3
Bürgermeister Temple Nolan liebte seine kleine Stadt. Hillsboro war ungewöhnlich kompakt für einen Ort in den Südstaaten, wo es reichlich billigen Boden gab und sich die Siedlungen ungehindert ausbreiten konnten. Hillsboro hatte sich nie weit ausgebreitet, sondern war im Wesentlichen in einem kleinen Tal inmitten der Ausläufer der Appalachen geblieben. Er liebte sogar die Einfahrt in den Ort: auf der mit Zedern bestandenen, gewundenen Hauptstraße hügelan, bis man oben um eine Kurve bog und den Ort ausgebreitet vor sich liegen sah, der auf den ersten Blick eher in den Nordosten der Vereinigten Staaten als in den sonnigen Süden zu gehören schien.
Weiße Kirchtürme ragten in den Himmel, ehrwürdige alte Eichen und Hickorybäume breiteten ihre riesigen grünen Kronen aus, Blumen leuchteten auf den Rasenflächen; verflucht, es gab sogar einen Stadtplatz. Gerichtsgebäude gab es keines, weil Hillsboro nicht Sitz der County-Verwaltung war, aber zumindest einen Platz. Er war gerade mal einen Morgen groß und man hatte einen hübschen kleinen Park darauf angelegt, mit sorgsam gepflegten Blumenrabatten, einigen Sitzbänken und der obligatorischen Kanone aus dem Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten, neben der ein paar rostige Kanonenkugeln aufgestapelt waren. Der Park wurde von so vielen Bürgern besucht, dass Nolan das Gefühl hatte, die Kosten seien gerechtfertigt.
Auf der einen Seite des Platzes erhob sich das Rathaus, ein zweistöckiger Bau aus gelbem Backstein, der flankiert wurde von der Polizeistation und der Stadtbücherei mit ihrem weißen Säulenvorbau - Erstere unter der Ägide von Chief Jack Russo, einem barschen, hartgesottenen Yankee, der dem Bürgermeister die Stadt quietschsauber hielt, Letztere geführt von Miss Daisy Minor, einer steifen alten Jungfer, wie sie im Buche stand. Nicht dass Miss Daisy besonders alt gewesen wäre, dafür war sie aber umso jüngferlicher. Sie gehörte für den Bürgermeister zu den Lieblingsfiguren in seiner an Charakterköpfen reichen Gemeinde, weil sie dem Klischee der Bibliothekarin aufs Haar entsprach.
Um den übrigen Platz herum reihten sich die verschiedensten Geschäfte, wie zum Beispiel die chemische Reinigung, ein Haushaltswarenladen, ein Modegeschäft, mehrere Antiquitätenläden, das Geschäft für Saaten und Viehfutter, ein Discounter, ein Hobbyshop. In Hillsboro gab es keine ausgefallenen Boutiquen, aber die Einwohner konnten hier alles zum Leben Notwendige kaufen, ohne dass sie weit zu fahren brauchten. Natürlich gab es im Ort auch das übliche Sortiment von Fastfood-Ketten, aber keines ihrer Restaurants hatte sich am Stadtplatz niedergelassen; sie reihten sich entlang der Straße nach Fort Payne. Das einzige Lokal am Platz war das Coffee Cup, das morgens und mittags aus allen Nähten platzte und schon um achtzehn Uhr schloss, weil sich der Betrieb am Abend nicht rentierte.
Es war eine friedliche Stadt, soweit eine Ansammlung von mehr als neuntausend Menschen friedlich sein konnte. Es gab weder Bars noch Nightclubs in Hillsboro; im ganzen County waren geistige Getränke verboten. Wer - legal - Alkohol trinken wollte, musste entweder nach Scottsboro fahren, das sich vom restlichen County losgesagt und sich für den Alkoholausschank ausgesprochen hatte, oder rüber ins Madison County. Natürlich versuchten ständig Leute, sich etwas zu trinken mit heimzunehmen, und die Polizei drückte gewöhnlich beide Augen zu, solange die Betreffenden tatsächlich auf dem Heimweg waren. Aber man ging entschieden gegen jeden vor, der schon am Steuer seines Autos trinken wollte, und behielt auch streng die Halbwüchsigen im Auge, die Bier auf ihre Partys schmuggeln wollten. Und natürlich gab es Menschen, die unbedingt Marihuana rauchen oder Pillen einwerfen mussten, doch Temple Nolan tat sein Bestes, um Hillsboro drogenfrei zu halten.
Dies war einer der Gründe, weswegen er Jack Russo zum Polizeichef ernannt hatte. Russo hatte sowohl in Chicago als auch in New York gearbeitet; er kannte sich ausgezeichnet auf den Straßen und in den dunklen Hintergassen aus, und er wusste genau, an welchen Symptomen man eine drohende Drogenplage erkannte. Wenn seine Methoden für diesen Teil des Landes auch etwas grob wirkten … nun, man konnte das eine wahrscheinlich nicht ohne das andere haben. Das Beste an Jack Russo war jedoch, dass er ein Außenseiter war. Er konnte sich ganz seiner Arbeit widmen und war nicht in jenem umfassenden Netzwerk verwoben, über das eine erstaunliche Menge von Informationen und Gefälligkeiten abgewickelt wurde. Eine Gefälligkeit verpflichtete zur nächsten, und ehe man sich’s versah, geschahen Dinge, die eigentlich nicht geschehen sollten, und Informationen, die geheim bleiben sollten, machten die Runde. Diese Gefahr hatte Temple im Keim erstickt, indem er einen Ortsfremden eingestellt hatte. Hillsboro sollte stets friedlich und sauber bleiben, so wie er es am liebsten hatte, und der Chief war zu wenig integriert, um sich um Sachen zu kümmern, von denen er nichts zu wissen brauchte. Bislang hatte das wunderbar funktioniert.
Temple war inzwischen seit neun Jahren Bürgermeister und vor einem Jahr für seine dritte Amtsperiode bestätigt worden. Er war erst fünfundvierzig, ein properer, gut aussehender Mann mit blauen Augen und korrekt geschnittenem dunklem Haar. Er war in Hillsboro aufgewachsen und früher ein beliebter Junge gewesen, der alle Sportarten spielte - Football, Basketball, Baseball -, allerdings in keiner je geglänzt hatte. Das hatte weder seiner Beliebtheit geschadet noch seinen Plänen. Er hatte nie davon geträumt, es in irgendeiner Sportart nach ganz oben zu bringen. Und zu guter Letzt hatte nicht der Quarterback, der Spielmacher der Mannschaft, die Cheerleaderin geheiratet; diese Ehre war Temple zuteil geworden. Jennifer Whitehead, geschmeidig und blond, war Mrs. Temple Nolan geworden, und zwar gleich im Juni, nachdem er seinen Collegeabschluss in Betriebswirtschaft gemacht hatte. Schon im nächsten Jahr hatten sie den kleinen Jason bekommen, und drei Jahre darauf war die kleine blonde Paige geboren worden. Ihre Familienbilder sahen aus wie Werbebilder, wie aus einer Broschüre für Familienplanung.
Auch seine Kinder hatten ihre Nasen nicht in verbotene Dinge gesteckt; Jason verfügte, wie sich herausgestellt hatte, über einen ganz anständigen Wurfarm, mit dem er seine Collegegebühren bestritten hatte. Doch träumte er ebenso wenig von einem Leben als Berufssportler wie damals Temple und studierte zurzeit in North Carolina Medizin. Paige, inzwischen zwanzig, besuchte ebenfalls das College und studierte Mathematik und Naturwissenschaften; sie wollte später in der Raumfahrt arbeiten. Es waren wunderbare Kinder; Gott sei Dank war keines von beiden nach der Mutter geraten.
Tja, Jennifer war und blieb das Haar in seiner Suppe. Die gute alte Jennifer; schon in der High School und im College war sie leicht zu haben gewesen - er hätte wissen müssen, dass sich das in der Ehe nicht ändern würde. Wahrscheinlich würde sie mit jedem Kerl ins Bett steigen. Glücklicherweise waren ihm seine Kinder wie aus dem Gesicht geschnitten; andernfalls hätte er einen Vaterschaftstest machen müssen. Anfangs hatte sich Jennifer zumindest Mühe gegeben, sich auf ihn zu beschränken; seinen Schätzungen nach hatte sie erst begonnen, ihn regelmä ßig zu betrügen, nachdem Paige zwei geworden war.
Wahrscheinlich würde seine politische Karriere sogar den Schock einer Scheidung überstehen, doch er hatte ganz bestimmt nicht vor, etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Zum einen liebten die Kinder ihre Mutter, und er wollte ihnen nicht wehtun. Zum anderen war ihm Jennifer durchaus von Nutzen. Er war überzeugt, dass sie ihm eine Reihe von Mitleidsstimmen einbrachte - »Der-arme-Nolan-er tut-wirklich alles-um-seine-Familie-zusammenzuhalten«-Stimmen -, und obendrein war Jennifer stets bereit, das Höschen auszuziehen und die Beine breit zu machen, wenn es einen Abschluss auszuhandeln oder einen Gefallen zu erwidern galt.
Natürlich bedeutete das, dass er sich anderswohin wenden musste, um Erfüllung zu finden. Auf gar keinen Fall würde er noch mal seinen Schwanz in sie reinstecken, nicht nachdem sie so viel Dreck an sich rangelassen hatte. Hätte ihm der Sinn danach gestanden, hätte er jederzeit eine Affäre mit einer der vielen verfügbaren Frauen in der Stadt anfangen können - oder mit einer, die eigentlich nicht verfügbar sein sollte -, doch ein kluger Mann achtete stets darauf, nicht das eigene Nest zu beschmutzen. Nein, die beste Lösung war, die eigenen Bedürfnisse außerhalb der Stadt zu befriedigen. Schließlich hatte er noch nie Schwierigkeiten gehabt, eine Frau zu finden, wenn er eine gebraucht hatte.
Sein privater Anschluss läutete, der sich durch den besonderen Klingelton von den amtlichen Anschlüssen unterschied. Nach einem kurzen Blick zur Tür, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen war, nahm Temple den Hörer ab. »Ja?« Er meldete sich nie mit Namen, nur für alle Fälle - vor allem nicht an seinem Handy, doch inzwischen hatte sich diese Angewohnheit auf alle Telefonate übertragen.
»Es gibt ein paar Probleme mit der neuen Ladung«, sagte eine ihm bekannte Stimme.
»Kann sie erst später ausgeliefert werden?«
»Ja. Vielleicht möchten Sie ja selbst mal nach dem Rechten sehen.«
Temple fluchte insgeheim; eigentlich war er auf dem Golfplatz verabredet. Und jetzt musste er fast bis nach Huntsville fahren. Doch Glenn Sykes war ein fähiger Mann; er hätte Temple bestimmt nicht gebeten, persönlich nach dem Rechten zu sehen, wenn kein ernstes Problem vorlag. »Ich werde eine ausgedehnte Mittagspause einlegen«, entschied er knapp.
»Kommen Sie zur Scheune«, war die Antwort. »Ich warte dort auf Sie.«
Beide Männer beendeten die Verbindung, und Temple legte nachdenklich den Hörer wieder auf. Solange es keine erfolgreiche Flucht gegeben hatte, war jedes Problem lösbar, und wenn das geschehen wäre, hätte Glenn ihm bestimmt sofort Bescheid gesagt. Doch auch andere Probleme tauchten von Zeit zu Zeit auf, Probleme, die sofort gelöst werden mussten, ehe die Situation sich zuspitzen konnte.
Drei Stunden später stand er in einer baufälligen, alten Scheune, sah auf das Problem hinab und überschlug leise fluchend, wie viel Gewinn ihnen entgangen war. »Wie ist das denn passiert?«
»Überdosis«, war Glenn Sykes’ knappe Antwort.
Man brauchte nicht lange zu raten, was vorgefallen war, dachte der Bürgermeister vergrätzt. »GHB?«
»Genau.«
»Mitchell.« Als Sykes ihm nicht widersprach, seufzte Temple. »Mr. Mitchell wird allmählich zum Problem.« Es war nicht das erste Mal, dass Mitchell einem Mädchen GHB verabreicht hatte. Der perverse Bock fand es scharf, wenn sie bewusstlos waren, während er sie fickte; Temple vermutete, dass er dabei das Gefühl hatte, er würde mit irgendeinem schweinischen Verbrechen durchkommen. Oder vielleicht glaubte er, dass es keine Vergewaltigung war, wenn sie sich nicht wehrten. Was immer ihm auch im Kopf herumgeisterte, dies war schon das zweite Mädchen, das er mit GHB umgebracht hatte. Die Ware anzutesten war das eine, aber wenn das auf Kosten des Profits ging, wurde die Sache ernst.
Sykes schnaubte. »Mitchell ist schon lange ein Problem. Dieser blöde Idiot bringt uns mehr Ärger als Nutzen.«
»Ganz Ihrer Meinung.«
»Soll ich was unternehmen?«
»Das werden wir wohl müssen. Mitchells Spielchen kommen uns zu teuer.«
Sykes war erleichtert. Er arbeitete nicht gern mit Versagern zusammen, und Mitchell war eine Oberflasche. Mit Temple Nolan zu arbeiten, war hingegen das reinste Vergnügen; der Bürgermeister geriet nie in Panik, sondern regelte alles ganz kühl und ohne überflüssiges Gefühl. Sykes zeigte auf das Bündel am Boden. »Und was soll ich mit dem Leichnam machen? Verbuddeln? Oder loswerden?«
Temple überlegte. »Wie lange ist es her?«
»Fast vier Stunden, seit ich davon erfahren habe.«
»Warten Sie noch ein paar Stunden ab, damit wir sicher sein können, und schaffen Sie ihn dann irgendwohin.« Nach sechs Stunden löste sich das GHB in seine Bestandteile auf, sodass es nicht nachweisbar war, wenn ein Leichnam nicht innerhalb dieser Zeitspanne gefunden und auf Drogen untersucht wurde. Danach konnte man die Gabe von GHB nur noch vermuten, aber nicht mehr beweisen.
»Irgendwelche Ideen, wo?«
»Egal, solange es keine Hinweise auf uns gibt.«
Sykes massierte sich das Kinn. »Ich werd sie wohl ins Marshall County rüberbringen; wenn man sie findet, wird man sie für eine Illegale halten, und niemand wird sich ein Bein ausrei ßen, um sie zu identifizieren.« Er sah zum Wellblechdach hoch, auf das der Regen trommelte. »Das Wetter ist ideal; dadurch werden alle Spuren verwischt, falls die Kulis vom Marshall doch noch beschließen sollten, die Gegend abzusuchen.«
»Gute Idee.« Seufzend sah der Bürgermeister auf das kleine Bündel hinab. Der Tod machte einen Körper nicht nur reglos; er reduzierte ihn auf einen leblosen Klumpen, dem all die Spannung, die ureigene Eleganz fehlte, die das Leben selbst den Muskeln verlieh. Er verstand nicht, wie man einen Toten je mit einem Schlafenden verwechseln konnte, denn der ganze Körper wirkte schlagartig völlig anders. Solange das Mädchen gelebt hatte, war es eine wahre Schönheit mit einem unschuldigen Funkeln in den Augen gewesen, das ihnen einen Haufen Geld eingefahren hätte. Tot war es ein Nichts.
»Ich rufe Philipps an, erzähle ihm, was passiert ist und was wir wegen Mitchell unternehmen.« Temple sah dem Anruf mit einem mulmigen Gefühl entgegen, weil er nicht gern zugab, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er war es nämlich gewesen, der Mitchell mit ins Boot genommen hatte.
Selbst wenn, das war ein Fehler, der bald wieder ausgebügelt war. Mitchell würde keinem Mädchen mehr GHB einflößen.