganz sicherzugehen, hatte ich vor meiner Abreise eine Zusatzgarnitur eingepackt. Also hatte ich frische Unterwäsche, etwas zum Schlafen und sogar Schminke dabei, sollte ich welche auflegen wollen. Ich hatte auch die Pille dabei, Gott sei Dank, obwohl ich annahm, dass ich zumindest in dieser Nacht sicher vor ihm war. Alles in allem sah es gar nicht schlecht aus. Ich war einigermaßen ausgestattet, bis mir Siana morgen frische Anziehsachen aus der Wohnung holte und sie Wyatt übergab.
Wir hatten einen Haufen Meilen hinter uns gebracht, und inzwischen waren wir mitten im Nichts, wo nur noch hin und wieder ein Haus zu sehen war. Ich wurde langsam ungeduldig, weil ich endlich ankommen und ausprobieren wollte, ob wir es wirklich miteinander aushielten. »Wo in aller Welt wohnst du eigentlich?«
»Wir sind fast da. Ich wollte mich nur überzeugen, dass uns niemand folgt, darum bin ich ein paar Umwege gefahren. Ich lebe am Stadtrand.«
»Es wundert mich, dass du nicht bei deiner Mutter wohnst«, sagte ich, und das stimmte. Mrs. Bloodsworth war eine nette alte Dame mit einem schrägen Sinn für Humor, und sie hatte in ihrem alten viktorianischen Kasten weiß Gott Platz für eine ganze Zirkussippe.
»Warum? Du wohnst doch auch nicht bei deiner Mutter«, bemerkte er.
»Bei einer Frau ist das was anderes.«
»Inwiefern?«
»Wir brauchen niemanden, der für uns kocht oder wäscht oder aufräumt.«
»Ich hab Neuigkeiten für dich, Süße: Ich auch nicht.«
»Du wäschst selbst?«
»Man muss nicht Nuklearphysik studiert haben, um Wäsche waschen zu können, oder? Ich kann Etiketten lesen und die Knöpfe an einer Waschmaschine bedienen.«
»Und kochen? Du kannst wirklich kochen?« Das eröffnete ganz neue Möglichkeiten.
»Keine siebengängigen Menüs, aber ja, ich komme zurecht.« Er sah mich kurz an. »Wieso fragst du?«
»Denk mal nach, Lieutenant. Kannst du dich erinnern, dass wir in den letzten …« Ich warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett – »fünf Stunden was gegessen hätten? Ich bin am Verhungern.«
»Ich dachte, du hättest Kekse bekommen.«
»Ein paar Feigenriegel. Vier, um genau zu sein, und das war ein Notfall. Das zählt nicht als Essen.«
»Immerhin sind es vier Feigenriegel mehr, als ich bekommen habe, für mich zählt es also schon.«
»Das tut nichts zur Sache. Es ist ab sofort deine Pflicht, für meine Ernährung zu sorgen.«
Seine Lippen zuckten hoch. »Pflicht? Wie kommst du darauf?«
»Du hast mich beschlagnahmt, schon vergessen?«
»Viele Menschen würden das eher als Lebensrettung ansehen.«
»Das ist Korinthenkackerei. Mom hätte mir alles gekocht, was ich mir wünsche. Du hast mich ihr entrissen, darum musst du jetzt ihren Platz einnehmen.«
»Interessante Frau, deine Mutter. Du hast deine Macken von ihr geerbt, stimmt’s?«
»Was für Macken?«, fragte ich entrüstet.
Er streckte die Hand aus und tätschelte mein Knie. »Vergiss es. Dein Vater hat mir verraten, wie man dich bändigen kann.«
»Das hat er nicht!« Ich war erschüttert. Dad hatte sich doch nicht mit dem Feind verbündet, oder? Natürlich wusste er nicht, dass Wyatt ein Feind war. Wer weiß, vielleicht hatte ihm Wyatt weisgemacht, wir seien verlobt oder so, und Dad hatte es darum so locker aufgenommen, dass Wyatt mich nach Hause mitnehmen wollte.
»Natürlich hat er. Wir Männer müssen zusammenhalten, weißt du?«
»Das würde er nie tun! Er hat Jason nie irgendwelche Geheimnisse verraten. Es gibt kein Geheimnis. Du hast dir das nur ausgedacht.«
»O nein.«
Ich angelte mein Handy aus der Tasche und tippte wutentbrannt Dads und Moms Nummer ein. Wyatt konfiszierte das Handy mit einer blitzschnellen Bewegung, drückte die Aus-Taste und ließ es in seine Tasche gleiten.
»Gib das wieder her!« Mein verletzter Arm war eine echte Behinderung, vor allem, da er links von mir saß. Ich wollte mich in meinem Sitz umdrehen, konnte aber meinen Arm nicht kontrollieren, der plötzlich eine Art Eigenleben zu entwickeln schien, und rumpelte mit der lädierten Schulter gegen die Rückenlehne. Ein paar Sekunden lang sah ich Sterne.
»Easy, Süße, easy.« Wyatts weiche Stimme erreichte mich durch meinen Schmerznebel, aber sie kam von rechts, was äußerst verwirrend war.
Ich atmete tief durch, öffnete die Augen und entdeckte, dass seine Stimme von rechts kam, weil er sich durch die offene Beifahrertür ins Auto beugte. Der Wagen stand mit laufendem Motor in einer Auffahrt, und vor uns ragte ein dunkles Haus auf.
»Fällst du mir jetzt in Ohnmacht?«, fragte er, während er mich behutsam in meinem Sitz aufrichtete.
»Nein, aber vielleicht kotze ich dich gleich an«, antwortete ich wahrheitsgemäß und ließ den Kopf zurücksinken, um nochmals die Augen zu schließen. Übelkeit und Schmerz wichen langsam, aber dafür im Einklang zurück.
»Lass das bitte, wenn du kannst.«
»Wahrscheinlich war das sowieso eine leere Drohung. Ich habe nichts gegessen, hast du das vergessen?«
»Außer vier Feigenriegeln.«
»Die sind längst verdaut. Du hast nichts zu befürchten.«
Er strich mir über die Stirn. »Das ist nur fair.« Er schloss die Autotür, ging um den Wagen herum und setzte sich wieder hinters Steuer.
»Wohnst du hier gar nicht?«, fragte ich verwirrt. Hatte er einfach in einer fremden Einfahrt geparkt?
»Doch, doch, aber ich parke lieber in der Garage.« Er drückte auf die Fernbedienung für das Garagentor, die an der Sonnenblende klemmte, woraufhin gleichzeitig die Außenbeleuchtung des Hauses anging und ein doppeltes Garagentor in der Hausseite nach oben glitt. Er legte den Gang ein, fuhr an, bog nach rechts und lenkte den Wagen mit sicherer Hand auf seinen Standplatz. Dann drückte er noch mal auf die Fernbedienung, und das Garagentor glitt wieder herab.
Seine Garage wirkte aufgeräumt, was tiefen Eindruck auf mich machte. Garagen haben die Tendenz, sich in überdimensionale Rumpelkammern zu verwandeln, in denen alles seinen Platz findet außer den Autos, die eigentlich drinstehen sollten. Nicht so bei Wyatt. Rechts von mir stand eine Werkzeugbank und gleich daneben einer dieser großen roten Werkzeugschränke mit ungefähr zehn Millionen Schubladen. An der Lochwand dahinter hing ein Sortiment von Hämmern, Sägen und anderem Jungenkram. Ich betrachtete es nachdenklich und rätselte, ob er wohl wusste, wozu jedes einzelne Werkzeug gut war. Männer und ihre Spielsachen. Puh.
»Ich habe auch einen Hammer«, erklärte ich ihm.
»Das habe ich nicht anders erwartet.«
Ich hasse es, wenn man mir abfällig kommt. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er überzeugt war, mein Hammer würde es unmöglich mit seiner Sammlung aufnehmen können. »Er ist rosa.«
Er erstarrte mitten im Aussteigen und starrte mich mit offenem Mund an. »Das ist pervers. Das gehört sich einfach nicht.«
»Also bitte. Es gibt kein Gesetz, welches besagt, dass Werkzeuge hässlich sein müssen.«
»Werkzeuge sind nicht hässlich. Sie sind stark und praktisch. Man sieht ihnen an, wozu sie gebraucht werden. Sie sind nicht rosa.«
»Mein Hammer schon, und er ist genauso gut wie deine. Er ist vielleicht nicht besonders groß, aber er erfüllt seinen Zweck. Ich wette, du bist auch gegen Frauen bei der Polizei, stimmt’s?«
»Natürlich nicht. Was hat das mit einem bekloppten rosa Hammer zu tun?«
»Frauen sind meist hübscher als Männer und meist nicht so groß, aber das heißt nicht, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können, oder?«
»Wir reden hier über einen Hammer, nicht über Menschen!« Er stieg aus, knallte die Tür zu und kam auf die Beifahrerseite gestapft.
Ich öffnete die Tür und sagte extra laut, damit er mich hörte: »Ich glaube, deine Abneigung gegen Werkzeuge, die gleichzeitig schön und praktisch sind, bedeutet – mmmmmpf.« Böse sah ich ihn über die Hand hinweg an, die meinen Mund zuhielt.
»Mach mal Pause. Wir können uns immer noch über Hämmer streiten, wenn du nicht mehr so aussiehst, als würdest du jede Sekunde zusammenklappen.« Er hob fragend die Brauen, wartete ab, ob ich einlenkte.
Erst als ich mürrisch nickte, nahm er die Hand weg und löste dann den Gurt, um mich vorsichtig aus dem Sitz zu heben. Allerdings hatte er seine nächsten Schritte nicht wirklich durchdacht, denn andernfalls hätte er die Tür zum Haus aufgeschlossen, bevor er mich aus dem Auto geholt hatte, aber er regelte das mit einem kleinen Balanceakt. Ich konnte ihm nicht helfen, weil mein rechter Arm zwischen meinem und seinem Rumpf klemmte und mein linker Arm nicht zu gebrauchen war. Morgen würde ich ihn wieder ein bisschen bewegen können, aber ich wusste aus Erfahrung, dass ein Muskel nach einer Verletzung anfangs jede Bewegung verweigert.
Er schaffte mich ins Haus, knipste dabei mit dem Ellbogen überall die Lichter an und setzte mich zuletzt auf einem Lehnstuhl in der Essecke ab. »Versuch bloß nicht aufzustehen, okay? Ich hole die Taschen aus dem Auto, danach trage ich dich überall hin, wo du hin willst.«
Und schon verschwand er in dem kurzen Durchgang, der zur Garage führte. Ich fragte mich, ob ihm der Arzt irgendwas über meinen Zustand erzählt hatte, was nicht zu mir durchgedrungen war, weil ich nämlich ausgezeichnet gehen konnte. Na schön, im Auto war mir kurz schwarz vor Augen geworden, aber nur deshalb, weil ich mir den Arm angehauen hatte. Ich war zwar ein bisschen zittrig – und mein Arm tat wirklich scheißweh –, aber ich war okay. Das zittrige Gefühl würde sich schon morgen gelegt haben, weil ich mich immer so fühlte, wenn ich Blut gespendet hatte. Ich fühlte mich nicht mal übermäßig zittrig, nur ein bisschen zittrig. Was also hatte dieses »Versuch bloß nicht aufzustehen« zu bedeuten?
Ha! Das Telefon.
Ich schaute mich um und sah an der Wand ein echtes Schnurtelefon hängen, das eine so lange Schnur hatte, dass man überall in der Küche damit telefonieren konnte. Also bitte. Warum legte er sich kein schnurloses Telefon zu? Die Dinger sehen um Klassen besser aus.
Bis Wyatt, mit beiden Taschen beladen, wieder am anderen Ende des Durchgangs auftauchte, hatte ich bereits die Nummer gewählt und hörte das Freizeichen. Ich empfing ihn mit einem »Mir machst du nichts vor« -Feixen, und er verdrehte die Augen.
»Daddy«, sagte ich, als Daddy ans Telefon ging. Wenn ich etwas Ernstes mit ihm zu besprechen habe, nenne ich ihn Daddy, so als würde ich ihn mit seinem vollen Namen statt mit einem Spitznamen ansprechen. »Was genau hast du zu Wyatt gesagt? Er behauptet, du hättest ihm verraten, wie er mich bändigen kann. Wie konntest du nur?« Mit jedem Wort klang ich entrüsteter und beleidigter.
Daddy bog sich vor Lachen. »Schon okay, Baby.« Er nennt uns alle »Baby«, weil wir, na ja, wirklich mal seine Babys waren. Mom nennt er nie so. O nein. Das verkneift er sich lieber. »Es ist nichts, was dir irgendwie schaden könnte; nur etwas, was er sofort erfahren musste.«
»Und was genau?«
»Das wird er dir selbst sagen.«
»Wahrscheinlich nicht. Er ist verdammt eigensinnig.«
»Nein, er wird es dir sagen. Ehrenwort.«
»Und wenn nicht, dann prügelst du ihn grün und blau?« Das war ein alter Witz von meinem Dad, der oft beteuerte, dass er jeden Mann grün und blau prügeln würde, der eines seiner Mädchen unglücklich macht. Darum hatte ich ihm nie von Jasons Geknutsche mit Jenni erzählt, denn ich hatte befürchtet, dass er in diesem Fall seine Drohung wahr machen könnte.
»Nein, aber ich prügle ihn grün und blau, wenn er dir wehtut.«
Mit neuer Zuversicht versehen, legte ich auf und drehte mich um, wo ich Wyatt sah, der mit verschränkten Armen an den Hängeschränken lehnte und mich leise schmunzelnd beobachtete. »Er hat es dir nicht verraten, stimmt’s?«
»Er sagte, du würdest es mir sagen, und wenn nicht, dann würde er dich grün und blau prügeln.« Na schön, ich dehnte die Wahrheit ein bisschen. Wyatt hatte schließlich nicht hören können, was Dad wirklich gesagt hatte.
»Es war nichts Schlimmes.« Er richtete sich auf und trat an den Kühlschrank. »Wie wär’s mit einem warmen Frühstück? Das geht am schnellsten. Eier mit Speck und Toast.«
»Hört sich toll an. Kann ich dir helfen?«
»Mit dem Arm kaum. Am besten bleibst du einfach still sitzen. Damit hilfst du mir am meisten.«
Ich setzte mich und schaute mich, während er alle Zutaten zusammenstellte und den Speck in der Mikrowelle bräunte, in der Essecke und Küche um. Zu meiner Überraschung wirkte die Küche eher alt. Die Geräte waren hochmodern und neu, und in der Mitte gab es eine Kochinsel mit Herdplatte, aber der Raum selbst wirkte massiv und solide.
»Wann wurde das Haus gebaut?«
»Zur Jahrhundertwende. Der vorletzten. Es ist also gut hundert Jahre alt. Ursprünglich war es ein Bauernhaus, aber es wurde mehrmals umgebaut. Als ich es kaufte, ließ ich es gründlich sanieren, ein paar Innenwände einreißen, damit es offener und moderner wirkt, und ein paar Bäder einbauen. Oben gibt es drei Bäder und unten eine Toilette. Das ganze Haus hat knapp dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Morgen führe ich dich herum.«
»Und wie viele Schlafzimmer gibt es?«
»Vier. Früher waren es sechs kleine, und es gab nur ein Bad, deshalb habe ich zwei Zimmer aufgeteilt und dafür die anderen vergrößert und die Bäder eingebaut. Auf diese Weise kann ich das Haus leichter verkaufen, falls ich irgendwann ausziehen will.«
»Warum solltest du das wollen?« Es war ein Riesenhaus für einen allein, aber soweit ich sehen konnte, hatte es eine angenehme, wohnliche Atmosphäre. Die Küchenschränke waren in einem warmen, goldenen Braun gehalten, die Arbeitsplatte war aus grünem Granit, und der gewachste Kiefernboden war mit kleinen, bunten Teppichen belegt. Es war keine ultraschicke Küche, trotz des grünen Granits, aber sie sah praktisch und gemütlich aus.
Er zuckte mit den Achseln. »Das hier ist meine Heimatstadt, und ich fühle mich hier wohl, außerdem lebt hier meine Familie, aber vielleicht bietet sich irgendwann woanders ein besserer Job. Man kann nie wissen. Vielleicht werde ich bis an mein Lebensende hier wohnen, vielleicht auch nicht.«
Das war eine grundsolide Einstellung, die ich nur teilen konnte. Ich liebte meine Wohnung, aber wer konnte schon sagen, was die Zukunft für mich bereithielt? Flexibel zu bleiben war nur schlau.
Kurz nacheinander stellte er zwei Teller mit Rührei, Speck und Toast auf den Tisch und hatte uns jeweils ein Glas Milch eingeschenkt. Dann öffnete er die Flasche mit den Antibiotika und legte mir zwei davon auf den Tellerrand, direkt neben eine Schmerztablette.
Ich nahm die Schmerztablette ohne zu murren. Ich bin nicht blöd. Ich wollte, dass der Schmerz aufhörte.
Als ich aufgegessen hatte, musste ich gähnen. Wyatt spülte die Teller ab, stellte sie in die Spülmaschine und zog mich dann aus meinem Stuhl. Keine fünf Sekunden später saß er selbst darin und ich auf seinem Schoß.
»Was denn?«, fragte ich überrascht von meinem Krähennest aus. Ich hab’s nicht so mit dem Schoßsitzen – ich finde das unvorteilhaft –, aber Wyatt war so groß, dass unsere Gesichter auf einer Höhe waren, und sein Arm um meinen Rücken hielt mich wunderbar warm und fest.
»Dein Dad hat mir erzählt, dass du hinter deiner großen Klappe deine Angst versteckst. Und dass die Größe der Klappe in direkter Relation zu deiner Angst steht.« Seine breite Hand fuhr über meinen Rücken. »Er sagte, so versuchst du deine Furcht zu überspielen, bis du sie überwunden hast.«
Das ist kein Geheimnis in meiner Familie, so viel steht fest. Ich ließ meinen Kopf an seine Schulter sinken. »Ich war wie versteinert vor Angst.«
»Bis auf deinen Mund.« Er grinste. »Wenn ich mir vorstelle dass wir alle Hände voll zu tun hatten, um die Suche nach einem bewaffneten Mörder zu organisieren, und dich währenddessen die ganze Zeit hinter dem Auto hervor maulen hörten, dass du Kekse willst.«
»Ich habe nicht gemault.«
»O doch, das hast du. Ich dachte schon, ich müsste meine Männer in den Hintern treten, damit sie nicht loskichern.«
»Mein Gehirn weigert sich zu denken, dass mich jemand umbringen will. Es bockt einfach. Solche Sachen dürfen nicht passieren. Ich führe ein nettes, ruhiges Leben, und innerhalb weniger Tage bricht alles zusammen und das Inferno aus. Ich will mein nettes, ruhiges Leben zurück. Ich will, dass ihr diesen Typen fangt, und zwar sofort.«
»Das werden wir. Wir werden ihn festnageln. MacInnes und Forester haben das Wochenende durchgearbeitet und alle möglichen Spuren verfolgt. Inzwischen haben sie ein paar brauchbare aufgetan.«
»Ist es Nicoles Freund?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Weißt du es nicht oder kannst du es wirklich nicht sagen?«
»Ich darf nicht über laufende Ermittlungen sprechen.« Er küsste mich auf die Schläfe. »Komm, wir bringen dich nach oben in die Heia.«
Zum Glück hatte ich fest damit gerechnet, dass er mich in sein Schlafzimmer mitnehmen und nicht in eines der Gästezimmer bringen würde, denn genau das tat er. Ich hätte gehen können, ich wäre sogar die Treppe hoch gekommen, aber er schien mich gern durch die Gegend zu tragen, warum sollte ich mich also wehren? Er setzte mich in dem großen Badezimmer mit den zwei Waschbecken, der eingelassenen Badewanne und der großen Duschkabine ab. »Ich hole deine Tasche. Handtücher und Waschlappen sind da drin«, sagte er und deutete dabei auf die Tür zum Wäscheschrank.
Ich nahm ein Handtuch und einen Waschlappen heraus und schaffte es tatsächlich, mit nur einer Hand die Kragenschleife im Nacken meines Nachthemdes zu lösen. Die zweite Schleife weiter unten am Rücken bekam ich allerdings nicht auf. Auch egal. Ich ließ das zeltartige Ding einfach fallen und stieg über den Stoff hinweg.
Dann betrachtete ich meinen halb nackten Körper im Spiegel. Uh. Mein linker Arm war mit roter Jodtinktur verschmiert, und auf dem Rücken und unter dem Arm war Blut angetrocknet. Ich machte den Waschlappen nass und hatte, bis Wyatt wieder auftauchte, alle Blutspuren in Reichweite entfernt. Er nahm mir den Lappen ab, säuberte die übrigen Stellen und half mir dann aus den restlichen Kleidern. Zum Glück war ich inzwischen daran gewöhnt, nackt vor ihm zu stehen, sonst wäre mir das unendlich peinlich gewesen. Ich sah sehnsüchtig auf die Dusche, aber das kam nicht in Frage. Die Badewanne hingegen war eine Möglichkeit. »Ich könnte ein Bad nehmen«, sagte ich hoffnungsvoll.
Er widersprach nicht einmal. Stattdessen ließ er Wasser einlaufen und half mir in die Wanne. Während ich selig im warmen Wasser einweichte, zog er sich ebenfalls aus und verschwand kurz unter der Dusche.
Ich lehnte mich zurück und schaute ihm zu, wie er wieder aus der Kabine trat und sich abtrocknete. Ein nackter Wyatt Bloodsworth war ein erhebender Anblick mit seinen breiten Schultern und den schmalen Hüften, den muskulösen Beinen und dem ansehnlichen Päckchen dazwischen. Und damit nicht genug, er wusste mit dem Päckchen auch umzugehen.
»Hast du genug rumgelümmelt?«, fragte er.
Im Lümmeln bin ich Weltmeisterin, aber ich hatte genug gebadet, deswegen nickte ich und ließ mich von ihm hochziehen und festhalten, damit ich nicht ausrutschte, sobald ich aus der hohen Wanne stieg. Ich hätte mich durchaus einhändig abtrocknen können, was möglicherweise nicht ganz einfach gewesen wäre, aber er nahm mir das Handtuch aus der Hand und tupfte mich sanft ab, bevor er meinen Waschbeutel aus der Reisetasche holte, damit ich die Feuchtigkeitscreme herausholen konnte. Ich würde doch nicht meine Hautpflege vernachlässigen, nur weil mir ein Mörder auf den Fersen war!
Zwar hatte ich ein T-Shirt zum Schlafen dabei, aber schon als ich es aus der Tasche zerrte, war mir klar, dass ich es nie im Leben über den Buckel bekommen würde, den der dicke Verband warf, ganz zu schweigen davon, dass ich den Arm anheben musste, um es überzuziehen.
»Ich hole dir ein Hemd«, sagte Wyatt und verschwand in der großen Garderobe neben dem Schlafzimmer. Er kam mit einem weißen Anzughemd zurück und streifte langsam den Ärmel über meinen verletzten Arm. Das Hemd hing mir bis auf die Schenkel, und der Schultersaum schlackerte irgendwo über meinem Oberarm. Er musste die Manschetten dreimal umschlagen, ehe meine Hände zum Vorschein kamen. Ich drehte mich vor dem Spiegel hin und her, um mein Nachtkostüm zu prüfen. Ehrlich, ich finde, Männerhemden sehen an Frauen einfach toll aus.
»Ja, du siehst heiß aus«, bestätigte er lächelnd. Er schob eine Hand unter den Hemdsaum und legte sie auf meinen nackten Hintern. »Wenn du heute Abend brav bist, dann küsse ich dich morgen in den Nacken und mache dich glücklich.«
»Keine Halsküsse. Vergiss nicht, dass wir ein Abkommen haben. Kein Sex mehr.«
»Das ist dein Abkommen, nicht meins.« Er hob mich hoch und trug mich zum Bett, wo er mich auf das Laken der Kingsize-Matratze legte und liebevoll zudeckte. Ich drehte mich zur Seite, und dann hieß es Licht aus, Blair.