18

Ich fühlte mich wie ein Vogel, den man aus dem Käfig gelassen hat. Obwohl ich nicht einmal achtundvierzig Stunden unter Hausarrest gestanden hatte, kam mir die Zeit viel länger vor. Ich konnte immer noch nicht alles selbst erledigen, aber immerhin war meine Bewegungsfreiheit nicht mehr eingeschränkt. Ich konnte ausgehen, wenn ich wollte; ich brauchte nicht ständig in der Wohnung zu bleiben; ich musste nicht mehr durch die Hintertür ins Haus schleichen.

»I’m free, I’m free, I’m free«, sang ich, als Wyatt mich abholen kam und ich ihm über die Auffahrt entgegentänzelte. Es war später als am Vortag; die Sonne war schon beinahe untergegangen, es musste also nach acht sein.

»Nicht ganz«, sagte Wyatt, als er mir den Gurt anlegte.

»Was soll das heißen, ›nicht ganz‹?«, brüllte ich ihn an. Ich brüllte, weil er außen ums Auto herumging und mich sonst nicht gehört hätte.

»Du scheinst noch nicht im Vollbesitz deiner Kräfte zu sein«, antwortete er und setzte sich hinter das Lenkrad. »Du kannst dich nicht anziehen, du kannst deine Haare nicht waschen, und du kannst nicht mit zwei Händen am Steuer fahren.«

»Du fährst auch nicht mit beiden Händen am Steuer«, erwiderte ich.

»Das muss ich auch nicht, weil ich alles unter Kontrolle habe. Du nicht.«

Ich schnaubte, ließ diese letzte Provokation aber unbeantwortet. »So oder so durfte ich nur nicht zu meiner Mom, weil du gemeint hast, dass Dwayne Bailey dort nach mir suchen könnte und ich dadurch nicht nur mich selbst, sondern auch Mom und Dad in Gefahr bringen könnte. Tja, Dwayne Bailey wurde verhaftet, und er hat keinen Grund mehr, nach mir zu suchen. Also kann ich zu meiner Mom.«

»Nicht heute Abend«, widersprach er.

»Ich würde gern wissen, warum.«

»Weil ich dich nicht dorthin bringen werde.«

»Hast du heute Abend schon was Wichtigeres vor? Dann kann sie mich abholen kommen.«

»Hör auf, dich absichtlich dumm zu stellen. Das kaufe ich dir nicht ab. Ich habe dich genau dort, wo ich dich haben will, und dort wirst du auch bleiben.«

Mir riss der Geduldsfaden. »Ich bin nicht dein kleines Sexspielzeug, mit dem du spielen kannst, wann immer dir danach ist. Ich habe mein eigenes Leben, das ich ganz gern wieder aufnehmen würde. Ich muss morgen in die Arbeit.«

»Das kannst du auch. Aber ich werde dich dorthin fahren, nicht deine Mutter.«

»Das ist doch völliger Quatsch. Und wenn irgendwas passiert und du mitten in der Nacht los musst? Es stimmt doch, dass du jederzeit einen Einsatz haben kannst?«

»Das ist möglich, aber ich werde nur selten an einen Tatort gerufen. Dafür sind die Detectives da.«

»Außerdem braucht mich niemand zur Arbeit zu fahren. Mein Auto hat ein Automatikgetriebe, und ich kann mich auch mit einer Hand anschnallen. Ich werde problemlos fahren können, und hör mir auf mit diesem Zwei-Hände-am-Lenkrad-Scheiß.« Inzwischen war ich ebenso fest entschlossen, zu meiner Mutter zu fahren, wie er entschlossen war, mich mit nach Hause zu nehmen. Bis dahin war ich es nicht gewesen, aber er nahm seelenruhig an, dass er mir vorschreiben konnte, was ich zu tun und zu lassen hatte, und dieses Ansinnen musste ich im Keim ersticken, oder vielleicht nicht?

Er schwieg ein, zwei Sekunden; dann übertölpelte er mich völlig mit einem leisen: »Möchtest du denn nicht mit mir zusammen sein?«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Natürlich!«, platzte ich heraus, ehe ich mich beherrschen konnte; dann setzte mein Verstand wieder ein, und ich erklärte entrüstet: »Unglaublich, wie hinterhältig und falsch du sein kannst. Wie kannst du es wagen, ein Mädchen-Argument gegen mich einzusetzen?«

»Ist doch egal. Du hast ja gesagt.« Er bedachte mich mit einem überheblichen Triumphlächeln und blinzelte dann. »Was ist überhaupt ein Mädchen-Argument?«

»Du weißt schon, ein Angriff auf die Gefühle.«

»Verflucht, wenn ich gewusst hätte, wie gut so was funktioniert, hätte ich es schon viel früher eingesetzt.« Er streckte eine Hand aus und drückte mein Knie. »Vielen Dank für den Tipp.«

Er zwinkerte, und ich musste lachen. Ich schlug seine Hand weg. »Ich weiß wohl, dass die Umstände es verhindert haben, aber du hast deinen Teil der Abmachung noch nicht erfüllt. Du hast mich noch nicht umworben. Deshalb will ich nach Hause.«

»Ich habe den vagen Eindruck, diese Diskussion schon mal geführt zu haben. Deine Vorstellung vom Umwerben deckt sich offenbar nicht mit meiner.«

»Ich will ein richtiges Date. Ich will ins Kino ausgeführt werden, zum Essen oder Tanzen – du tanzt doch, oder?«

»Unter Protest.«

»O Mann.« Ich startete eine TBC – Trauerblickcampagne. Eine TBC kommt im weiblichen Arsenal direkt vor einer Tränenattacke. »Und ich tanze so gern.«

Er schoss einen erschrockenen Seitenblick auf mich ab und murmelte dann: »Scheiße. Na schön. Dann gehen wir eben tanzen.« Das mit leidgeprüfter Miene.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst.« Wenn das nicht die perfekte Gelegenheit für den klassischen femininen Schlag unter die Gürtellinie war, dann wollte ich keine Frau mehr sein. Er wusste genau, dass ich enttäuscht wäre, wenn er mich beim Wort nahm, aber falls er tatsächlich mit mir tanzen ging, würde er so tun müssen, als machte es ihm Spaß. Auch auf diese Weise zahlen wir es den Männern heim, dass sie keine Periode kriegen, stimmt’s?

»Aber – wenn das Date zu Ende ist, tun wir, was ich tun möchte.«

Was das sein mochte, war unschwer zu erraten. Ich setzte ein entsetztes Gesicht auf. »Du willst, dass ich mit Sex für ein Date bezahle?«

»Ich hätte nichts dagegen«, bestätigte er und drückte noch mal mein Knie.

»Kommt gar nicht in Frage.«

»Gut. Dann brauche ich nicht tanzen zu gehen.«

Im Geist ergänzte ich die Liste seiner Verfehlungen um unkooperativ und nicht gewillt, mir einen Gefallen zu tun. So wie sich diese Liste entwickelte, würde ich sie bald in mehrere Bände aufteilen müssen wie ein Konversationslexikon.

»Keine Retourkutsche?«, bohrte er.

»Ich dachte gerade daran, was ich alles auf deine Liste schreibe.«

»Könntest du endlich mal diese verfluchte Liste vergessen? Wie würdest du es finden, wenn ich eine Liste mit deinen Fehlern und Lastern machen würde?«

»Dann würde ich sie lesen und versuchen, mich zu bessern«, erklärte ich selbstgerecht. Na schön, ich würde sie wenigstens lesen. Was er als Fehler betrachtete, musste nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was ich als Fehler betrachtete.

»Was für ein Humbug. Ich glaube, du kultivierst deine Problembereiche sogar.«

»Wie zum Beispiel?«, fragte ich zuckersüß.

»Dein vorlautes Mundwerk zum Beispiel.«

Ich blies ihm einen Kuss zu. »Als ich dich heute Morgen auf den Reißverschluss geküsst habe, hat dir mein Mundwerk aber ganz gut gefallen.«

Das weckte einige Erinnerungen. »Stimmt«, bekannte er. »Das hat mir verdammt gut gefallen.«

Ich wusste genau, was er meinte. Auch ich hegte schon den ganzen Tag geheime Wünsche. Ich wollte dieses ewige Hickhack vergessen, unsere ständigen Kämpfe darum, wer die Oberhand behalten würde, und ihn ein einziges Mal einfach verschlingen, seine Liebe genießen und in Sex und Lust baden. Vielleicht wenn ich ihn zu mir nach Hause gebracht hatte – bis dahin jedoch war es keine gute Idee, ihn glauben zu lassen, er hätte mich in der Hand.

»Meine Pebbles-Frisur gefällt dir auch, obwohl du dich lustig darüber machst.«

»Ich mache mich nicht darüber lustig. Und ja, sie gefällt mir. Mir gefällt einfach alles an dir, selbst wenn du eine verfluchte Nervensäge sein kannst. Du bist ein wandelnder feuchter Traum, weißt du das eigentlich?«

Ich sah ihn zweifelnd von der Seite an. »Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll.« Dafür war das Bild in meinem Kopf entschieden zu klebrig und schmierig.

»Von meinem Standpunkt aus ja. Persönlich gesprochen, nicht professionell. Du untergräbst meine ganze Konzentration bei der Arbeit. Stattdessen stelle ich mir ununterbrochen vor, wie ich dich ausziehe. Wahrscheinlich wird sich das legen, nachdem wir erst ein, zwei Jahre verheiratet sind, aber im Moment ist es verflucht intensiv.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich dich heiraten werde«, sagte ich automatisch, aber mein Herz führte einen Stepptanz auf, und auch meine Konzentration entzog sich immer wieder unserem Gespräch und produzierte ungefragt Bilder, die ihn nackt zeigten.

»Wir wissen beide, dass es so kommen wird. Es gibt noch ein paar Details auszubügeln wie diese Vertrauenssache, die dir so wichtig ist, aber ich würde meinen, dass ich das in ein paar Monaten geklärt habe und wir in der Vorweihnachtszeit heiraten können.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Hast du die leiseste Vorstellung, wie lange es dauert, eine Hochzeit zu organisieren, selbst wenn ich ja sagen würde, was ich noch nicht getan habe? Bis Weihnachten ist das nicht zu schaffen. Bis Weihnachten in einem Jahr vielleicht – ich meine, es wäre durchaus möglich, eine Hochzeit über ein Jahr lang zu planen, nicht dass ich Weihnachten in einem Jahr heiraten wollte, denn selbst wenn wir tatsächlich heiraten sollten, dann auf gar keinen Fall in der Vorweihnachtszeit, weil dann unser Hochzeitstag im Vorweihnachtstrubel untergehen würde, und das wäre schrecklich. Hochzeitstage sollten etwas ganz Besonderes sein.«

Er grinste mich an. »Du hast ›unser Hochzeitstag‹ gesagt. Das ist praktisch ein Ja.«

»Nur falls du kein Englisch verstehst. Ich sagte ›falls‹, nicht ›sobald‹.«

»Dein freudscher Versprecher hat das mehr als ausgeglichen. Damit sind wir uns einig.«

»O nein, noch längst nicht. Bis ich diese drei kleinen Worte gesagt habe, falls ich sie sage, habe ich mich zu gar nichts verpflichtet.«

Er sah mich nachdenklich an, als wäre ihm erst jetzt bewusst geworden, dass bislang keiner von uns »Ich liebe dich« gesagt hatte. Ich glaube nicht, dass für einen Mann ein »Ich liebe dich« so wichtig ist wie für eine Frau. Für einen Mann sind Taten wichtiger als Worte, aber selbst wenn sie nicht verstehen, warum dieses Bekenntnis so wichtig ist, so sollten sie doch begreifen, dass es einer Frau wichtig ist. Aber nun war ihm bewusst geworden, dass ich diesen entscheidenden Satz noch nicht gesagt hatte, und er hatte erkannt, dass die Dinge zwischen uns längst nicht so klar waren, wie er angenommen hatte.

»Das kommt auch noch«, sagte er schließlich, und ich war erleichtert, dass er nicht gleich: »Ich liebe dich« gesagt hatte, um mir eine entsprechende Antwort zu entlocken, weil ich dann sicher gewesen wäre, dass er es nicht ernst meinte. O Herr, diese Mann-Frau-Geschichten sind vielleicht kompliziert; es war wie ein Schachspiel, bei dem wir ebenbürtige Gegner waren. Ich wusste genau, was ich wollte: die absolute Sicherheit, dass er langfristig interessiert war. Ich hoffte es, aber bis ich es wusste, hielt ich mich zurück. Er hatte Spaß, so viel wusste ich; ich hatte Spaß, selbst wenn wir stritten. Irgendwann wäre das Schachspiel vorbei, und dann würde sich zeigen, wo wir standen.

Er nahm meine Hand. Natürlich war es meine linke Hand, weil er am Steuer saß, weshalb ich meinen Arm kaum heben konnte. Er schob seine Hand zärtlich unter meine und verband seine Finger mit meinen. Eins stand fest, er war ein extrem geschickter Stratege.

 

Dieser Abend war völlig anders als die vorangegangenen. Er machte die Wäsche, seine und meine, und beeindruckte mich, indem er nichts verfärbte. Er mähte den Rasen, obwohl es schon dunkel war, als er dazu kam. Sein Traktor-Rasenmäher hatte Scheinwerfer, und er hatte zusätzlich die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Ich fühlte mich wie eine Elster, der Mister Elster ein Nest mit lauter Glitzersachen baut, um ihr vorzuführen, was für ein guter Familienvater er ist, bevor er später davor auf und ab marschiert, um Miss Elster hineinzulocken. Heute trat Wyatt der Hausmann in Aktion. Allerdings wirkte sein Garten sowieso gepflegt, um der Wahrheit die Ehre zu geben; es war nicht zu übersehen, dass er regelmäßig den Rasen mähte.

Erst um zehn kam er wieder ins Haus, ohne Hemd, schmutzig und mit schweißglänzender Brust, weil es auch nach Sonnenuntergang noch heiß draußen war. Er trat an die Spüle und leerte ein großes Glas Wasser. Sein Adamsapfel hüpfte unter den tiefen Schlucken auf und ab. Am liebsten hätte ich ihn von hinten angesprungen und zu Boden geworfen, aber das hätte mein verflixter Arm nicht mitgemacht.

Schließlich stellte er das Glas in der Spüle ab und sah mich an. »Gehen wir duschen?«

Vielleicht war es ein taktischer Fehler, aber an diesem Abend hatte ich keine Lust, mich lange zu zieren – obwohl ich mich bei ihm nie lange geziert hatte. Trotzdem hatte ich es versucht, ehrlich. Heute wollte ich es nicht einmal versuchen. »Können wir heute Abend auch meine Haare waschen?«

»Klar.«

»Das Fönen wird nicht lange dauern.«

»Egal.« Er ließ ein genüssliches Lächeln aufleuchten. »Ich genieße so lange die Landschaft.«

Man braucht kein Genie zu sein, um sich auszurechnen, wie die nächste Stunde ablief. Wir waren beide nass und glitschig und geil, und ich pfiff auf jede Selbstbeherrschung – wenigstens dieses eine Mal – und warf mich ihm an den Hals. Wir fingen in der Dusche an – danach war uns eine schwer schnaufende Atempause vergönnt, während er meine Haare fönte – und endeten im Bett.

Irgendwann wälzte er sich mit einem Stöhnen von mir runter, keuchend und mit einem Arm über den Augen. Ich keuchte ebenfalls und war vor Lust und Erschöpfung fast gelähmt. Fast. Ich brachte noch genug Energie auf, um auf ihn zu krabbeln, mich auf seinem Bauch auszustrecken und ihn auf Kinn, Mund, Hals und andere Stellen in Reichweite zu küssen.

»Erbarmen«, sagte er schwach.

»Du kapitulierst, bevor du auch nur weißt, was ich will?«

»Egal was, ich kann nicht mehr. Ich bin tot.« Seine Hand kam auf meinem nackten Po zu liegen, tätschelte ihn müde und plumpste dann schlaff aufs Bett zurück.

»Ich spüre ein postkoitales Glühen. Ich will kuscheln.«

»Kuscheln könnte ich noch hinkriegen.« Seine Lippen zuckten zu einem kurzen Lächeln hoch. »Vielleicht.«

»Bleib einfach liegen und überlass alles Weitere mir.«

»Warum hast du das nicht vor zehn Minuten gesagt?«

»Sehe ich so blöd aus?« Ich wühlte mein Gesicht in seine Nackenbeuge und seufzte wohlig.

»Nein, ich hab dir doch gesagt, du siehst aus wie ein Waffeleis.«

Und genauso hatte er mich abgeleckt. Bei der Erinnerung überlief mich eine Gänsehaut. Hätte ich gestanden, wären meine Knie eingeknickt. Seine Knie waren auch eingeknickt, entsann ich mich zufrieden. Nicht nur er konnte diesen Trumpf ausspielen.

Ich lächelte und spielte mit dem Gedanken, diese Episode zu wiederholen. Aber nicht sofort. Später vielleicht. Ich gähnte, und mitten unter dem Kuscheln gingen die Lichter aus.

Als wir am nächsten Morgen frühstückten, rief meine Mom an. Das erfuhr ich aber erst hinterher. Wyatt ging ans Telefon, sagte zweimal: »Ja, Madam«, dann: »Sieben« und noch einmal »Ja, Madam«, bevor er wieder auflegte.

»Deine Mutter?«, fragte ich, als er wieder am Tisch saß.

»Nein, deine.«

»Meine Mutter? Was wollte sie denn? Warum hast du sie nicht mit mir sprechen lassen?«

»Sie wollte nicht mit dir sprechen. Sie hat uns für heute Abend um sieben zum Essen eingeladen. Ich habe zugesagt.«

»Ach ja? Und wenn ich arbeiten muss?«

»Um dich zu zitieren: ›Sehe ich so blöd aus?‹ Ich werde auf jeden Fall hingehen. Und du wirst ebenfalls kommen, selbst wenn ich dich schreiend und zeternd aus dem Great Bods zerren muss. Vereinbare mit Lynn, dass sie bis zum Abend bleibt.«

Ich verdrehte die Augen, was ihm ein gehässiges »Was denn?« entlockte.

»Bevor du mir Befehle erteilst, Lieutenant, solltest du lieber fragen, welche Vereinbarungen ich bereits getroffen habe.«

»Okay, welche Vereinbarungen hast du bereits getroffen?«

Was für ein Klugscheißer. »Lynn hat heute Morgen geöffnet und geht heim, sobald ich komme, während ich die Tagesschicht übernehme. Dafür kommt sie um fünf noch mal und bleibt bis zum Schluss. Auf diese Weise arbeitet sie heute Morgen drei Stunden und heute Abend vier Stunden. So werden wir es halten, bis ich meinen Arm wieder gebrauchen kann, weil es morgens und abends Sachen zu tun gibt, die man einarmig nur schwer erledigen kann. Deine Befehle waren also überflüssig.«

»Geschickt gemacht.« Er zwinkerte mir zu.

Es war kein großes Geheimnis, warum Mom uns eingeladen hatte. Zum einen wollte sie ihre verletzte Erstgeborene ein wenig verhätscheln, zum anderen wollte sie Wyatt kennen lernen. Bestimmt war sie vor Neugier halb verrückt, und dass sie warten musste, weil er mich bei sich versteckt hatte, hatte die Sache gewiss nicht einfacher gemacht. Mom kann einiges an Frustrationen wegstecken – aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Alles, was darüber hinausgeht, bringt sie zur Explosion.

Ich freute mich wie ein Schneekönig auf den Tag. Erst würde ich mein Auto wiederbekommen – endlich! – und damit in die Arbeit fahren, und nach der Arbeit würde ich in meine eigene Wohnung zurückkehren. Ich hatte meine Sachen zusammengepackt, ohne dass Wyatt protestiert hätte, auch wenn er offenkundig nicht begeistert war. Heute Morgen hatte ich mich schon selbst anziehen können, den BH inklusive. Zwar konnte ich den Arm immer noch nicht so weit nach hinten biegen, den Verschluss hinter meinem Rücken einhaken zu können, aber ich hatte den Verschluss einfach nach vorn gedreht, ihn eingehakt und dann wieder nach hinten gezogen, bevor ich zum Schluss die Arme durch die Träger geschoben hatte. Das sah zwar nicht so sexy aus wie sonst, aber es funktionierte.

»Geh es leicht an«, riet er mir auf der Fahrt zu meiner Wohnung, wo ich mein Auto holen wollte. »Vielleicht sollten wir noch bei einer Apotheke anhalten und dir eine Schlinge besorgen, damit du nicht vergisst, deinen Arm zu schonen.«

»Ich werde das schon nicht vergessen«, meinte ich trocken. »Glaub mir.« Sobald ich eine unbedachte Bewegung machte, erinnerte mich der zusammengenähte Muskel augenblicklich daran.

Ein paar Minuten später meinte er: »Es gefällt mir nicht, dass du nicht bei mir bist.«

»Aber du wusstest, dass ich nur vorübergehend bei dir wohnen würde.«

»Es bräuchte nicht vorübergehend zu sein. Du könntest zu mir ziehen.«

»O nein«, erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. »Das wäre keine gute Idee.«

»Warum nicht?«

»Darum.«

»Das ist natürlich einleuchtend«, meinte er sarkastisch. »Und warum darum nicht?«

»Aus verschiedenen Gründen. Das wäre viel zu überstürzt. Ich denke, wir sollten etwas Abstand gewinnen und uns etwas Luft zum Atmen lassen.«

»Du machst Witze. Du fändest es nach den vergangenen fünf Tagen überstürzt, bei mir einzuziehen?«

»Also, sieh dir doch mal an, was alles passiert ist. Nichts war normal, seit letztem Donnerstagabend war nicht eine einzige Minute so wie sonst. Wir waren in einer Ausnahmesituation, die sich jetzt aufgelöst hat. Jetzt können wir unser richtiges Leben wieder aufnehmen und abwarten, wie sich die Dinge unter normalen Bedingungen entwickeln.«

Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Mir selbst war auch nicht wohl dabei, aber ich wusste, dass es ein Riesenfehler gewesen wäre, sofort bei ihm einzuziehen. Ich persönlich bin der Ansicht, dass eine Frau erst mit einem Mann zusammenwohnen sollte, wenn sie mit ihm verheiratet ist. Ich schätze, irgendwo da draußen gibt es tatsächlich ein paar Supermänner, die es nicht ausnützen würden, eine Köchin und Putzfrau in der Wohnung zu haben, aber welche Frau weiß nicht, wie sich solche Arrangements normalerweise entwickeln? O nein. Ohne mich.

Ich wurde von einer Frau erzogen, die ihren eigenen Wert kennt, und ihre Töchter sind fest davon überzeugt, dass eine Frau ein besseres Leben hat, wenn der Mann ihr Herz nur unter großen Mühen errungen hat. Es liegt in der menschlichen Natur, dass man sich um Dinge, die man nur unter großen Mühen errungen hat, besser kümmert, das gilt für Autos wie für Frauen. Meiner Meinung nach hatte sich Wyatt bei weitem noch nicht genug bemüht, um das wettzumachen, was er mir vor zwei Jahren angetan hatte. Ja, ich war deswegen immer noch sauer auf ihn. Ein wenig war mein Groll zwar abgeflaut, aber längst nicht genug, um mit ihm zusammenzuziehen, selbst wenn ich nicht geglaubt hätte, dass das im Allgemeinen keine gute Idee für eine Frau ist.

Wir kamen zu meiner Wohnung, und dort stand, wie es sich gehörte, mein süßes kleines weißes Cabrio unter dem Carport. Wyatt hielt dahinter an und holte dann meine beiden Taschen vom Rücksitz. Er wirkte immer noch vergrätzt, widersprach mir aber nicht. Jedenfalls im Moment nicht. Mir war klar, dass das letzte Wort noch nicht gefallen war, aber im Moment hielt er sich, wie von mir gewünscht, zurück. Wahrscheinlich plante er schon den nächsten hinterhältigen Überfall.

Ich schloss den Seiteneingang auf und ging ins Haus; das Piepsen der Alarmanlage sagte mir, dass Siana sie tatsächlich eingeschaltet hatte, als sie meine Sachen geholt hatte. Ich schaltete das System ab und blieb dann in der Küche stehen, auf das Schönste und Angenehmste umgeben von Meinem Zeug, das ich schrecklich vermisst hatte. ›Mein Zeug‹ ist ein zentraler Begriff im Leben jeder Frau.

Nur für den Fall, dass er nicht alle Türen öffnen und sich selbst schlau machen konnte, klärte ich Wyatt darüber auf, in welchem Zimmer ich oben schlief. Er war zwar schon in meiner Wohnung, aber noch nie im Obergeschoss gewesen. Unsere leidenschaftliche Szene hatte sich auf meiner Couch abgespielt, die inzwischen neu aufgepolstert worden war, nicht wegen irgendwelcher Flecken oder so, denn so weit war unsere leidenschaftliche Szene ja nicht gegangen, sondern weil das meine Art war, alle Erinnerungen an einen Mann zu tilgen. Ich hatte auch das Mobiliar verändert und die Wände neu streichen lassen. In meinem Wohnzimmer sah nichts mehr so aus wie damals.

Das Lämpchen auf meinem Anrufbeantworter blinkte. Ich beugte mich darüber und sah, dass siebenundzwanzig Nachrichten eingegangen waren – nicht übermäßig viel, wenn man berücksichtigte, wie lange ich weg gewesen war und dass mir am Tag meiner Abreise die örtliche Presse auf den Fersen gewesen war. Ich drückte auf Wiedergabe und löschte jede Nachricht, sobald feststand, dass sie von einem Reporter stammte. Auch einige persönliche Nachrichten waren darunter, einige Angestellte wollten wissen, wann das Great Bods wieder öffnen würde, was sich aber erledigt hatte, nachdem Siana am Freitagvormittag einen Rundruf gestartet hatte und das Studio inzwischen wieder offen war.

Dann quäkte eine vertraute Stimme aus der Maschine, und ich erstarrte.

»Blair … ich bin’s, Jason. Nimm den Hörer ab, wenn du zu Hause bist.« Es blieb kurz still, dann fuhr er fort: »Ich habe heute Morgen in den Nachrichten gehört, dass jemand auf dich geschossen hat. Schätzchen, das ist wirklich furchtbar. Zum Glück sagten sie auch, dass du gleich behandelt und wieder entlassen worden bist, deshalb nehme ich an, dass es dich nicht allzu schlimm getroffen hat. Trotzdem mache ich mir Sorgen um dich und wollte wissen, wie es dir geht. Ruf doch mal an!«

Hinter mir hörte ich Wyatt bedrohlich »Schätzchen?« grollen.

»Schätzchen?«, wiederholte ich vollkommen durcheinander.

»Ich dachte, du hättest mir erzählt, dass du ihn seit eurer Scheidung nicht mehr gesehen hast.«

»Habe ich auch nicht.« Ich drehte mich um und sah ihn verwirrt an. »Ausgenommen das eine Mal, als ich ihm und seiner neuen Frau beim Shopping im Einkaufszentrum begegnet bin, aber nachdem wir damals kein Wort gewechselt haben, zählt das wohl nicht.«

»Warum nennt er dich dann Schätzchen? Versucht er die Geschichte mit dir wieder aufzuwärmen?«

»Keine Ahnung. Du hast die Nachricht selbst gehört. Und Schätzchen hat er mich schon genannt, als wir noch verheiratet waren. Vielleicht ist er unterbewusst in die Ausdrucksweise von damals zurückgefallen.«

Er schnaubte abfällig. »Na logisch. Nach fünf Jahren?«

»Ich habe keine Ahnung, was ihn reitet. Er weiß, dass ich nie wieder mit ihm zusammenkommen werde, Punkt, und ich habe keine Idee, wieso er angerufen hat. Es sei denn … So wie ich Jason kenne, wollte er etwas für sein Politikerimage tun. Du weißt schon: ›Der Kandidat pflegt noch heute freundschaftlichen Umgang mit seiner Exfrau und rief sie an, nachdem sie von einem Unbekannten angeschossen wurde.‹ So in der Art. Ein kleiner Kniff, damit ich sagen würde, ja, mein Exmann hat angerufen, falls zufällig ein Reporter danach fragen sollte. So was sähe ihm ähnlich; er denkt ständig an den nächsten Wahlkampf.« Ich drückte auf Löschen und radierte seine widerliche Stimme von meinem Anrufbeantworter.

Wyatt legte die Hände auf meine Taille und zog mich an seine Brust. »Wage es nicht, ihn zurückzurufen. Diesen Drecksack.« Seine grünen Augen waren schmal vor Groll, und sein Gesicht zeigte die steinerne Miene eines Mannes, der entschlossen ist, sein Territorium zu verteidigen.

»Das hatte ich auch nicht vor.« Dies war der Augenblick, Milde zu zeigen und ihn nicht noch aufzustacheln, denn ich konnte mir vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn seine Ex plötzlich auftauchte und eine derartige Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterließe. Ich legte die Arme um ihn und schmiegte meinen Kopf an seine Schulter. »Es ist mir völlig egal, was er zu sagen hat und was er empfindet, und wenn er stirbt, werde ich nicht auf seine Beerdigung gehen. Ich werde ihm nicht mal einen Kranz schicken. Diesem Drecksack.«

Er rieb mit dem Kinn über meine Schläfe. »Wenn er noch mal anruft, kriegt er Besuch von mir.«

»Genau«, sagte ich. »Der Drecksack.«

Er lachte. »Es reicht, du kannst aufhören mit den Drecksäcken. Ich hab’s kapiert.« Er küsste mich und tätschelte meinen Po.

»Gut«, antwortete ich fröhlich. »Darf ich jetzt zur Arbeit fahren?«

Wir gingen beide nach draußen, stiegen in unser jeweiliges Auto – ich ermahnte mich, auf dem Weg nach draußen die Alarmanlage wieder einzuschalten –, und Wyatt setzte rückwärts auf die Straße, wo er so weit zurückfuhr, dass ich vor ihm einschwenken konnte. Ich war neugierig, ob er mir bis zum Great Bods hinterherfahren würde, vielleicht um sicherzugehen, dass mir nirgendwo ein Ex-Ehemann auflauerte, der nur darauf wartete, mit mir zu reden.

Ich setzte ebenfalls rückwärts aus der Auffahrt und stellte dann die Automatik auf Fahren. Schnurrend beschleunigte der Motor, und Wyatt beschleunigte hinter mir.

Etwa hundert Meter weiter mündet die Straße bei einem Stoppschild in eine belebte vierspurige Hauptstraße. Ich stieg auf die Bremse, doch das Pedal knallte ohne jeden Widerstand auf das Bodenblech. Ohne auch nur geringfügig langsamer zu werden segelte ich an dem Stoppschild vorbei in den dichten Vormittagsverkehr.