22
»Und wo genau willst du mich hinpacken?«, fragte Daisy, als sie wieder im Auto saßen. »Vergiss nicht, ich habe den Hund dabei.«
»Als könnte ich das je vergessen«, grummelte Jack. »Es gefällt mir gar nicht, dich irgendwo hinzupacken, aber es ist am sichersten so. In manchen Motels sind Haustiere erlaubt. Ich werde mal beim AAA anrufen und mich erkundigen.«
»Ich habe nichts zum Anziehen dabei«, bemerkte sie. »Und auch keine Bücher.«
»Ich werde jemanden zu dir nach Hause schicken, der dir ein paar Sachen einpackt.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. »Dann schick Todd. Der weiß, was er aussuchen muss.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass Todd nicht schwul ist.«
»Ist mir egal. Er weiß, was zusammenpasst und welche Schminksachen er mitnehmen muss.«
»Eva Fay -«
»Todd.«
»Na gut«, gab er sich halblaut geschlagen. »Dann schicke ich eben Todd hin.«
Wie sich herausstellte, brauchte er gar nicht beim Automobilclub anzurufen, um ein Motel ausfindig zu machen, in dem Haustiere erlaubt waren; sie fuhren an einem Neubau vorbei, der eben erst an der I-565 errichtet worden war, bogen ein, fragten nach, und tatsächlich gab es zwei Räume für Gäste mit Haustieren. Beide Zimmer waren zurzeit frei, darum entschied Jack sich für jenes, das nach hinten zeigte. Er checkte Daisy unter falschem Namen ein - sie heiße jetzt Julia Patrick, teilte er ihr mit, als er wieder einstieg und um das Gebäude herum zu ihrem Zimmer fuhr.
Er schloss die Tür auf und trug Midas’ Sachen hinein, während Daisy den Welpen einen Rasenfleck beschnüffeln und einen Schmetterling jagen ließ. Er war noch zu jung, um lange zu jagen; nach wenigen Minuten ließ er sich zum Ausruhen auf den Bauch plumpsen. Die Hitze war unerträglich, viel zu drückend, um ihn in der prallen Sonne spielen zu lassen. Sie trug ihn in den angenehm kühlen Raum, gab ihm Wasser zu trinken, und er ließ sich mit einem müden Seufzen auf seiner Decke nieder.
»Ich bringe heute Abend deine Sachen vorbei«, versprach er. »Wann genau, weiß ich nicht, aber ich rufe vorher an. Du öffnest niemandem außer mir die Tür!«
Sie ließ sich auf das King-Size-Bett sinken. »Schon gut.« Sie würde ihn nicht anbetteln, bei ihr zu bleiben, obwohl sie das liebend gern getan hätte. Schon den ganzen Tag hatte sie auf seine starke Schulter vertraut, begriff sie, und einfach alles ihm überlassen. Natürlich war Mord sozusagen sein Fachgebiet; er wusste genau, was zu tun war.
Sie wollte ihn fragen, wie lange sie hier bleiben musste, aber das war eine dumme Frage: natürlich wusste er das genauso wenig wie sie. Womöglich würde Morrison Lemmons und Calvin im Nu auftreiben - womöglich hatten die beiden schon die Stadt verlassen. Womöglich würden Jacks Kollegen auch Sykes auftreiben, oder eben auch nicht. Womöglich entsprach Jennifer Nolans Aussage den Tatsachen, aber andererseits wusste die ganze Stadt, dass sie trank; wenn sie auch heute Morgen getrunken hatte, würde das ihre Aussage in Zweifel ziehen. Alles hing in der Schwebe.
Jack war ihr ein Fels in der Brandung gewesen. Irgendwie wäre Daisy bestimmt auch ohne ihn zurechtgekommen, aber es war ausgesprochen angenehm gewesen, dass er alle weiteren Schritte geplant hatte, dass er ihre Familie in Sicherheit gebracht hatte, dass er sich um Midas gekümmert hatte, während sie sich durch einen Berg von Karteifotos wühlte.
Er setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie. »Geht’s?«
»Ich fühle mich ein bisschen überfahren«, gab sie zu. »Das kommt mir alles so … unwirklich vor. Ich habe zugesehen, wie ein Mann umgebracht wurde, und es nicht mal bemerkt.«
»Man rechnet nicht damit, einen Mord zu beobachten. Wenn es nicht gerade zu einer Schießerei oder einem Kampf auf Leben und Tod kommt, würden die meisten Menschen nichts bemerken. So etwas liegt außerhalb ihrer persönlichen Erfahrungen.« Er hob ihr Kinn an und küsste sie. »Ich bin froh, dass es außerhalb deiner Erfahrungen lag«, murmelte er.
Bis er sie küsste, hatte sie gar nicht gemerkt, wie sehr sie sich nach ihm verzehrte, nach seiner Berührung, seinem Geschmack, dem heißen, männlichen Geruch. »Geh noch nicht gleich.«
»Ich muss«, antwortete er, aber ohne aufzustehen. Stattdessen schloss sich sein Arm fester um sie, und seine andere Hand glitt unter ihre Brüste, streichelte sie und begann schließlich ganz langsam ihre Bluse aufzuknöpfen. Daisy schloss die Augen, weil sich in ihr ein unglaubliches Wohlgefühl ausbreitete, das sie nach den überstandenen Anstrengungen umso intensiver empfand. Kurzfristig, solange er sie berührte, konnte sie vergessen und sich entspannen.
Sie zerrte sein T-Shirt aus dem Hosenbund, schob die Hände darunter und presste ihre Handflächen gegen seine kräftigen Rückenmuskeln.
»Na gut, schon überzeugt«, flüsterte er, zog das Hemd über den Kopf und stand auf, um den Gürtel zu lösen. Jeans, Unterhose, Socken und Schuhe wurden in einer einzigen ungestümen Bewegung abgestreift und landeten auf dem Boden, während er, Daisy mit sich reißend, auf das breite Bett krachte. Ihre Sandalen plumpsten auf den Teppichboden. Er befreite sie von Bluse und BH, die er gemeinsam in Richtung Kommode an der Wand gegenüber schleuderte.
Während er Küsse auf ihren Bauch drückte, öffnete er zugleich den Reißverschluss ihres Jeansrocks und schälte ihn von ihren Hüften, bewegte sich dann weiter aufwärts zu ihren Brüsten und sog an ihren Nippeln, bis sie fest und rot waren und hervorstanden wie Himbeeren. Ihr war schwindlig, aber sie hungerte nach mehr. Sie konnte einfach nicht genug von ihm bekommen, der Drang, ihn anzufassen, war unersättlich, jede einzelne Berührung ließ sie nach mehr verlangen.
»Ich bin dran«, sagte sie, gegen seine Schultern drückend.
Gehorsam rollte er sich auf den Rücken und legte den Arm über die Augen. »Du bringst mich noch um«, prophezeite er murmelnd.
»Vielleicht auch nicht.«
Voller Enthusiasmus angesichts der sich bietenden Möglichkeiten umfasste sie mit beiden Händen seinen Hodensack, spürte die schwere, weiche Haut und die festen Hoden darunter. Sie wühlte ihr Gesicht zwischen seine Beine, inhalierte seinen Moschusduft und ließ ihre Zunge vorschnellen, um ihn zu probieren. Sein Penis zuckte an ihrer Wange, als wollte er sie necken, darum drehte sie den Kopf zur Seite und nahm ihn in den Mund.
Stöhnend wühlte er die Hände ins Laken.
Sie kannte keine Gnade, nicht dass er welche erbeten hätte. Sie schmeckte ihn, sie leckte ihn und streichelte ihn, bis sein mächtiger Körper sich vor Anspannung in einem Bogen über der Matratze wölbte. Unvermittelt hielt sie inne, richtete sich auf und verkündete: »Das reicht.«
Ein fast unmenschlicher Laut stieg grollend aus seinem Brustkorb auf, dann schnellte er plötzlich hoch, packte sie, schleuderte sie auf die Matratze und war praktisch im selben Moment über ihr. Sie lachte, als er wie rasend das Höschen über ihre Beine zerrte und ihre Beine teilte, um sich dazwischen niederzulassen und zu einem langen, kräftigen Stoß anzusetzen, mit dem er sich bis zur Wurzel in ihr Innerstes versenkte und ihr Lachen in einem Stöhnen enden ließ. Sie zog die Beine an, umklammerte damit seine Hüften, um sowohl die Festigkeit seiner Stöße als auch ihre ungestüme Reaktion unter Kontrolle zu halten. Sie wollte jede Sekunde bis zur Neige auskosten, sie wollte nicht Hals über Kopf auf den Höhepunkt zuschießen, aber trotz alledem spürte sie bereits, wie sich zunehmend die explosive Spannung in ihr aufstaute.
Die Muskeln vor Anstrengung vorgewölbt, hielt er unvermittelt inne. »Scheiße«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich hab das Kondom vergessen.«
Ihre Blicke trafen sich; seine Augen waren zu Schlitzen verengt, weil er es nur unter Qualen schaffte, seinem Körper seinen Willen aufzuzwingen. Ihre dagegen waren in plötzlichem Erschrecken aufgerissen.
Seine Hüften rotierten langsam, als könnte er keinen Sekunde lang still halten. »Soll ich aufhören?« Sein Gesicht war zu einer Grimmasse verzerrt, weil es ihn fast übermenschliche Anstrengung kostete, ihr dieses Angebot zu machen. Schweiß glänzte ihm auf Stirn und Schultern, der Klimaanlage zum Trotz, aus der eisige Luft auf das Bett wehte.
Ihr gesunder Menschenverstand sagte Ja. Ihr ausgeprägtes Verantwortungsgefühl sagte Ja. Es war töricht, dieses Risiko einzugehen, beziehungsweise ein noch größeres Risiko, als sie ohnehin schon eingegangen waren, als er ohne Kondom in sie eingedrungen war. Gleichzeitig aber verzehrte sich ein unüberhörbarer, primitiver Instinkt in ihr danach, ihn in ihrem Inneren zu spüren, und wie von selbst formten ihre Lippen das Wort Nein.
Seine Beherrschung hielt nicht länger. Er begann sie zu sto ßen, tief, fest, immer und immer wieder, bis das, was als schlichter Genuss begonnen hatte, sich zu etwas anderem steigerte, etwas Unfassbarem, etwas Überwältigendem. Daisy klammerte sich mit aller Kraft an ihn, sie konnte gar nicht anders, denn mit jenem einen Wort hatte sie alles eingefordert, was er ihr geben konnte, und musste sich darum auch selbst ganz und gar öffnen. In unbändiger Lust bog sie ihren Rücken durch, ihre Hacken bohrten sich in seine Schenkel, tief in ihr wallte ein Schauer auf, der sich in immer mächtigeren, alles erschütternden Wellen durch ihren Körper ausbreitete. Eine winzige Ewigkeit lang konnte sie nicht mehr atmen, nicht mehr denken, war sie auf einem Gipfel der Empfindungen gefangen, die so scharf und eindringlich waren, dass die Welt um sie herum verschwamm. Nach einer Weile verblassten sie, und ihr Leib erschlaffte wieder, Muskel für Muskel, bis Beine und Arme schließlich zur Seite fielen und ihn frei gaben, sodass er sich ungehindert und mit kräftigen Bewegungen zum Orgasmus stoßen konnte.
Sein massiger Körper presste sie danach in die Matratze, aber sie brachte weder die Kraft noch den Willen zum Protest auf. Jeder seiner Muskeln war erschlafft, sein Herz hämmerte gegen ihre Rippen, sein Atem stieg schwer keuchend aus seinen Lungen. Möglich, dass sie eindösten; die Zeit selbst schien sich aufzulösen.
Nach einer Weile zog er sich mit einem angestrengten Stöhnen aus ihr zurück und kam an ihrer Seite zu liegen, um sie in den Armen zu halten. Daisy schmiegte ihr Gesicht in seine Halsbeuge und spürte der Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen nach. Vielleicht war die Katastrophe schon passiert. Nur fühlte es sich nicht an wie eine Katastrophe; es fühlte sich … gut an.
Liebevoll streichelte er sie. Sie suchte nach irgendeiner Bemerkung, aber es war, als gäbe es nichts zu sagen, als wären alle Worte überflüssig. Sie musste sich nur darüber klar werden, was sie beide verband, denn ihr war aufgegangen, dass dies hier viel mehr war als eine einfache Affäre.
Das war doch nicht möglich. Oder?
»Mann, ich muss zurück ins Büro«, murmelte er. »Nicht zu glauben, dass ich mich so ablenken lasse.«
»Fünf Minuten hin oder her machen bestimmt keinen gro ßen Unterschied«, tröstete sie ihn.
Er schlug ein Auge auf und peilte sie durchdringend an. »Fünf Minuten? Pardon, Madam. Aber ich habe schon als Sechzehnjähriger länger als fünf Minuten durchgehalten.«
Sie wand sich in seiner Umarmung, bis sie die Uhr auf dem Nachttisch lesen konnte. Das Problem war, dass sie nicht wusste, ob sie eingedöst waren oder nicht, darum widersprach sie ihm lieber nicht. »Also gut, eine Stunde hin oder her macht bestimmt keinen …«
»Eine Stunde! Scheiße!«
Er stürzte aus dem Bett und ins Bad. Sie hörte etwas plätschern, dann die Toilettenspülung, und im nächsten Moment kam er wieder heraus und stürmte zum Fußende des Bettes, wo er seine Kleider auf den Boden geworfen hatte. Er bückte sich und erstarrte.
Von seiner Miene aufgeschreckt, stützte Daisy sich auf die Ellbogen.
Im selben Augenblick sah er wieder auf und verkündete seelenruhig: »Dein Hund hat meine Unterhose gefressen.«
Sie gab sich redlich Mühe, nicht zu lachen; sie gab sich wirklich alle Mühe. Ungefähr eine Sekunde lang hielt sie durch; dann wurde sie wie von kleinen Erdbebenwellen erschüttert. Kaum hatten die Wellen sich freie Bahn gebrochen, verwandelte sich ihr Kichern in ein lautes Lachen, das sie so durchschüttelte, dass sie sich auf die Seite wälzen und ihren Bauch halten musste, als könnte sie dem Lachen dadurch Einhalt gebieten.
Er bückte sich, hob den kleinen Hund hoch und hielt ihn vor sein Gesicht. Midas war eindeutig überführt, denn aus seinem Maul hingen noch dunkelgrüne Boxershorts-Fetzen. Er schien hoch erfreut über seine Tat zu sein, denn er wedelte wie aufgespult mit dem Schwanz und zappelte aufgeregt mit den Pfoten, in dem Versuch, sich Jacks Gesicht auf Abschleck-Distanz zu nähern.
Jack sagte: »Wuschel, du bist eine Pest.« Aber er sagte es ganz liebevoll und drückte den Welpen dabei gegen seine Brust, während er zugleich die Fetzen aus dem Mäulchen zupfte.
Daisy schaute auf den kleinen Welpen und den großen nackten Mann, der ihn so liebevoll hielt, und ihr wollte fast das Herz aus der Brust springen. Es hatte sich schon so was angedeutet, aber in diesem Moment war ihr klar, dass sie sich unwiderruflich und bis über beide Ohren in Jack verliebt hatte.
Nein, das war nicht nur eine Affäre, jedenfalls nicht für sie. Es war viel, viel mehr.
Er setzte Midas auf dem Bett ab und überließ es Daisy, den Kleinen beschäftigt zu halten, bis er sich angezogen hatte. Während Daisy sich gegen die übergroßen Pfoten und die hektisch leckende Zunge zur Wehr setzte, beobachtete sie unter eindeutig unsittlichen Tagträumen, wie die Jeans über seinen nackten Hintern glitt.
Sobald er angezogen war, beugte er sich vor und küsste sie, allerdings wurde es ein längerer und innigerer Kuss, als beide beabsichtigt hatten. Als er sich wieder aufrichtete, glühten auf ihren Wangen hektische Flecken, und seine Augen waren schon wieder schmal geworden. »Du bist gefährlich«, raunte er.
»Ich liege doch nur auf dem Bett.« Sie erwischte Midas dabei, wie er sich am Laken zu schaffen machte, schimpfte: »Nein!«, und löste den Stoff wieder aus seinem Maul.
»Meine Rede. Eine nackte Frau und ein flauschiges Hündchen; könnte ein Mann sich mehr wünschen? Außer vielleicht ein Bier. Und eine Sportübertragung im Fernsehen. Und …«
Sie schnappte sich ein Kissen und schleuderte es nach ihm. »Raus!«
»Bin schon weg. Vergiss nicht, du machst niemandem auf …«
»… außer dir«, beendete sie den Satz.
»Ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Nebenan gibt’s ein Schnellrestaurant, falls du hungrig wirst.« Er kritzelte ein paar Nummern auf den Notizblock neben dem Bett. »Das ist meine Handynummer, meine Büronummer, und die zwei hier sind Todds Telefonnummern im Laden und zu Hause. Wenn du irgendwas brauchst, rufst du bei einer oder allen an.«
»Wieso hast du Todds Telefonnummern?«, erkundigte sie sich neugierig.
»Ich hätte mir denken können, dass du das fragst«, grummelte er.
»Na und, warum hast du sie?«
»Weil er uns hilft, Sykes aufzuspüren. Er hat gute Verbindungen, die uns nützlich sein könnten.« Er küsste sie noch mal, kraulte Midas kurz hinter den Ohren und war in der nächsten Sekunde zur Tür hinaus.
Obwohl ihre Beine energisch dagegen protestierten, krabbelte Daisy aus dem Bett. Midas machte sich unverzüglich daran, den feuchten Fleck auf dem Laken zu beschnuppern, weshalb sie ihn schleunigst hochriss und auf den Boden setzte. Er folgte ihr ins Bad und schnüffelte neugierig an allem herum, während sie sich abduschte.
Verlegen über die Vorstellung, die Zimmermädchen im Motel könnten das Laken fleckig vorfinden, bearbeitete Daisy die feuchte Stelle mit einem Waschlappen und einem Handtuch, bis sie überzeugt war, dass nichts mehr zu sehen sein würde, wenn der Fleck erst getrocknet war.
Ihr erster feuchter Fleck, dachte sie und besah sich den dunklen Kreis. Hoffentlich der erste von vielen, denn sie wollte Jack Russo als Vater ihrer Kinder haben.
Ob er das ebenfalls wollte oder eher nicht, würde sich zeigen müssen. Zumindest hatte er nicht die Beine in die Hand genommen, als ihre Mutter sich darüber ausgelassen hatte, was für eine Schwiegermutter sie abgab, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen, denn schließlich hatte er gerade einen Mordfall aufzuklären und musste sie beschützen. Er war kein Mann, der sich vor seiner Verantwortung drückte.
Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass er weitermachte, dachte sie beim Anziehen. Er sollte sie nicht nur heiraten, weil sie schwanger war; sondern weil er sie liebte. Diesmal würde wahrscheinlich nichts passieren - der Zeitpunkt gab zu dieser Hoffnung Anlass -, aber Mutter Natur spielte gern mit gezinkten Karten, weshalb Daisy erst wieder ruhig schlafen würde, wenn sie ihre Tage bekommen hatte.
Sie setzte sich und sah sich im Zimmer um. Für ein Motelzimmer war der Raum wahrscheinlich ganz okay. Größer als die meisten, vermutlich weil es ein Zimmer für Tierbesitzer war. Es gab einen Lehnsessel, einen runden Tisch mit zwei Stühlen und einen winzigen Kühlschrank mit einer kleinen Kaffeemaschine darauf. Das Bad war praktisch, aber nicht weiter bemerkenswert.
Und jetzt?
Aus einem Impuls heraus griff sie nach dem Telefonbuch und schlug unter Sykes nach. Sie wusste nicht, wie dieser Sykes mit Vornamen hieß oder wo er wohnte, darum war es ein mü ßiges Unterfangen, aber trotzdem überflog sie die Liste von Sykesen und stellte sich vor, einen nach dem anderen anzurufen. Sie könnte zum Beispiel sagen: »Mr. Sykes, hier ist Daisy Minor. Ich habe gehört, dass Sie versuchen, mich umzubringen.«
Keine besonders tolle Idee. Und wenn er eine Anruf-Erkennung hatte? Dann würde er wissen, wo sie steckte.
Normalerweise sah sie nicht viel fern, aber vorerst gab es nichts anderes zu tun. Midas hatte beschlossen, ein weiteres Nickerchen zu halten; wenn er wieder aufwachte, würde sie ihn nach draußen bringen, aber wie viel Zeit konnte sie damit totschlagen? Sie griff nach der Fernbedienung, ließ sich in den Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein.
Untätig zu warten, behagte ihr nicht. Ganz und gar nicht.
Wenigstens war ihre Familie in Sicherheit. Daisy war klar, dass sie keine ruhige Sekunde gehabt hätte, wenn Jack ihre Verwandten nicht aus der Stadt geschafft hätte. Unter Garantie würde ihre Mutter heute Abend anrufen, um sich zu überzeugen, dass Daisy nichts passiert war, und sie würde sich schreckliche Sorgen machen, wenn dann niemand ans Telefon ging. Andererseits schien Jack einfach alles zu berücksichtigen und hatte ihrer Mutter wahrscheinlich seine Handynummer gegeben oder ihr erklärt, wie sie sich sonst nach ihrer Tochter erkundigen konnte.
Aber was war mit Jack selbst? Ihr wurde eisig kalt. Dass sie eine Affäre hatten, war kein Geheimnis mehr, nicht nachdem er in der Kirche so unübersehbar neben ihr gethront hatte. Und wenn der Bürgermeister inzwischen den Klatsch gehört und Sykes befohlen hatte, Jack nachzusteigen, um Daisy aus ihrem Versteck zu locken?
Sie hechtete nach dem Telefon und wählte Jacks Handynummer. Nach dem ersten Läuten war er am Apparat. »Russo?«
»Du musst auf dich aufpassen«, beschwor sie ihn.
»Wieso?«
»Wenn der Bürgermeister erfährt, dass wir was miteinander haben, bist du genauso gefährdet wie meine Familie.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen deiner Familie und mir.«
Sie liebte jeden einzelnen von ihnen, darum konnte sie keinen Unterschied erkennen. »Und zwar?«
»Ich bin bewaffnet.«
»Pass einfach auf. Versprich mir das.«
»Versprochen.« Er schwieg kurz. »Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Ich langweile mich zu Tode. Bring mir bloß bald was zu lesen.«
Kaum hatte Daisy aufgelegt, begann sie grübelnd im Zimmer auf und ab zu gehen. Es schmeckte ihr gar nicht, in ihrem Versteck ausharren zu müssen, ohne dass sie erfuhr, was drau ßen vor sich ging, ohne dass sie irgendwie eingreifen konnte. Tatenlos abzuwarten entsprach einfach nicht ihrem Temperament. Wenn sie sich erst einmal über ein Problem oder eine Aufgabe klar geworden war, fand sie keine Ruhe, bis sie etwas unternommen hatte.
Es musste bald etwas passieren, sonst wurde sie noch verrückt.
 
Stirnrunzelnd unterbrach Jack die Verbindung. Daisy klang jetzt schon überreizt, das war gar nicht gut. Er musste sicher sein können, dass sie sich an seine Befehle hielt; er musste sicher sein können, dass sie außer Gefahr war, damit er sich darauf konzentrieren konnte, Sykes aufzustöbern.
Außerdem hatte er kurz vor dem Gespräch mit Daisy einen Anruf erhalten, der ihm zu schaffen machte. Einer seiner Männer war zu den Nolans gefahren, doch Mrs. Nolan war nicht zu Hause gewesen. Bis jetzt hatte man sie nicht ausfindig machen können. Wenn Kendra Owens noch mehr Leuten von ihrem Anruf erzählt hatte, hatte möglicherweise auch der Bürgermeister bereits davon erfahren.
Schon wieder standen seine Nackenhärchen stramm.