9
Mitten in der Nacht wachte ich fröstelnd und orientierungslos auf. Dass mir kalt war, war keine Überraschung, weil Wyatt den Thermostat der im Fenster eingelassenen Klimaanlage auf »Frost« gestellt hatte. Ich musste geträumt haben, denn mich hatte ein lauter, wie ein Schuss klingender Knall aus dem Schlaf gerissen, und im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war.
Möglicherweise hatte ich einen Laut ausgestoßen oder war erschrocken zusammengezuckt. Wyatt fragte hellwach: »Alles okay?«, saß im selben Moment aufrecht im Bett und holte mich mit seiner Frage in die Wirklichkeit zurück. Ich sah ihn in der Dunkelheit an, konnte aber nur seine Silhouette vor dem etwas helleren Fenster ausmachen. Vorsichtig streckte ich die Hand aus, um ihn zu berühren, und meine Finger landeten auf seinem warmen Bauch, dicht über dem Laken, das sich über seinen Hüften zusammengeschoben hatte. Die Berührung war ein Reflex, das instinktive Bedürfnis nach menschlicher Nähe.
»Mir ist kalt«, sagte ich leise, woraufhin er sich hinlegte, mich an seine Seite zog und die Decke um meine Schultern feststeckte. Ich legte den Kopf auf seine Schulter, ließ die Hand auf seiner Brust liegen und mich von der Wärme und Kraft seines Körpers, von seiner spürbaren Anwesenheit trösten. Ich hatte nicht mit ihm schlafen wollen – in einem Bett schlafen, meine ich, weil ich immer noch krampfhaft bemüht war, ihn auf Abstand zu halten –, war aber mitten im Streit eingeschlafen, und er hatte das offenbar ausgenutzt und war ganz einfach geblieben. Ich argwöhnte, dass er es genau so geplant hatte: erst mir beim Sex alle Kräfte rauben, damit ich nicht wach bleiben konnte. Aber jetzt war ich froh, dass er neben mir lag, wo ich mich an ihn kuscheln und die Kälte von ihm vertreiben lassen konnte. Genau das hatte ich damals ersehnt, diese Nähe, diese Vertrautheit, diese Verbundenheit. Es war wahrhaft beängstigend, wie zufrieden ich mich in seiner Umarmung fühlte.
»Was hast du denn geträumt?«, fragte er und rieb dabei langsam und beruhigend über meinen Rücken. Seine tiefe Stimme war noch rau vom Schlaf, und das süße Glück, in seinem Arm zu liegen, legte sich wie eine zweite, wärmende Decke über mich.
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin aufgewacht und war im ersten Moment völlig verängstigt, weil ich mich nicht auskannte und mir eiskalt war. Habe ich irgendwas geredet?«
»Nein, du hast nur einen Angstlaut von dir gegeben, so als hätte dir irgendwas einen Schreck eingejagt.«
»Ich dachte, ich hätte einen Knall gehört, aber vielleicht habe ich den nur geträumt. Wenn ich überhaupt geträumt habe.«
»Ich habe nichts gehört. Was für einen Knall denn?«
»Wie einen Schuss.«
»Nein, geknallt hat hier bestimmt nichts.« Er klang absolut überzeugt. Wahrscheinlich war er als Bulle auf solche Geräusche geeicht.
»Dann habe ich wohl von dem Mord geträumt. Ich weiß es nicht mehr.« Gähnend kuschelte ich mich an ihn, und genau in diesem Moment wehte vor meinem inneren Auge ein Bruchstück des Traumes vorbei. Ich hatte nicht von dem Mord an Nicole geträumt, sondern von einem Mord an mir, weil ich, bis die Polizisten Nicoles Leiche gefunden hatten, geglaubt hatte, die Schüsse hätten mir gegolten. Zehn Minuten lang, bis zum Eintreffen der Polizei, hatte ich Todesangst ausgestanden.
»Warte, ich weiß doch noch was. Ich habe geträumt, jemand hätte auf mich geschossen, weil ich das an dem Abend tatsächlich geglaubt hatte. Wahrscheinlich hat mein Unterbewusstsein das Erlebnis noch nicht verarbeitet.«
Seine Arme schlossen sich fester um meinen Körper. »Was hast du gemacht? Gleich nach den Schüssen?«
»Ich bin in Deckung geblieben und im Watschelgang zur Tür und zurück ins Studio geflohen, wo ich die Tür verriegelt und die Polizei gerufen habe.«
»Braves Mädchen. Das war genau richtig.«
»Eines habe ich vergessen. Ich bin in Panik geraten. Ich hatte Todesangst.«
»Was nur beweist, dass du nicht blöd bist.«
»Und es hat auch bewiesen, dass ich Nicole nicht selbst erschossen habe, weil ich nicht in den Regen rausgelaufen bin, um nach ihr zu sehen. Ich war total trocken. Trotzdem habe ich die Polizisten gebeten, einen Schmauchspurentest machen zu lassen, weil ich so müde war und nicht zur Vernehmung weggebracht werden wollte, was aber vergebene Mühe war, wie sich herausstellte, weil du mich trotzdem aufs Revier schleifen musstest.« Das hatte ich ihm immer noch nicht verziehen.
»Ja. Ich habe von dem ›Dingsda-Test‹ gehört.« Er sagte das ganz trocken. Offenbar glaubte er, ich hätte das blonde Blödchen gespielt, um den Verdacht der Detectives von mir abzulenken. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er auf diese Idee kam.
»Mir ist der Name nicht eingefallen«, erklärte ich unschuldig. »Ich war total durcheinander.« Das war zumindest halb wahr.
»Du Ärmste.«
Er glaubte mir immer noch nicht, doch ich wollte nicht weiter auf dieser Sache herumreiten und sagte: »Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet heute geträumt habe, dass jemand auf mich schießt. Warum nicht schon vorgestern? Da war ich viel aufgewühlter.«
»Aber auch völlig übernächtigt. Wahrscheinlich hast du irgendwas geträumt und dich nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnert.«
»Und was ist mit gestern Nacht? Da habe ich auch nichts geträumt.«
»Da war es wohl genauso. Du hattest eine kurze Nacht und eine lange Fahrt hinter dir. Du warst todmüde.«
Ich schnaubte. »Pah! Und du glaubst, ich war heute Nacht nicht müde?«
»Anders müde.« Das hörte sich schon fast heiter an. »Vorgestern und gestern hat dir der Stress die Kräfte geraubt. Heute das Vergnügen.«
Daran war nicht zu rütteln. Selbst die Wortgefechte mit ihm waren bis zu einem gewissen Grad vergnüglich, jedenfalls schien ich sie zu genießen. Natürlich machte es mich nervös, dass er jede Schlacht zu gewinnen schien, aber trotzdem machten mir die Kämpfe Spaß. Ich könnte mir vorstellen, dass Motten glücklich sind, wenn sie ins Feuer fliegen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, falls Wyatt mir noch einmal so gemein die Flügel verbrannte. Ich war ihm näher als je zuvor, was sich schon daran zeigte, dass ich mit ihm in einem Bett lag.
Ich zwickte ihn. Eben darum.
Er zuckte. »Au! Wofür war das?«
»Dafür, dass du mich nicht mal umworben hast, bevor du mich ins Bett schleifen durftest«, antwortete ich hoheitsvoll. »Dafür, dass du mir das Gefühl gibst, ich sei einfach rumzukriegen.«
»Honey, wenn du eines nicht bist, dann einfach. In keiner Beziehung. Glaub mir.« Hörte ich da nicht schon wieder einen ironischen Unterton?
»Bin ich doch.« Ich schaffte es, meine Stimme mit ein paar Tränen zu würzen. Hey, wenn ich die Schlacht schon nicht gewinnen kann, muss ich ihm den Sieg wenigstens möglichst schwer machen, oder?
»Weinst du?« Er klang eindeutig misstrauisch.
»Nein.« Das war die Wahrheit. Konnte ich was dafür, dass meine Stimme leicht bebte?
Seine große Hand fuhr über mein Gesicht. »Stimmt.«
»Das habe ich doch gesagt!« Verflucht noch mal, konnte er mir nicht zur Abwechslung einfach glauben? Das mit dem Vertrauen war offenbar ein beiderseitiges Problem. Wie sollte ich da je einen Fuß auf den Boden bekommen?
»Ja, aber du hast diese kleine Schuldgefühlstour abgezogen. Du weißt verdammt gut und genau, dass ein schlichtes ›Nein‹ genügt hätte, wenn du wirklich nicht gewollt hättest.«
»Das hast du mit deiner Halsküsserei sabotiert. Das muss aufhören.«
»Was willst du dagegen unternehmen, dir den Hals abhacken?«
»Heißt das, du wirst mir nicht versprechen, mich nicht mehr auf den Hals zu küssen?«
»Machst du Witze? Komme ich dir vor wie jemand, der sich selbst das Wasser abgräbt?« Er klang verschlafen, aber fröhlich.
»Ich meine es ernst, ich will nicht mehr mit dir schlafen. Ich glaube, es ist falsch, so früh damit anzufangen. Wir hätten abwarten sollen, ob wir eine Beziehung zum Laufen kriegen.«
»›Zum Laufen kriegen‹?«, wiederholte er ungläubig. »Wenn du mich fragst, sind wir schon fast am Ziel.«
»Da täuschst du dich. Wir sind noch an der Startlinie. Schließlich hatten wir noch kein einziges Date. Diesmal, meine ich. Die von damals sind verjährt.«
»Wir waren heute zusammen essen.«
»Das zählt auch nicht. Erst hast du mich mit physischer Gewalt gezwungen und anschließend mit Drohungen eingeschüchtert.«
Er schnaubte. »Als hätte dich das daran gehindert, dir die Seele aus dem Leib zu schreien, wenn du nicht beschlossen hättest, dass du hungrig warst und ich die Rechnung übernehmen könnte.«
Womit er nicht ganz Unrecht hatte. Außerdem hatte ich nie wirklich Angst gehabt, dass er mir ein Haar krümmen könnte. In seiner Nähe fühlte ich mich geborgen und erstaunlich sicher – außer vor ihm natürlich.
»Also das ist der Deal: Ich gehe mit dir aus, so als würden wir ganz von vorn anfangen. Das willst du doch, oder? Eine neue Chance? Aber das bedeutet auch, dass wir nicht miteinander schlafen, weil das nur alles durcheinander bringt.«
»Blödsinn.«
»Na schön, es bringt mich durcheinander. Immerhin ist es möglich, dass wir uns gar nicht so toll finden, wenn ich dich erst besser kenne und du mich kennen gelernt hast. Oder dass du mich längst nicht so magst, wie ich dich mag, weil mich verfrühter Sex wie gesagt total verwirrt. Vielleicht ändert es nichts für einen Mann, wenn er mit einer Frau schläft, aber für uns Frauen ändert das alles. Du könntest mir eine Menge möglichen Liebeskummer ersparen, wenn du dich ein wenig zurückhalten und mir Zeit lassen würdest.«
»Du willst, dass ich das Stalltor schließe, nachdem das Pferd längst das Weite gesucht hat?«
»Dann fang es wieder ein und steck es zurück in die Büx – ich meine, in die Box.«
»Das ist deine Sichtweise. So wie ich es sehe, widerspräche es jedem Instinkt, nicht so oft wie möglich mit dir zu schlafen, weil ein Mann nur auf diese Weise sicherstellen kann, dass eine Frau ihm gehört.«
Ich hörte ihm an, dass er gereizt war. Ich wünschte mir halb, wir hätten das Licht angemacht, damit ich sein Gesicht sehen konnte, aber dann hätte er auch mein Gesicht sehen können, deshalb ließ ich die Lampe lieber aus. »Ich wäre ja deiner Meinung – aber dazu müssten wir bereits eine Beziehung aufgebaut haben.«
»So wie die Dinge stehen, würde ich meinen, dass wir eine Beziehung haben.«
Gut, wir lagen nackt zusammen im Bett. Und wenn schon.
»Da irrst du dich. Wir fühlen uns körperlich angezogen, aber wir kennen uns kaum. Was ist zum Beispiel meine Lieblingsfarbe?«
»Scheiße, ich war drei Jahre verheiratet und weiß bis heute nicht, was ihre Lieblingsfarbe war. Männer interessieren sich nicht für Farben.«
»Man kann auch etwas zur Kenntnis nehmen, ohne dass man sich dafür interessiert.« Ich überhörte geflissentlich, dass er verheiratet gewesen war. Natürlich hatte ich von seiner ersten Ehe gewusst, weil seine Mutter mir wohl davon erzählen musste, ehe sie uns miteinander bekannt gemacht hatte, aber der Gedanke daran gefiel mir genauso wenig wie der Gedanke an meine eigene gescheiterte Ehe. In Wyatts Fall plagte mich allerdings die nackte Eifersucht.
»Rosa«, tippte er.
»Gar nicht schlecht, aber kein Treffer. Das ist meine zweitliebste Farbe.«
»Herr im Himmel, du hast mehr als eine Lieblingsfarbe?«
»Krickente.«
»Krickenten gibt’s auch als Farbe? Ich dachte, das sind Wasservögel.«
»Die Farbe wurde nach der Ente benannt. Nehme ich an. Jedenfalls wäre dir, wenn wir mehr Zeit miteinander verbracht hätten und uns wirklich kennen gelernt hätten, irgendwann aufgefallen, dass ich viele Sachen in Krickente trage, und du hättest meine Lieblingsfarbe vielleicht erraten. Das konntest du aber nicht, weil wir noch nicht viel Zeit miteinander verbracht haben.«
»Das lässt sich ändern. Wir verbringen einfach mehr Zeit miteinander.«
»Einverstanden. Aber ohne miteinander zu schlafen.«
»Ich habe das Gefühl, mit dem Kopf gegen eine Betonwand zu schlagen«, erklärte er der Zimmerdecke.
»Ich kenne das Gefühl.« Er raubte mir noch den letzten Nerv. »Mir geht es um Folgendes: Ich habe Angst, dass du mir das Herz brechen könntest, wenn ich dich zu nahe an mich heranlasse. Ich habe Angst, dass ich mich noch mal in dich verlieben könnte und du mich wieder sitzen lässt. Ich will sicher sein, dass du zu mir stehst, falls ich mich wirklich in dich verlieben sollte. Wie soll ich das allein dadurch wissen, dass du mit mir schläfst, wenn uns Frauen der Sex so viel bedeutet und ihr Männer nur euren Druck loswerden wollt? Sex ist für uns so eine chemische Geschichte, er löst Kurzschlüsse in unserem Kopf aus, er setzt uns unter Drogen, und deshalb merken wir es erst viel zu spät, wenn wir mit einer Ratte in Menschengestalt vögeln.«
Es blieb lange still; dann sagte er: »Und wenn ich schon längst in dich verliebt bin und den Sex dazu benutze, um dir meine Liebe zu beweisen und um dir näher zu kommen?«
»Wenn du ›verknallt‹ gesagt hättest, hätte ich dir vielleicht geglaubt. Ich wiederhole, du kennst mich nicht und kannst mich deshalb nicht wirklich lieben. Was uns verbindet, ist Geilheit, nicht Liebe. Noch nicht, und vielleicht niemals.«
Die nächste lange Pause. »Ich verstehe, was du mir sagen willst. Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich verstehe dich. Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Dass ich den Sex dazu benutze, um dir zu zeigen, wie viel du mir bedeutest?«
»Ja«, sagte ich misstrauisch. Worauf wollte er hinaus? »Und ich bin nicht deiner Meinung.«
»Dann haben wir ein Patt. Du willst keinen Sex, ich will welchen. Gut, machen wir einen Deal: Jedes Mal, wenn ich was von dir will, brauchst du nur ›Nein‹ zu sagen, und ich lasse dich in Frieden, und zwar bedingungslos. Ich werde mich zurückziehen, selbst wenn ich nackt auf dir liege und ihn schon halb drin habe.«
»Das ist unfair!«, heulte ich auf. »Wie oft habe ich bisher ›Nein‹ sagen können?«
»Vor zwei Jahren stand es zwei zu null für dich. Diesmal sind wir bei vier zu null für mich.«
»Siehst du? Du bist doppelt so gut wie ich. Ich brauche einen Vorsprung.«
»Du willst allen Ernstes einen Vorsprung beim Sex?«
»Quatsch! Die Bedingung ist, dass du meinen Hals nicht berühren darfst.«
»O nein. Deinen Hals wirst du auf keinen Fall aus der Schlinge ziehen.« Um seinen Worten Nachdruck zu geben, zog er mich auf seinen Körper, drückte, ehe ich ihn daran hindern konnte, sein Gesicht in meine Nackenbeuge und folterte mich mit zahllosen kleinen Bissen. Blitze der Lust schossen durch meinen Körper, bis mir fast schwarz vor Augen wurde.
Er hatte also keinerlei Skrupel, mich zu bescheißen.
Eine Ewigkeit später verharrte er selbstgefällig und auf den Armen abgestützt über mir, während wir beide verschwitzt aufeinander lagen und unsere Lungen wie wild pumpten: »Damit steht es fünf zu null.«
Ich hasse es, wenn ein Mann selbstgefällig wird! Wer nicht? Vor allem, wenn er vorher beschissen hat.
»Wir fliegen heim«, bestimmte er, als wir nach dem Frühstück die Koffer packten.
»Aber mein Pick-up …«
»Den geben wir hier zurück. Mein Auto steht zu Hause am Flughafen. Ich bringe dich dann zu deinem Auto.«
Endlich würde ich mein Auto zurückbekommen! Insoweit war es ein guter Plan. Aber ich fliege wirklich ungern; ich tue es, wenn es sein muss, aber ich fahre viel lieber Auto. »Ich fliege nicht gern«, sagte ich.
Er richtete sich auf und sah mich fassungslos an. »Sag bloß, du hast Angst.«
»Nicht direkt Angst, wenn du damit meinst, dass ich Panikattacken bekomme oder so, aber ich mag es nicht. Einmal flog unser Cheerleading-Team zu einem Spiel an die Westküste, und dabei kamen wir in Turbulenzen und sackten so weit ab, dass ich überzeugt war, der Pilot würde das Flugzeug nie wieder hochziehen können. Seither macht mich das Fliegen nervös.«
Er betrachtete mich ungefähr eine Minute lang und sagte dann: »Na gut, dann fahren wir eben. Fahr mir hinterher zum Flughafen, damit ich meinen Mietwagen abgeben kann.«
Ich war von den Socken! Eine Minute lang hatte ich fest damit gerechnet, in Handschellen in ein Flugzeug verfrachtet zu werden; warum sollte er mir glauben, nachdem ich ihn in den letzten Tagen so oft angeschwindelt hatte? Aber offenbar verfügte er, genau wie Mom, über einen eingebauten Blair-Lügendetektor und hatte erkannt, dass ich höchstens ein wenig untertrieben hatte, was meine Angst vorm Fliegen betraf. Nur ein wenig, weil ich wirklich keine Panikattacken bekomme oder so.
Also folgte ich ihm zum Flughafen, wo er seinen Mietwagen abgab, und wartete dann am Steuer, während er seine Tasche neben meine auf die Ladefläche warf. Er überraschte mich gleich noch mal, indem er sich auf den Beifahrersitz setzte und anschnallte, ohne auch nur zu fragen, ob er fahren sollte. Nur ein Mann, der sich seiner Männlichkeit sicher ist, lässt eine Frau einen Pick-up fahren … oder aber er seifte mich langsam und heimlich ein. Egal. Es funktionierte. Ich war auf der langen Heimfahrt schon deutlich milder gestimmt.
Erst am Spätnachmittag erreichten wir unseren kleinen Lokalflughafen, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Ich gab den Mietwagen ab, und wir luden das Gepäck in seinen Crown Vic um; dann fuhr er mich zum Great Bods, wo ich meinen Wagen abholen wollte.
Zu meinem großen Verdruss war das Grundstück in weiten Bereichen immer noch mit gelbem Polizei-Absperrband umzäunt. Etwa die Hälfte des vorderen Parkplatzes war abgetrennt, dazu das gesamte Gebäude und der komplette hintere Parkplatz. Er hielt auf dem geöffneten Abschnitt des Parkplatzes an. »Wann kann ich wieder öffnen?«, fragte ich und drückte ihm die Autoschlüssel in die Hand.
»Ich werde veranlassen, dass der Tatort möglichst morgen wieder freigegeben wird. Dann könntest du am Dienstag wieder aufmachen – aber ich kann dir nichts versprechen.«
Während ich neben seinem Auto stehen blieb, ging er um das Gebäude herum und kehrte eine Minute später am Steuer meines Mercedes zurück. Er lenkte das Cabrio auf die andere Seite des Crown Vic, der Straße zu, und hielt direkt neben mir an. Bei laufendem Motor stieg er aus, verfrachtete meine Reisetasche auf den schmalen Rücksitz und trat dann einen halben Schritt zurück, sodass ich mich an ihm vorbeiquetschen musste, um auf den Fahrersitz zu kommen. Dabei fing er mich am Arm ab, und ich spürte seine warme Hand auf meiner Haut.
»Ich muss heute Abend arbeiten, ein paar Akten hin und her schieben. Bleibst du heute bei deinen Eltern?«
Zwei Tage lang hatte er mich derart auf Trab gehalten, dass ich keine Zeit gehabt hatte, Angst zu haben, weil ich als einzige Zeugin für Nicoles Mord benannt worden war. »Ich will nichts Dummes tun, aber hältst du es wirklich für wahrscheinlich, dass dieser Typ versuchen wird, die Zeugin, also mich, zum Schweigen zu bringen?«
»Ich kann die Möglichkeit nicht ausschließen.« Er sah mich düster an. »Es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen. Ich würde mich besser fühlen, wenn du bei deinen Eltern bleiben oder zu mir nach Hause kommen würdest.«
»Ich fahre zu ihnen«, beschloss ich. Wenn er fand, dass ich mir Sorgen machen sollte, dann machte ich mir Sorgen. »Aber erst muss ich nach Hause, was Frisches zum Anziehen holen, Rechnungen bezahlen und so weiter.«
»Ich komme mit. Du holst alles, was du brauchst, und nimmst die Rechnungen mit zu deinen Eltern. Nein, sag mir lieber, was du alles brauchst; ich hole es und bringe es dir vorbei.«
Aber klar doch. Als würde ich ihn in meiner Wäscheschublade wühlen lassen!
Kaum war mir der Gedanke gekommen, da zuckte ich schon im Geist mit den Schultern. Er hatte meine Unterwäsche nicht nur gesehen – jedenfalls teilweise –, er hatte sie mir sogar schon ausgezogen. Außerdem habe ich hübsche Unterwäsche, ich brauchte mich also nicht zu schämen, wenn er darin herumwühlte.
»Gib mir deinen Block und einen Stift«, sagte ich und begann, als er beides aus seiner Tasche hervorgezaubert hatte, detailliert aufzuschreiben, was er mir alles mitbringen sollte und wo meine unbezahlten Rechnungen abgelegt waren. Weil ich meine Schmink- und Waschsachen schon dabei hatte, kam er mit einer relativ kurzen Liste davon.
Als ich ihm den Hausschlüssel überreichte, sah er mit einer merkwürdigen Miene darauf.
»Was ist denn?«, fragte ich. »Stimmt was nicht mit dem Schlüssel?«
»Nein, alles in Ordnung«, antwortete er nur und beugte sich vor. Sein Kuss war warm und zärtlich, und ehe ich mich versah, stand ich auf den Zehenspitzen, hatte die Arme um seinen Hals gelegt und küsste ihn gierig und neugierig zurück.
Als er den Kopf hob, fuhr er sich langsam mit der Zunge über die Lippen, wie um meinem Geschmack nachzuspüren. Meine Zehen rollten sich ein vor Lust, und um ein Haar hätte ich ihn gebeten, mit ihm heimfahren zu dürfen, aber im letzten Moment meldete sich mein Verstand wieder. Er trat einen Schritt zurück, damit ich einsteigen konnte.
»Ach ja, ich muss dir noch die Adresse meiner Eltern geben.« Das war mir wirklich im letzten Moment eingefallen.
»Ich weiß, wo sie wohnen.«
»Woher – Ach ja, ich vergaß. Du bist Polizist. Du hast sie ausfindig machen lassen.«
»Als ich dich am Freitagabend nicht finden konnte, genau.«
Ich fixierte ihn mit dem alten Knopfauge, wie es Siana immer genannt hatte, wenn Mom wusste, dass wir was ausgefressen hatten, und uns mit ihrem bohrenden Blick ein Geständnis zu entlocken versuchte. »Ich finde, du bist im Vorteil, weil du ständig den Bullen raushängen lässt. Das muss aufhören.«
»Bestimmt nicht. Das machen wir Bullen immer so.« Lächelnd schlenderte er zu seinem Auto zurück.
»Warte! Fährst du direkt zu mir nach Hause und holst die Sachen, oder fährst du zuerst aufs Revier und bringst sie später vorbei?«
»Ich hole sie gleich. Ich weiß nicht, wie lange ich arbeiten muss.«
»Okay. Dann bis gleich.« Ich warf die Handtasche auf den Beifahrersitz, warf aber nicht weit genug, weil die Tasche gegen die Konsole schlug und auf dem Fahrersitz landete. Leise fluchend beugte ich mich vor, um sie hinüberzuschieben, als ein scharfer Knall über die Straße hallte Erschrocken zuckte ich zur Seite, und ein scharfer Schmerz schnitt wie ein Messer durch meinen linken Arm. Dann stürzte ein tonnenschwerer Betonpfeiler auf mich herab und rammte mich in den Asphalt.