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Ich hätte wissen müssen, dass er auftauchen würde. Immerhin war er Lieutenant bei der Polizei, und in einer eher kleinen Stadt wie unserer – mit rund sechzigtausend Einwohnern – war ein Mord kein Alltagsgeschäft. Wahrscheinlich waren alle Bullen, die gerade Dienst hatten, rund um mein Studio versammelt, und dazu so mancher, der eigentlich keinen Dienst hatte.

Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah, und ich erkannte auch nach zwei Jahren gleich beim ersten Wort das tiefe Timbre und das lebhaftere Tempo, das verriet, dass er nicht immer im Süden gelebt hatte. Zwei Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal seinen Hinterkopf gesehen hatte. Damals hatte er mich sitzen lassen, ohne mir auch nur »ein schönes Leben noch« zu wünschen, und ich spürte immer noch, wie mein Magen ins Bodenlose sackte, als säße ich in einem Riesenrad, das sich plötzlich rasend schnell abwärts dreht. Zwei beschissene Jahre – und mein Puls sprang immer noch auf ihn an.

Wenigstens war ich noch in meinem Büro, als ich seine Stimme hörte; er war draußen, wo er zu einem Pulk von Polizisten sprach, weshalb ich mich innerlich stählen konnte, bevor wir aufeinander trafen.

O ja, wir hatten eine gemeinsame Vergangenheit, Lieutenant J.W. Bloodsworth und ich. Vor zwei Jahren waren wir miteinander ausgegangen – genau dreimal. Seine Beförderung zum Lieutenant war noch ziemlich frisch, höchstens ein Jahr alt, darum war er damals noch Sergeant Bloodsworth gewesen.

Wer unter uns Frauen ist noch nie einem Mann begegnet, bei dem jeder Instinkt, jedes Hormon aufmerkt und anschlägt und dir ins Ohr flüstert: »O mein Gott, das ist er, das ist der Richtige, schnapp ihn dir und zwar SOFORT!«? So war es bei mir gewesen, und zwar gleich beim ersten »Hallo«. Die Chemie zwischen uns war einfach unglaublich. Von unserer ersten Begegnung an – seine Mutter, die Mitglied im Great Bods war, hatte uns miteinander bekannt gemacht – begann mein Herz jedes Mal zu flattern, wenn ich ihn sah, und seines flatterte vielleicht nicht, aber er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf mich, wie es ein Mann nur tut, wenn er was sieht, was er um jeden Preis haben will, ganz egal, ob es eine Frau oder ein Breitbildfernseher ist, und zwischen uns knisterte regelmäßig ein Spannungsfeld überhöhter Sinneswahrnehmung, das mich jedes Mal leicht elektrisierte.

Im Rückblick würde ich sagen, dass ich mich fühlte wie eine Motte, kurz bevor sie in die Flamme fliegt.

Unser erstes Date verflog in einem Rausch der Vorfreude. Unser erster Kuss war eine Explosion. Nur zwei Dinge hielten mich davon ab, gleich bei der ersten Verabredung mit ihm zu schlafen: A) ist es so billig, und B) hatte ich die Pille abgesetzt. Ich gestehe es nur ungern, aber A) war fast wichtiger als B), weil meine tobenden Hormone immerzu kreischten: »O ja o ja o ja! Wir wollen sein Baby!«

Bescheuerte Hormone. Sie sollten wenigstens abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, ehe sie ihren Balztanz aufführen.

Unser zweites Date war noch intensiver. Das Küssen steigerte sich zu schwerem Petting, bei dem wir uns fast ganz auszogen. Aus dem oben aufgeführten Grund B) zog ich auch diesmal die Notbremse, obwohl er ein Kondom hervorzauberte. Ich traue keinem Kondom, weil Jason während unserer Verlobungszeit eines zum Platzen brachte und ich zwei Wochen lang Blut und Wasser schwitzte, bis meine Tage pünktlich auf die Minute einsetzten. Mein Hochzeitskleid war damals bereit zur letzten Anprobe, und Mom hätte einen Vogel gekriegt, wenn plötzlich meine Taille explodiert wäre. Normalerweise sind mir Moms Vögel egal, weil sie so ziemlich alles wieder in Ordnung bringen kann, aber die Vorbereitungen für eine Riesenhochzeit bringen sogar eine Frau mit eisernen Nerven an den Rand eines Zusammenbruchs.

Also, kein Kondom für mich, außer zu Unterhaltungszwecken, klar? Ich hatte mir fest vorgenommen, nach meiner nächsten Periode wieder mit der Pille anzufangen, weil ich in die Zukunft sehen konnte und ein nackter Jefferson Wyatt Bloodsworth darin eine große Rolle spielte … fast beängstigend groß sogar. Ich hoffte nur, dass ich so lange durchhalten würde, bis die Pille wirkte.

Bei unserem dritten Date kam er mir wie ferngesteuert vor. Er war unaufmerksam, nervös und schaute immer wieder auf die Uhr, als könnte er es kaum erwarten, mich loszuwerden. Er beendete das Date mit einem spürbar widerwilligen Schmatz auf meine Wange und spazierte davon, ohne auch nur zu versprechen, dass er mich anrufen würde – was sowieso gelogen gewesen wäre, weil er nämlich nie wieder anrief – oder dass es ein netter Abend gewesen sei oder irgendwas. Und seither hatte ich diesen Drecksack nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Ich war stinksauer auf ihn, und die zwei Jahre hatten nicht dazu beigetragen, meinen Zorn zu lindern. Wie hatte er eine Beziehung wegwerfen können, die sich so viel versprechend angelassen hatte? Und falls er damals nicht so empfunden hatte wie ich, dann hätte er mir verflixt noch mal nicht die Kleider vom Leib reißen dürfen. Ja, ich weiß, das versucht jeder Macker, und ich bin ihnen auch insgeheim dankbar dafür, aber wenn eine Frau ihre Teenagerjahre hinter sich hat, erwartet sie etwas mehr; sie hofft, dass sich die flache Pfütze des rein sexuellen Notstands vertieft hat zu … mindestens einer tiefen Pfütze, schätze ich. Falls er den Schwanz eingezogen hatte, nur weil ich ihn zweimal hintereinander kurz vor dem Vollzug ausgebremst hatte, dann war ich ohne ihn eindeutig besser dran. Jedenfalls hatte ich nie angerufen, um mich zu erkundigen, was damals los gewesen sei, weil ich so wütend war, dass ich nicht sicher sein konnte, ob ich mich beherrschen können würde. Ich wollte ihn anrufen, sobald ich mich wieder beruhigt hatte.

Zwei Jahre später hatte ich immer noch nicht angerufen.

All das ging mir im Kopf rum, als er mit seinen eins neunzig in mein Büro im Great Bods spaziert kam. Seine dunklen Haare waren ein bisschen länger als damals, aber die grünen Augen waren noch dieselben: aufmerksam, scharf und von jener stählernen Härte, die sich jeder Bulle aneignen muss, oder er kann sich einen neuen Job suchen. Dieser stählerne Bullenblick tastete mich von oben bis unten ab und kam mir sofort noch schärfer vor.

Ich freute mich nicht wirklich, ihn zu sehen. Am liebsten hätte ich ihn gegen das Schienbein getreten und hätte es vielleicht auch getan, wenn ich nicht ziemlich sicher gewesen wäre, dass er mich dann wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verhaftet hätte, weshalb ich lieber das tat, was jede Frau mit einem Funken Selbstachtung in so einem Fall tun würde: Ich tat so, als würde ich ihn nicht kennen.

»Blair.« Natürlich baute er sich viel zu dicht vor mir auf. »Bist du okay?«

Was ging ihn das an? Ich schaute ihn verblüfft und leicht erschrocken an, so wie eine Frau einen Fremden ansieht, der unerwartet aufdringlich wird, und rutschte dann meinen Stuhl unauffällig ein paar Zentimeter zurück. »Äh … ja, ich glaube schon«, antwortete ich vorsichtig und ließ dann leise Verwirrung auf meinem Gesicht aufleuchten, so als würde ich ihn halb wiedererkennen, aber keinen passenden Namen aus meinem Gedächtnis zaubern können.

Zu meiner Überraschung sah ich glühenden Zorn in seinen grünen Augen aufblitzen. »Wyatt«, sagte er so knapp wie möglich.

Ich rutschte noch weiter zurück. »Was ist weit?« Ich beugte mich zur Seite und schaute an ihm vorbei, als wollte ich mich überzeugen, dass noch andere Bullen in Rufweite waren, die mich vor ihm beschützen konnten, falls er mich schlagen würde – was ihm, ganz ehrlich, durchaus zuzutrauen war, so wie er mich ansah.

»Wyatt Bloodsworth.« Die Worte plumpsten wie Bleikugeln aus seinem Mund. Er fand meine kleine Scharade ganz und gar nicht witzig, dafür amüsierte ich mich königlich.

Ich wiederholte den Namen leise für mich und bewegte die Lippen dabei gerade so weit, dass er es sehen konnte, bevor ich mein Gesicht aufleuchten ließ. »Ach so! Natürlich! Jetzt fällt es mir wieder ein. Entschuldige bitte, ich habe ein schreckliches Namensgedächtnis. Wie geht es deiner Mutter?«

Mrs. Bloodsworth war vor ihrem Haus vom Fahrrad gefallen und hatte sich das Schlüsselbein sowie mehrere Rippen gebrochen. Ihre Mitgliedschaft war ausgelaufen, während sie im Krankenhaus war, und sie hatte sie seither nicht erneuert.

Es machte ihn offensichtlich gar nicht glücklich, dass mir seine Mutter wichtiger war als er. Was hatte er erwartet? Dass ich mich hysterisch heulend in seine Arme stürzen und ihn anbetteln würde, es noch mal mit mir zu probieren? Nicht in hunderttausend Leben. Die Mallory-Frauen sind aus härterem Holz geschnitzt.

»Sie ist fast wieder die Alte. Ich glaube, die Erkenntnis, dass sie sich nicht mehr so schnell erholt wie früher, war für sie noch schmerzhafter als die vielen Brüche.«

»Richte ihr meine besten Grüße aus und sag ihr, ich würde sie gern wiedersehen.« Dann klatschte ich mir, weil er die Marke an seinem Gürtel trug, leicht gegen die Stirn. »O je! Wenn ich deine Marke gesehen hätte, hätte ich die Verbindung schneller gezogen, aber ich bin im Moment ein bisschen durcheinander. Detective MacInnes wollte mich nicht mit meiner Mutter telefonieren lassen, aber glaubst du, dass es ihn immer noch stören würde, wenn ich sie anrufe, nachdem sich inzwischen offenbar die ganze Stadt auf meinem Parkplatz versammelt hat?«

Er schien immer noch nicht zufrieden mit mir. O Gott, hatte ich ihn etwa an seinem kleinen Ego getroffen? War das nicht schrecklich? »Bis jetzt dürfen nur Polizisten den Tatort betreten«, erwiderte er. »Wir halten auch die Presse zurück, bis die ersten Untersuchungen abgeschlossen sind. Auch würden wir es gutheißen, wenn du mit niemandem sprichst, bis die Vernehmungen abgeschlossen sind.«

»Verstehe.« Das war nicht gelogen. Ein Mord war eine ernste Sache. Ich wünschte nur, er wäre nicht so ernst gewesen, dass sich Lieutenant Bloodsworth damit befassen musste. Ich stand auf, ging an ihm vorbei – in genau dem Abstand, in dem ich auch an einem Fremden vorbeigegangen wäre – und schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein. »Wie lange wird das noch dauern?«

»Schwer zu sagen.«

Eine gute Nichtantwort. Ich merkte, dass er auf die Kanne sah, und sagte: »Bitte, bedien dich.« Ich griff nach dem Plastikkrug, mit dem ich das Wasser nachgefüllt hatte, seit beide Kannen in Betrieb waren. »Ich hole nur schnell Wasser, um neuen Kaffee aufzusetzen.« Dann huschte ich aus der Tür und über den Gang zur Toilette, wo ich den Krug füllte und mich feixend beglückwünschte.

Dass ich ihn vergessen haben könnte, weil er nur eine unbedeutende Episode gewesen war, hatte ihm ganz offenbar nicht gefallen. Wenn er gedacht hatte, ich hätte ihm zwei Jahre lang hinterhergeweint und den verschenkten Möglichkeiten nachgetrauert, dann musste er sein Hirn neu justieren. Und was hatte er überhaupt erwartet? Eine Neuauflage der guten alten Zeiten?

Nein, nicht unter diesen Umständen. Und schon gar nicht, während er arbeitete. Dafür war er viel zu professionell. Aber er hatte eindeutig erwartet, dass ich mit jener unbewussten Vertrautheit auf ihn reagieren würde, die sich unwillkürlich einstellt, wenn man jemanden näher kennt, selbst wenn die Beziehung längst beendet ist.

Als ich aus der Toilette kam, unterhielten sich im Gang die Detectives MacInnes und Forester leise mit Wyatt. Weil er mit dem Rücken zu mir stand, konnte ich ihn in aller Ruhe betrachten, während er in die Unterhaltung vertieft war, und ich will verflucht sein, wenn es nicht gleich wieder passierte, dieses Herzflatterdings. Ich blieb abrupt stehen und starrte ihn an.

Er war kein hübscher Mann, nicht so wie mein Ex hübsch gewesen war. Jason war ein Bild von einem Mann mit fein gemeißeltem Körperbau; Wyatt war eher vom Leben gezeichnet, was nicht verwunderlich war, nachdem er jahrelang als Verteidiger in einem Profi-Footballteam gespielt hatte, aber auch so waren seine Gesichtszüge eher grob. Er hatte ein markantes Kinn, die Nase war einmal gebrochen und hatte seitdem einen kleinen Buckel und Schlagseite, und seine Brauen lagen wie gerade schwarze Striche über seinen Augen. Er besaß den durchtrainierten Körper eines Athleten, der schnell und stark sein muss, aber während Jasons Body die stromlinienförmige Eleganz eines Schwimmers besessen hatte, war Wyatts Körper eindeutig eine Waffe.

Und vor allem triefte er praktisch vor Testosteron. Das Aussehen verliert dramatisch an Bedeutung, wenn ein Mann Sexappeal hat, und Sexappeal hatte Wyatt Bloodsworth bis zum Abwinken, jedenfalls für mich. Bei uns stimmte einfach die Chemie. Anders kann ich es nicht erklären.

Ich hasse die Chemie. Wegen dieser dämlichen Chemie hatte ich seit zwei Jahren keinen Mann mehr gehabt.

Genau wie die beiden Detectives trug er Baumwollhosen unter einem Sportsakko und hatte die Krawatte lose um den Hals gebunden. Es hätte mich interessiert, wieso er so spät hergekommen war; war er bei einem Date gewesen und hatte Piepser und Handy ausgeschaltet? Nein, dafür war er viel zu gewissenhaft, also folgte daraus, dass er irgendwo weit weg gewesen war und knapp zwei Stunden gebraucht hatte, um herzufahren. Außerdem war er wie die anderen draußen im Regen herumgelaufen, weil seine Schuhe und die unterste Handbreit seiner Hosenbeine nass waren. Offenbar hatte er sich den Tatort angesehen, bevor er ins Studio gekommen war.

Die zwei Detectives waren kleiner als er, und Detective MacInnes’ Miene war betont gleichgültig. Die beiden Älteren waren bestimmt nicht begeistert, dass man ihnen einen Jüngeren vor die Nase gesetzt hatte. Wyatt hatte einen kometenhaften Aufstieg hinter sich, und das nur teilweise, weil er so gut in seinem Job war. Er hatte obendrein einen NAMEN: Er war einer von hier, der es ganz nach oben geschafft hatte, er war ein Football-Star, der schon in seinem ersten Jahr in der National Football League zum Stammspieler aufgestiegen war und der nach ein paar Jahren als Profi alles hingeschmissen hatte, um in seiner Heimatstadt Bulle zu werden. Die Polizei sei seine größte Liebe, hatte er damals den Kameras erzählt.

Jeder in der Stadt wusste, warum er Football gespielt hatte: des Geldes wegen. Die Bloodsworths waren Altes Geld; was heißt, dass sie früher mal Geld besessen hatten und inzwischen pleite waren. Seine Mutter lebte in einem 400 Quadratmeter großen, hundert Jahre alten viktorianischen Kasten, den sie liebte und dessen Unterhalt ein Vermögen verschlang. Seine ältere Schwester Lisa hatte zwei Kinder, und obwohl sie und ihr Mann gut verheiratet waren und finanziell über die Runden kamen, würden sie nie die nötigen Mittel aufbringen, um ihre Kinder aufs College zu schicken. Wyatt hatte ganz pragmatisch entschieden, dass nur er das Familienkonto auffüllen konnte, und deshalb seine Wunschlaufbahn bei der Polizei hintan gestellt, um erst mal Ball zu spielen. Ein paar Millionen Dollar pro Jahr würden die Familienfinanzen so weit aufbessern, dass er für seine Mutter sorgen und seine Neffen aufs College schicken konnte und so weiter.

Die älteren Polizisten mussten ihn beneiden, wenigstens ein bisschen. Gleichzeitig waren sie froh, ihn dabeizuhaben, weil er wirklich ein guter Bulle und dabei nicht übermäßig eitel war. Er setzte seinen Namen nicht zu seinem persönlichen Vorteil ein, sondern nur dann, wenn es der Truppe diente. Und er kannte Leute, die man kennen sollte – mit ein Grund, warum er so schnell befördert worden war. Wyatt konnte einfach zum Telefon greifen und den Gouverneur anrufen. Der Polizeichef und der Bürgermeister wären schön blöd gewesen, wenn sie nicht erkannt hätten, wie praktisch das war.

Ich hatte lange genug vor dem Klo gestanden. Also ging ich wieder zurück und machte dadurch MacInnes auf mich aufmerksam, der mitten im Satz verstummte. Nur zu gern hätte ich gewusst, was er gerade gesagt hatte, das ich nicht hören durfte. Alle drei Männer drehten sich zu mir um und beobachteten mich genau. »Verzeihung«, murmelte ich und schob mich an ihnen vorbei in mein Büro. Ich machte mich daran, eine weitere Kanne Kaffee aufzusetzen, und rätselte dabei, ob ich aus einem unerfindlichen Grund wieder auf Platz eins der Verdächtigenliste gelandet war.

Vielleicht sollte ich lieber nicht Mom anrufen. Vielleicht sollte ich lieber Siana anrufen. Sie war zwar keine Strafverteidigerin, aber das tat im Moment nichts zur Sache. Sie war gewitzt, sie war gnadenlos, sie war meine Schwester. Das sollte genügen.

Ich trat in die Tür zum Flur, verschränkte die Arme und sah Detective MacInnes finster an. »Falls Sie mich verhaften wollen, will ich meine Anwältin anrufen. Und meine Mutter.«

Er kratzte sich am Kinn und warf Wyatt einen kurzen Seitenblick zu, als wollte er sagen: Lieutenant, übernehmen Sie. »Lieutenant Bloodsworth wird Ihre Fragen beantworten, Madam.«

Wyatt nahm mich am Ellbogen, drehte mich geschmeidig um und schob mich in mein Büro zurück. »Setz dich doch«, schlug er vor, während er sich die nächste Tasse Kaffee einschenkte. Die erste Tasse musste er in einem Zug runtergekippt haben.

»Ich will sofort …«

»Du brauchst keinen Anwalt«, fiel er mir ins Wort. »Bitte. Setz dich hin.«

Etwas in seinem Tonfall ließ mich folgen, und das war nicht nur seine Autorität.

Er zog den Gästestuhl vor mich hin und setzte sich darauf. Seine Beine waren so lang, dass sie meine fast berührten. Ich rutschte scheinbar automatisch ein Stück zurück, wie es jede Frau macht, wenn ihr jemand auf die Pelle rückt. Er hatte nicht das Recht, in meine Intimsphäre einzudringen. Nicht mehr.

Natürlich bemerkte er mein Zurückzucken, und seine Lippen wurden schmal. Aber ganz egal, wie er darüber dachte, er blieb absolut professionell. »Blair, hast du irgendwelche Probleme, von denen wir wissen sollten?«

Na gut, das war vielleicht nicht wirklich Polizeisprache und kam total unerwartet. Ich blinzelte ihn an. »Du meinst abgesehen davon, dass ich dachte, man hätte auf mich geschossen, und stattdessen feststellen musste, dass ich einen Mord beobachtet habe? Reicht das nicht?«

»Vorhin hast du ausgesagt, dass du heute Nachmittag eine Auseinandersetzung mit der Getöteten hattest, als du ihr erklärt hast, dass sie ihre Mitgliedschaft nicht verlängern könne, woraufhin sie ausfallend geworden war …«

»Stimmt. Und dafür gibt es Zeugen. Ich habe Detective MacInnes alle Namen genannt.«

»Ja, ich weiß.« Er wirkte geduldig. »Hat sie dich bedroht?«

»Nein. Na ja, sie sagte, sie würde mir ihren Anwalt auf den Hals hetzen, aber das machte mir kein Kopfzerbrechen.«

»Sie hat nicht gedroht, dich physisch anzugreifen?«

»Nein. Das habe ich alles schon den Detectives erzählt.«

»Ich weiß. Bitte gedulde dich. Warum hast du, als du ihr Auto hinter dem Studio stehen sahst, angenommen, sie würde dich gleich attackieren, wenn sie dich doch gar nicht bedroht hat?«

»Weil sie eine Psychopathin ist – war. Sie hat mich in allem imitiert. Sie färbte sich das Haar, bis es wie meines aussah; sie fing an, die gleichen Sachen zu tragen wie ich; sie legte sich die gleiche Frisur zu und Ohrringe im gleichen Stil. Sie kaufte sogar ein weißes Cabrio, nur weil ich eins habe. Es war echt gespenstisch.«

»Sie bewunderte dich also?«

»Das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, sie konnte mich nicht ausstehen. Mehrere andere Mitglieder glaubten das übrigens auch.«

»Warum sollte sie dich dann imitieren?«

»Keine Ahnung! Vielleicht war sie zu dumm, um einen eigenen Stil zu finden, und hat mich deshalb nachgeäfft. Sie war nicht besonders klug. Raffiniert, aber nicht klug.«

»Verstehe. Hat dich sonst noch jemand bedroht?«

»Nicht seit meiner Scheidung.« Ich sah ungeduldig auf die Uhr. »Lieutenant, ich bin müde. Wie lange muss ich noch hier bleiben?« Bis mein Studio wieder bullenfrei war, so viel stand fest, damit ich alles abschließen konnte. Sie würden den ganzen hinteren Parkplatz mit gelbem Polizeiband absperren, aber sie würden davor hoffentlich mein Auto rausfahren …

In dem Moment traf es mich wie ein Schlag. Wahrscheinlich würden sie das ganze Studio und beide Parkplätze absperren. Morgen würde ich nicht öffnen können, und übermorgen vielleicht auch nicht. Oder noch länger nicht.

»Nicht mehr lange«, sagte er und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Wann wurdest du geschieden?«

»Vor fünf Jahren. Wieso fragst du?«

»Hat dein Ex-Ehemann seither Schwierigkeiten gemacht?«

»Jason? Ach du meine Güte, nein. Ich habe ihn seit der Scheidung nicht mehr gesehen.«

»Aber damals hat er dich bedroht?«

»Es war eine Scheidung. Er hat gedroht, mein Auto zu Schrott zu fahren. Natürlich hat er die Drohung nie wahr gemacht.« Genau gesagt hatte er gedroht, mein Auto zu Schrott zu fahren, falls ich gewisse Informationen an die Öffentlichkeit bringen würde. Daraufhin hatte ich gedroht, dass ich gewisse Informationen an die Öffentlichkeit bringen würde, wenn er nicht die Klappe hielt und mir alles gab, was ich verlangte – oder was Siana verlangte, genauer gesagt. Ich sah nicht ein, warum Wyatt das alles wissen musste. So was fällt unter Informationsüberflutung.

»Könntest du dir vorstellen, dass er immer noch wütend auf dich ist?«

Das hoffte ich doch schwer, schließlich fuhr ich vor allem deshalb ein Mercedes-Cabrio. Aber ich schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht warum. Er hat vor ein paar Jahren wieder geheiratet, und soweit ich höre, ist er glücklich.«

»Und sonst hat dich niemand irgendwie bedroht?«

»Nein. Wieso fragst du?«

Seine Miene ließ nichts erkennen. »Die Tote trägt beinahe die gleichen Sachen wie du. Sie saß in einem weißen Cabrio. Als ich erkannte, wie ähnlich sie dir sah, kam mir der Gedanke, dass es der Täter vielleicht gar nicht auf sie abgesehen hatte.«

Mir klappte der Unterkiefer herunter. »Unmöglich. Ich meine, ich dachte, da schießt jemand auf mich, aber nur weil ich wusste, dass Nicole total durchgeknallt war. Sie ist die Einzige, mit der ich in letzter Zeit Ärger hatte.«

»Und sonst gab es keine Meinungsverschiedenheiten, die dir vielleicht nichts bedeutet haben, die sich ein anderer aber zu Herzen genommen haben könnte?«

»Nein. Nicht mal einen kurzen Streit.« Weil ich allein lebe, verläuft mein Leben eher friedlich.

»Könnte einer deiner Angestellten aus irgendeinem Grund wütend auf dich sein?«

»Nicht, dass ich wüsste, und außerdem kennen sie mich alle persönlich – und sie kennen Nicole. Sie würden mich auf keinen Fall mit ihr verwechseln. Noch dazu wissen sie alle, wo ich parke, nämlich ganz vorn und auf keinen Fall hinten im Eck. Ich glaube nicht, dass ich irgendwas mit der Sache zu tun habe, außer dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ich kann euch nicht weiterhelfen, indem ich auf jemanden zeige, der mir ans Leder wollen könnte. Außerdem hat Nicole regelmäßig ihre Mitmenschen zur Weißglut gebracht.«

»Kennst du irgendwen davon?«

»Sie ging jeder Frau im Great Bods auf die Nerven, nur die Männer mochten sie ganz gern, weil sie diese sirupsüße Sexkätzchen-Nummer drauf hatte. Trotzdem war es ganz eindeutig ein Mann, der sie erschossen hat, was auf den ersten Blick nicht zu passen scheint, aber die Frage nach einem möglichen Eifersuchtsdrama aufwirft. Nicole spielt – spielte – gern die Männer gegeneinander aus.«

»Kanntest du ihre Freunde, oder gab es da vielleicht jemand Bestimmten?«

»Nein, über ihr Privatleben weiß ich rein gar nichts. Wir waren nicht gerade Busenfreundinnen; wir unterhielten uns nie über persönliche Sachen.«

Er hatte nicht ein einziges Mal den Blick von meinem Gesicht abgewandt, und das machte mich langsam nervös. Mal unter uns: Er hat irre helle Augen, ein blasses Grün, das dich förmlich anspringt, wenn Haare und Brauen dunkel sind so wie bei ihm. Bei einem Blonden würden solche Augen nicht weiter auffallen, es sei denn, er würde Mascara auflegen – na ja, geschenkt. Wyatt war kein Typ für Mascara. Also, sein Blick ist jedenfalls durchbohrend. Wenn er mich so anstarrte, fühlte ich mich irgendwie festgenagelt.

Dass er mir so nahe war, gefiel mir nicht. Ich funktionierte viel besser, wenn er Abstand hielt. Wenn wir eine Beziehung gehabt hätten, wäre das vielleicht anders gewesen, aber die hatten wir nicht, und nach meiner letzten Erfahrung hatte ich wenig Lust, mich emotional an jemanden zu binden, der so abrupt von heiß auf Eis umschaltet. Trotzdem war er mir so nahe, dass ich die Hitze spürte, die von seinen Beinen ausstrahlte, weshalb ich sicherheitshalber noch ein paar Zentimeter zurückrutschte. So war es besser. Nicht ideal, aber besser.

Dieser verfluchte Schuft, warum hatte er nicht draußen im Regen bleiben können? Detective MacInnes hatte hier drin alles unter Kontrolle gehabt. Wenn Wyatt nur draußen geblieben wäre, dann hätten mich nicht diese fast schmerzhaft genauen Erinnerungen gepeinigt, wie seine Haut roch, wie er schmeckte, wie er stöhnte, wenn er in Fahrt kam …

O no. Das wollten wir lieber nicht mehr wissen. Denn wenn er in Fahrt gekommen war, war auch ich in Fahrt gewesen.

»Blair!«, sagte er energisch.

Ich zuckte zusammen, versuchte mich zu konzentrieren und hoffte gleichzeitig, dass er nicht gemerkt hatte, wohin meine Gedanken gewandert waren. »Was ist denn?«

»Ich habe dich gerade gefragt, ob du das Gesicht des Mannes erkennen konntest.«

»Nein. Das habe ich alles schon Detective MacInnes erzählt«, wiederholte ich. Wie lange wollte er mir noch Fragen stellen, die ich längst beantwortet hatte? »Es war dunkel und es regnete draußen. Ich konnte erkennen, dass es ein Mann war, aber mehr auch nicht. Das Auto war ein dunkler Viertürer, aber Marke oder Modell kann ich dir nicht sagen. Tut mir Leid, aber ich würde ihn nicht mal identifizieren können, wenn er jetzt ins Büro spaziert käme.«

Er sah mich ein paar Sekunden lang schweigend an, stand dann auf und sagte: »Ich melde mich wieder.«

»Wieso?« Mein Erstaunen war mir anzusehen. Er war Lieutenant. Die Detectives würden den Fall bearbeiten; er würde nur ihre Arbeit kontrollieren, Leute einteilen, Einsätze absegnen, solche Sachen.

Seine Lippen wurden wieder dünn. Er blieb stehen und sah auf mich herunter. Kein Zweifel, ich trieb ihn heute Nacht fast zur Raserei, was ich sehr befriedigend fand.

»Bleib einfach in der Stadt«, sagte er schließlich, obwohl er den Satz eher knurrte als sagte.

»Dann werde ich also doch verdächtigt!« Ich sah ihn zornig an und griff nach dem Telefon. »Ich rufe jetzt meine Anwältin an.«

Noch bevor ich den Hörer abnehmen konnte, krachte seine Hand auf meine. »Du wirst nicht verdächtigt.« Er knurrte immer noch, und diesmal war er mir entschieden zu nah, so halb über mich gebeugt, dass er mich mit seinem Blick aufspießen konnte, während aus seinen grünen Augen zornige Funken sprühten.

Zum Glück weiß ich, wann ich die Klappe halten muss.

»Dann werde ich die Stadt verlassen, wann immer es mir gefällt«, fauchte ich ihn an, zog meine Hand unter seiner heraus und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.