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Wie ferngesteuert fuhr Daisy zur Arbeit. Zum Glück
brauchte sie keine Stoppschilder und nur eine einzige Ampel zu
beachten: einer der Vorzüge des Kleinstadtlebens. Sie wohnte nur
fünf Straßen von der Bücherei entfernt und ging, um die Umwelt zu
schonen, bei schönem Wetter oft zu Fuß zur Arbeit, doch heute
regnete es in Strömen, und im Sommer siegte die Hitze ohnehin
regelmäßig über ihr schlechtes Gewissen.
In ihrem Kopf überschlugen sich die
unterschiedlichsten Ideen, darum legte sie, noch ehe sie ihre
Handtasche in der untersten Schublade des Schreibtisches verstaut
hatte, sich ein Blatt Papier zurecht, auf dem sie die zu
erledigenden Punkte notieren wollte, um sie stets vor Augen zu
haben. Ihre Mutter und Tante Jo hatten, ganz aus dem Häuschen vor
Begeisterung, zahllose Vorschläge gemacht, doch nach sorgfältigen
Erwägungen waren alle übereingekommen, dass Daisy erst einmal die
wichtigsten Punkte angehen sollte. Sie verfügte über ein
beruhigendes finanzielles Polster, nachdem sie mit ihrer Mutter und
Tante Jo zusammenwohnte, die meisten Ausgaben mit ihnen teilte -
nicht dass die Kosten für Lebensmittel und Sonstiges schwindelnde
Höhen erreicht hätten - und das Haus längst schuldenfrei war. Ihr
Auto war ein acht Jahre alter Ford, den sie innerhalb von drei
Jahren abbezahlt hatte, sodass sie seit fünf Jahren nicht einmal
Raten für ihr Auto abgeknapst hatte. Natürlich war der Verdienst
einer Kleinstadt-Bibliothekarin nicht berauschend, obwohl sie sogar
Bibliotheksleiterin war, ein reiner Ehrentitel ohne große
Befugnisse, weil nur der Bürgermeister Einstellungen und
Kündigungen vornehmen durfte; im Grunde durfte sie vor allem
entscheiden, welche Titel die Bücherei mit ihrem wenig
beeindruckenden Etat erwarb. Aber wenn eine Frau Jahr für Jahr
mindestens die Hälfte und manchmal noch mehr ihres Gehaltes
zurücklegte, dann ergab das,
selbst wenn das Gehalt nicht atemberaubend war, eine ganz
ordentliche Summe. Sie hatte sogar in Aktien zu investieren
begonnen, nachdem sie sich im Internet sorgfältig über einige
ausgewählte Firmen kundig gemacht hatte. Dabei hatte sie, wie sie
selbst fand, ganz gut abgeschnitten. Nicht dass die Haie an der
Wall Street neidisch auf sie geworden wären, aber sie war durchaus
stolz auf die Ernte ihrer Anstrengungen.
Kurz und gut, sie konnte sich mühelos eine eigene
Wohnung leisten. Nur dass in Hillsboro, Alabama, nicht viele
Wohnungen zu vermieten waren. Natürlich konnte sie in eine größere
Stadt ziehen, nach Scottsboro oder Fort Payne, aber eigentlich
wollte sie am Ort bleiben. Ihre Schwester war schon nach Huntsville
gezogen, was mit einer Stunde Fahrt nicht wirklich weit entfernt
war, aber trotz alledem nicht das Gleiche war, wie in derselben
Stadt zu wohnen. Außerdem hatte Temple Nolan, der Bürgermeister,
die Manie, ausschließlich Einheimische im öffentlichen Dienst zu
beschäftigen, eine Politik, die Daisy prinzipiell befürwortete. Sie
konnte ihn kaum bitten, in ihrem Fall eine Ausnahme zu machen.
Folglich würde sie hier in Hillsboro eine Wohnung finden
müssen.
Die Lokalpresse bestand in Hillsboro aus einem
dünnen, freitags erscheinenden Wochenblatt, dessen letzte Ausgabe
noch auf ihrem Schreibtisch lag. Sie schlug die Anzeigenseite auf -
genau eine Seite - und überflog die Kolumnen. Dabei erfuhr sie,
dass in der Vine Street eine gescheckte Katze zugelaufen war und
dass Mrs. Washburn jemanden suchte, der ihr bei der Pflege ihres
achtundneunzig Jahre alten Schwiegervaters half, welchem es gefiel,
sich zu den unmöglichsten Zeiten seiner Kleider zu entledigen, zum
Beispiel in Anwesenheit wildfremder Menschen. Zu vermieten, zu
vermieten … Schließlich erfasste ihr Blick die winzige Rubrik und
hatte schon im nächsten Moment die Anzeigen durchforstet. Es waren
insgesamt acht, mehr als sie erwartet hätte.
Eine Adresse war ihr vertraut und schied auf der
Stelle aus; 31
es handelte sich um ein Dachgeschosszimmer in Beulah Wilsons Haus:
Die ganze Stadt wusste, dass Beulah nach Gutdünken die Privatsphäre
ihrer Mieter verletzte, in ihren Zimmern herumschnüffelte wie ein
Drogenspürhund auf der Suche nach einer Tonne Kokain und
anschließend mit ihrem Damenkränzchen sämtliche Funde
durchhechelte. Auf diese Weise hatte die ganze Stadt erfahren, dass
Miss Mavis Dixon eine Schachtel mit alten Playgirls besaß,
wobei Miss Mavis allerdings so unbeliebt und eine solche
Außenseiterin im Ort war, dass sie einem männlichen Genital ohnehin
nicht näher kommen würde als auf einem Foto.
Auf gar keinen Fall würde Daisy je zu Beulah Wilson
ziehen.
Blieben noch sieben Angebote.
»Vine Street«, murmelte sie, während sie das zweite
Inserat las. Bestimmt handelte es sich um die kleine
Einliegerwohnung über der vom Haus abgetrennten Garage bei den
Simmonsens. Hm, gar nicht so übel. Die Miete war äußerst
moderat, es war eine gute Gegend, und sie bliebe ungestört, weil
die verwitwete Edith Simmons arthritische Knie hatte und nie im
Leben die Treppe hochkommen würde. Alle Welt wusste, dass sie eine
Putzfrau eingestellt hatte, weil sie sich so schlecht bücken
konnte.
Daisy kreiste die Anzeige ein und überflog
anschließend die übrigen Angebote. Es gab noch zwei unmöblierte
Apartments drüben am Highway, aber die waren teuer und hässlich.
Daisy wollte beide nicht ausschließen, aber nur falls Mrs. Simmons
ihre Einliegerwohnung bereits vermietet hatte. Des Weiteren wurde
ein Haus in der Lassiter Street vermietet, wobei die Adresse ihr
allerdings nichts sagte. Sie rotierte auf ihrem Drehstuhl, um auf
dem Stadtplan die Lassiter Street ausfindig zu machen, und strich
das Angebot sofort von der Liste, weil das Haus in einem üblen
Viertel stand. Wie übel, wusste sie nicht genau, aber sie ging
davon aus, dass auch in Hillsboro das Verbrechen sein Unwesen
trieb. 32
Die übrigen drei Angebote waren ebenfalls wenig
verlockend. So war die eine Hälfte eines Doppelhauses zu vermieten,
die regelmäßig frei wurde, weil in der anderen Hälfte die überall
verrufene Familie Farris hauste, deren Geschrei und Gefluche
niemand lange ertrug. Das zweite Haus lag zu weit entfernt, schon
beinahe in Fort Payne. Zu guter Letzt wurde noch ein Mobile Home
angeboten, das ebenfalls in einer zwielichtigen Gegend aufgebockt
war.
Schnell tippte sie die Nummer von Mrs. Simmons ein,
in der Hoffnung, dass die Wohnung noch nicht vermietet war, denn
immerhin war die Zeitung schon vier Tage alt.
Das Telefon läutete eine halbe Ewigkeit, aber Mrs.
Simmons brauchte halt ewig, um vom Fleck zu kommen, darum übte
Daisy sich in Geduld. Ihr Sohn Varney hatte seiner Mutter ein
schnurloses Telefon geschenkt, damit sie es ständig bei sich tragen
konnte und nirgendwohin eilen musste, falls sie angerufen wurde,
doch Mrs. Simmons war ein Gewohnheitsmensch und hatte es lästig
gefunden, den ganzen Tag ein Telefon mit sich herumzuschleppen,
weshalb sie es versehentlich in die Toilette fallen ließ und es auf
diese Weise aus dem Verkehr zog. Mrs. Simmons stöpselte ihr altes
Schnurtelefon wieder ein, und Varney war klug genug, ihr kein
weiteres schnurloses Telefon zum Ertränken zu schenken.
»Hallo?« Mrs. Simmons’ Stimme knirschte wie ihre
Knie.
»Hallo, Mrs. Simmons. Hier spricht Daisy Minor. Wie
geht es Ihnen?«
»Danke, gut, Schatz. Der Regen steckt mir in den
Knochen, aber die Pflanzen brauchen ihn, darum darf ich mich nicht
beklagen. Wie geht es Ihrer Mama und Ihrer Tante Joella?«
»Auch gut, danke. Sie kochen gerade Tomaten und
Okra aus unserem Garten ein.«
»Ich komme kaum mehr zum Einkochen«, knarzte Mrs.
Simmons. »Letztes Jahr hat mir Timmie« - Timmie war Varneys Frau -
»ein paar Birnen gebracht, und wir haben Birnen- 33
kompott eingemacht, aber ich versuche nicht mal mehr, meinen
Garten zu bestellen. Da spielen meine alten Knie einfach nicht mehr
mit.«
»Vielleicht sollten Sie sich ein künstliches
Kniegelenk einsetzen lassen«, schlug Daisy vor. Sie fühlte sich zu
dieser Bemerkung verpflichtet, obwohl sie wusste, dass Varney und
Timmie diesen Vorschlag seit Jahren vorbrachten, ohne irgendwas zu
bewirken.
»Ach, Unfug, Mertis Bainbridge hat sich die Knie
operieren lassen, und sie meint, sie würde das kein zweites Mal
durchmachen wollen. Sie hatte nichts als Ärger damit.«
Mertis Bainbridge war eine stadtbekannte
Hypochonderin und eine Miesmacherin obendrein. Wenn ihr jemand ein
Auto geschenkt hätte, hätte sie sich darüber beschwert, dass sie
das Benzin zahlen musste. Daisy verkniff sich jedoch eine
entsprechende Bemerkung, weil Mertis eine gute Freundin von Mrs.
Simmons war.
»Die Menschen sind verschieden«, meinte sie
diplomatisch. »Sie sind wesentlich robuster als Mertis, darum würde
es bei Ihnen vielleicht mehr bringen.« Mrs. Simmons hörte gern, wie
stark sie war und wie tapfer sie ihre Schmerzen ertrug.
»Na ja, ich werd’s mir überlegen.«
Was eine glatte Lüge war, aber damit hatte Daisy
der gebotenen Höflichkeit Genüge getan; jetzt konnte sie zum
eigentlichen Anlass ihres Anrufes übergehen. »Eigentlich rufe ich
an, weil ich mich nach der Wohnung über Ihrer Garage erkundigen
wollte. Ist die schon vermietet?«
»Noch nicht, Schätzchen. Kennen Sie jemanden, der
sich dafür interessieren könnte?«
»Ich interessiere mich selbst dafür. Wären Sie
einverstanden, wenn ich vorbeikäme und sie mir anschauen
würde?«
»Ich denke doch. Ich will nur kurz Ihre Mutter
anrufen. Dann melde ich mich gleich zurück. Sie sind doch in der
Arbeit, oder?« 34
Daisy blinzelte. Hatte sie gerade tatsächlich
gehört, was sie gehört zu haben meinte? »Verzeihung?«, hakte sie
höflich nach. »Wieso wollen Sie erst meine Mutter anrufen?«
»Natürlich um mich zu erkundigen, ob sie damit
einverstanden ist, Schätzchen. Ich kann Ihnen doch nicht ohne die
Einwilligung Ihrer Mutter meine Wohnung vermieten.«
Die Worte brannten wie Ohrfeigen. »Die Einwilligung
meiner Mutter?«, krächzte sie. »Ich bin vierunddreißig Jahre. Ich
brauche nicht die Einwilligung meiner Mutter, wenn ich umziehen
will.«
»Auch wenn Sie mit ihr gestritten haben, möchte ich
Evelyn nicht derart verletzen.«
»Wir haben uns nicht gestritten«, protestierte
Daisy. Die Kehle war ihr so eng geworden, dass sie kaum einen Ton
herausbrachte. Mein Gott, hielt man sie im Ort für so verkorkst,
dass man sie ohne die Einwilligung ihrer Mutter keinen Schritt tun
ließ? Kein Wunder, dass kein Mann mit ihr ausgehen wollte! Ihre
Scham vermischte sich mit wachsendem Zorn darüber, dass Mrs.
Simmons keinen Gedanken daran verschwendete, ob sie Daisy
beleidigte. »Andererseits, Mrs. Simmons, ist die Wohnung vielleicht
doch nicht das Richtige für mich. Entschuldigen Sie die Störung.«
Das war zwar unhöflich, doch ausnahmsweise legte sie ohne die
übliche Verabschiedung auf. Wahrscheinlich würde Mrs. Simmons nun
all ihren Freundinnen schildern, wie rüde Daisy gewesen war und
dass sie sich mit ihrer Mutter gestritten hatte, doch das war nicht
zu ändern. Und auch wenn Mrs. Simmons nicht ihr Zimmer durchwühlen
würde, so würde sie doch ganz gewiss ihr Kommen und Gehen
überwachen und sich verpflichtet fühlen, ihrer Mutter Rapport zu
erstatten. Nicht dass Daisy beabsichtigte, etwas Böses zu
tun, aber dennoch …!
Das Schamgefühl fraß noch an ihr. War dies das
Bild, das ihre Freunde und Bekannte von ihr hatten - das eines
Menschen, der nicht in der Lage war, eine eigene Entscheidung zu 35
fällen? Sie hatte sich immer für eine intelligente,
verantwortungsbewusste, selbstständige Frau gehalten, doch Mrs.
Simmons, die Daisy von frühester Kindheit an kannte, sah das
offenbar anders!
Dieser Schritt kam viel, viel zu spät. Sie hätte
ihn vor zehn Jahren tun sollen. Damals wäre es kinderleicht
gewesen, ihr Image zu ändern. Jetzt kam es ihr so vor, als bräuchte
sie ein Bundesgesetz - und ein Einwilligungsschreiben ihrer Mutter
-, um das Bild zu verändern, das ihre Mitmenschen von ihr
hatten.
Sicher war es besser, wenn sie nicht in Mrs.
Simmons’ Apartment wohnte. Dort wäre sie zwar nicht mehr im Haus
ihrer Mutter, richtig, aber nach wie vor unter »Beobachtung«. Wenn
sie tatsächlich etwas ändern wollte, musste sie den Anschein
vollkommener Unabhängigkeit erwecken.
Die Apartments in der Wohnanlage am Highway
erschienen ihr von Minute zu Minute attraktiver.
Sie wählte die Telefonnummer in der Anzeige. Wieder
läutete das Telefon eine Ewigkeit. Sie fragte sich, ob der
Verwalter wohl ebenfalls arthritische Knie hatte.
»Hallo?«, meldete sich eine verschlafene
Männerstimme.
»Verzeihung, habe ich Sie geweckt?« Daisys Blick
fiel auf die Uhr über ihrem Schreibtisch; zehn nach neun. Was für
ein Verwalter war um diese Zeit noch im Bett?
»Schon okay.«
»Ich rufe wegen der freien Wohnungen an -«
»Tut mir Leid. Die letzte wurde gestern vermietet.«
Sprach’s und legte auf.
Verdammt.
Frustriert starrte sie auf die Zeitung. Somit
blieben nur noch das Haus an der Lassiter Avenue, die
Doppelhaushälfte neben den Farrises und das Mobile Home am
Stadtrand. Die Doppelhaushälfte kam absolut nicht in Frage.
Sie konnte jetzt keinen Rückzieher machen; sonst
würde sie 36
nie wieder in den Spiegel schauen könne. Sie musste die Sache
durchziehen. Vielleicht waren das Mobile Home oder das Haus in der
Lassiter Avenue gar nicht so übel. Eine heruntergekommene
Gegend machte ihr nichts aus, solange sie nicht wirklich gefährlich
war, solange dort keine Dealer an den Ecken herumlungerten oder
nachts geschossen wurde.
Sie war ziemlich sicher, dass sie es erfahren
hätte, wenn in Hillsboro geschossen worden wäre, am Tag oder in der
Nacht.
Das diskrete Glöckchen über der Tür schlug an, weil
jemand in die Bücherei gekommen war. Daisy stand auf und strich
ihren Rock glatt, auch wenn das kaum eine sichtbare Veränderung
bewirkte. Bis Mittag arbeitete sie allein, weil vormittags nur
selten jemand in die Bücherei kam. Der größte Andrang herrschte am
Nachmittag, nach Schulschluss, mit Ausnahme des Sommers natürlich.
Doch auch da kamen die meisten Besucher nachmittags, eventuell weil
sie während der relativ kühlen Vormittagsstunden mit anderen
Erledigungen beschäftigt waren. Kendra Owens begann um zwölf zu
arbeiten und blieb bis zur Schließung um einundzwanzig Uhr, und von
siebzehn bis einundzwanzig Uhr kam Shannon Ivey, die Teilzeit
arbeitete, sodass Kendra abends nie allein war. Die Einzige, die
länger allein Dienst hatte, war Daisy, aber sie trug wohl auch die
größte Verantwortung.
»Ist da wer?«, dröhnte eine tiefe Stimme, noch ehe
Daisy aus ihrem kleinen Kabuff hinter der Verbuchungstheke treten
konnte.
Empört, dass jemand in einer Bücherei herumbrüllte,
selbst wenn momentan keine anderen Besucher da waren, trat Daisy
eilig zwei Schritte vor. Als sie sah, wer da hereingekommen war,
blickte sie kurz an sich herab und antwortete dann knapp: »Ja,
natürlich. Sie brauchen deswegen nicht gleich zu schreien.«
Auf der anderen Seite der verkratzten hölzernen
Verbuchungstheke stand, sichtlich ungeduldig, der Polizeichef Jack
Russo. Daisy kannte ihn vom Sehen, hatte aber noch nie mit 37
ihm gesprochen und wünschte sich, ihr wäre das auch jetzt erspart
geblieben. Ehrlich gesagt hielt sie nicht allzu große Stücke auf
den Mann, den Bürgermeister Nolan zum Polizeichef erkoren hatte.
Etwas an ihm bereitete ihr Unbehagen, auch wenn sie nicht zu sagen
vermochte, was das war. Warum hatte der Bürgermeister nicht
jemanden aus dem Ort ausgewählt, jemanden, der schon länger bei der
Polizei war? Chief Russo mischte sich nicht unter die
Einheimischen, und soweit sie das nach einigen
Gemeindeversammlungen beurteilen konnte, ließ er gerne mal die
Muskeln spielen. Einen Rüpel nicht zu mögen, war nicht
schwer.
»Wenn ich jemanden gesehen hätte, hätte ich auch
nicht brüllen müssen«, blaffte er.
»Wenn niemand hier gewesen wäre, wäre die Tür nicht
offen gewesen«, blaffte sie zurück.
Patt.
Äußerlich war Chief Russo ein attraktiver Mann,
wenn man eine Schwäche für Bullentypen mit festem Nacken und
breiten, runden Schultern hatte. Sie war nicht so dumm, davon
auszugehen, dass Männer mit athletischem Körperbau automatisch
geistig beschränkt waren; trotzdem hatte Daisy sich nie viel aus
solchen Typen gemacht. Ein Mann, der so viel Sport trieb, um derart
muskulös zu bleiben, musste im Grunde seines Herzens ein Narziss
sein, oder? Wie alt er war, wusste sie nicht; sein Gesicht hatte
keine Falten außer ein paar Lachfältchen in den Augenwinkeln; dafür
war das kurz geschnittene Haar, das auf dem Scheitel noch dunkel
war, an den Schläfen schon ergraut. Jedenfalls war er zu alt, als
dass er noch Stunden damit zubringen sollte, Gewichte zu stemmen.
Ebenso wenig gefiel ihr sein anmaßender, eingebildeter Blick und
der Mund mit den vollen Lippen, um die stets ein Lächeln zu spielen
schien. Für wen hielt sich der Chief eigentlich, für Elvis? Und
damit nicht genug, er war ein Yankee - er hatte entweder in Chicago
oder New York als Bulle gearbeitet, sie hatte schon beides ge- 38
hört - und wirkte stets schroff und abweisend. Hätte er sich um
sein Amt bewerben müssen, so wie der County Sheriff, wäre er nie im
Leben gewählt worden.
Daisy unterdrückte ein Seufzen. Mit ihrer Meinung
über den Chief stand sie allein auf weiter Flur. Der Bürgermeister
mochte ihn, der gesamte Gemeinderat mochte ihn, und soweit sie in
der Stadt gehört hatte, hielten ihn die meisten allein stehenden
Frauen für ein echtes Sahneschnittchen. Vielleicht war ihre
instinktive Abneigung also unbegründet. Vielleicht. Sie ermahnte
sich, dass sie als gute Nachbarin Toleranz üben sollte, aber sie
war trotzdem froh, dass zwischen ihnen die Verbuchungstheke
war.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie mit
ihrer besten, ebenso kühlen wie verbindlichen
Bibliothekarinnen-Stimme. In der Öffentlichkeit zu arbeiten war
eine Wissenschaft für sich, vor allem in einer Bücherei. Sie durfte
niemanden abschrecken, weil sie natürlich wollte, dass möglichst
viel gelesen wurde, aber gleichzeitig musste sie den Menschen
vermitteln, dass die Bücherei und auch die anderen Besucher Respekt
und Rücksichtnahme verdienten.
»Ja. Ich möchte mich bei der virtuellen Bibliothek
einschreiben.«
Keine Antwort hätte ein strahlenderes Lächeln auf
ihr Gesicht zaubern können. Automatisch stiegen seine Aktien um
einige Punkte. Daisy war mit Recht stolz auf die virtuelle
Bibliothek des Staates; in dieser Kategorie war Alabama führend in
den ganzen Vereinigten Staaten. Jeder Bürger des Staates konnte
sich in jeder beliebigen Bücherei eintragen lassen und hatte fortan
von zu Hause aus online Zugriff auf mehrere tausend Zeitungen,
Zeitschriften, Artikel, Lexika, medizinische Fachzeitschriften, auf
Forschungsmaterial und so weiter. Einige der Kategorien waren für
Kinder in den verschiedenen Altersgruppen eingerichtet worden, die
damit im Unterricht arbeiten, Hilfe bei den Hausaufgaben erhalten
oder sich einfach informie- 39
ren konnten. Auch in anderen Staaten gab es virtuelle
Bibliotheken, doch die von Alabama war bei weitem die
umfangreichste.
»Sie werden begeistert sein«, prophezeite sie
enthusiastisch, wobei sie das Klappbrett in der Theke anhob, sodass
sie aus der Sicherheit ihres Arbeitsbereiches treten konnte.
»Kommen Sie mit.«
Sie führte ihn zur bibliografischen Abteilung, wo
das allzeit bereite Internet-Terminal vor sich hin summte. Sie
setzte sich auf den Stuhl vor dem Computer und bedeutete ihm, sich
ebenfalls einen heranzuziehen. Er packte einen Stuhl an der Lehne,
stellte ihn viel zu dicht neben ihrem ab und ließ seinen mächtigen
Körper darauf sinken. Er lehnte sich zurück und schlug ein langes
Bein über, wobei sein linker Knöchel auf dem rechten Knie zu liegen
kam. Es war die Haltung eines dominanten Mannes, eines Menschen,
der es gewohnt war, den Raum um sich herum körperlich zu
vereinnahmen.
Daisy runzelte die Stirn und zog im Geist die
Punkte wieder ab, die sie ihm eben gutgeschrieben hatte. Hatte er
noch nie gehört, dass man seine Mitmenschen nicht bedrängen durfte?
Sie rutschte mit dem Stuhl eine Hand breit von ihm ab und notierte
»keine Manieren« in der Minus-Spalte.
Dann fragte sie alle erforderlichen Angaben ab, gab
sie in das System ein und händigte ihm schließlich sein Passwort
aus. Die ganze Zeit über war ihr nur zu deutlich bewusst, dass er
sie immer noch bedrängte; mehrmals kam ihr Blick auf dem
muskulösen Schenkel direkt neben ihrem zu liegen. Wenn sie noch
weiter zur Seite rutschte, würde sie nicht mehr an die Tastatur
kommen. Verärgert, weil er bestimmt wusste, dass er ihre
persönliche Sphäre verletzte - die Bullen in den Großstädten
lernten solche Sachen, oder? -, feuerte sie einen zornigen Blick
auf ihn ab und fiel fast vom Stuhl, weil er sie mit großen Augen
anstarrte. Er versuchte nicht einmal, es zu verbergen.
Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde.
Normalerweise hät- 40
te sie die Anmeldung so schnell wie möglich abgeschlossen und wäre
dann in ihr sicheres Büro zurückgeflohen, aber heute war ein neuer
Tag, ein Wendepunkt in ihrem Leben, darum beschloss sie, dass sie
sich um gar keinen Preis einschüchtern lassen würde. Sie war
schließlich schon unhöflich zu Mrs. Simmons gewesen, warum sollte
sie nicht auch unhöflich zum Polizeichef sein?
»Glotzen Sie mich nicht so an«, verkündete sie also
ohne Umschweife. »Hab ich vielleicht Dreck im Gesicht, oder sehe
ich aus wie eine gefährliche Kriminelle?«
»Keines von beidem«, antwortete er. »Polizeibeamte
müssen ihre Mitmenschen anglotzen; das gehört zu ihrem Job.«
Ach. Wahrscheinlich war das nicht einmal gelogen.
Sie schraubte ihre Empörung ein paar Umdrehungen zurück - aber nur
ein paar. »Hören Sie trotzdem auf damit«, befahl sie. »Es ist
unhöflich, und außerdem rücken Sie mir zu nah auf die Pelle.«
»Verzeihung.« Trotzdem wandte er nicht den Blick
von ihr ab; offenbar reagierte er nur widerwillig auf Befehle.
Seine Augen waren von einem ungewöhnlichen Graugrün, eher grün als
grau, und schienen irgendwie nicht recht zu seiner olivfarbenen
Haut zu passen. Natürlich stand es ihr nicht zu, über die seltsamen
Augen anderer Leute zu lästern, schließlich waren ihre eigenen
Augen verschiedenfarbig. »Ich wollte Ihnen nicht auf die Pelle
rücken, Miss … Daisy, nicht wahr?« Seine vollen Lippen zuckten.
»Soll ich Sie eventuell irgendwo hinchauffieren?«
Ihr Antlitz verfärbte sich weit über ein
gewöhnliches Erröten hinaus in ein tiefes Tomatenrot. Seit der Film
Miss Daisy und ihr Chauffeur herausgekommen war, hatten es
unzählige Menschen für originell gehalten, ihr dieses Angebot zu
machen. Bislang hatte sie kein einziges Mal darüber lachen müssen.
Sie verpasste ihm gleich noch mal zwei Minuspunkte, weil es
ausgesprochen unhöflich war, sich über den Namen eines Mitmenschen
lustig zu machen.
»Nein danke«, antwortete sie so unterkühlt, dass er
unmöglich überhören konnte, für wie wenig originell sie ihn hielt.
Sie stand auf und reichte ihm die Plastikkarte mit seinem darauf
vermerkten Passwort, marschierte dann ohne ein weiteres Wort zur
Verbuchungstheke zurück und ließ die Klappe zufallen, die sie von
ihm abschottete. Hinter der sicheren Barrikade hervor fasste sie
ihn über die Holzfläche hinweg ins Auge.
»Verzeihung«, sagte er, womit er sich schon zum
zweiten Mal in ebenso vielen Minuten entschuldigt hatte. Das
Problem war, dass es ihm beide Male nicht wirklich ernst zu sein
schien. Er stützte sich auf die Theke und ließ die Plastikkarte
zwischen den langen Fingern rotieren. »Ich schätze, das kriegen Sie
dauernd zu hören, wie?«
»Oft«, bestätigte sie mit arktischer Stimme.
Er hob die Schultern an, als wollte er sein Hemd
zurechtrücken, doch sie hatte schon zu viele Artikel über
Körpersprache gelesen und vermutete daher, dass er sie mit seinem
Körperbau einzuschüchtern versuchte. Falls ja, dann hatte er damit
keinen Erfolg.
Nachdem sie eisern schwieg und sich offenkundig
weigerte, seine Entschuldigung zur Kenntnis oder gar anzunehmen,
zuckte er noch mal mit den Achseln und richtete sich wieder auf. Er
klopfte mit der Plastikkarte auf die Theke - meine Güte, was sollte
das denn bedeuten; sie versuchte sich zu entsinnen, ob Klopfen
ebenfalls als Mittel der Körpersprache galt - und sagte: »Danke für
Ihre Hilfe.«
Verflixt, jetzt musste sie doch noch antworten.
»Gern geschehen«, knurrte sie ihm nach, weil er bereits zum Ausgang
unterwegs war. Sie war ziemlich sicher, ihn lachen zu hören.
Verdammter Yankee! Was hatte er hier überhaupt zu
suchen? Wenn er wirklich so ein toller Großstadtbulle war, warum
war er dann nicht in der Großstadt geblieben? Was wollte er hier in
Hillsboro mit seinen neuntausendnochwas
Einwohnern tief in den Bergen von Alabama? Möglicherweise war er
ja korrupt und bei irgendeiner Schweinerei erwischt worden. Oder er
hatte einen schrecklichen Fehler gemacht und einen unbewaffneten
Passanten erschossen. Unter Garantie war er zu jeder Menge fähig,
wofür man mindestens rausgeschmissen wurde.
Egal, sie würde keine Zeit mehr damit verschwenden,
sich den Kopf über Jack Russo zu zerbrechen. Im globalen Maßstab
betrachtet, waren unhöfliche Kunden ohne Belang. Im Geist glättete
sie ihr aufgebauschtes Gefieder wieder. Schließlich war sie eine
Frau mit einer Mission, und sie würde nicht heimfahren, bevor sie
eine eigene Wohnung gefunden hatte.
Sie seufzte, als sie an ihre schrumpfende
Wohnungsliste dachte. Falls sie diesen Schwur tatsächlich zu halten
gedachte, würde sie wahrscheinlich im Auto schlafen müssen.