20
Sykes tat etwas, das er noch nie getan hatte: Er
rief Temple Nolan zu Hause an, und zwar gleich in aller Frühe. Ganz
egal, wo die Blondine arbeitete, er wollte jede Menge Zeit haben,
um sie möglichst noch vor Arbeitsbeginn abzufangen oder um sie zu
beschatten, wenn sie nach der Arbeit heimfuhr. Es würde
wahrscheinlich ein langer Tag werden, aber er war geduldig.
Temple antwortete nach dem dritten Läuten, mit noch
schlaftrunkener Stimme. »Ja, hallo?«
»Ich bin’s.«
»Sykes!« Sofort klang Temple wacher. »Bei allen
Heiligen, was rufen Sie mich hier an?«
»Die kleine Minor hat sich nicht an der Adresse
gezeigt, die Sie mir gegeben haben. Sind Sie sicher, dass sie dort
wohnt?«
»Hundertprozentig. Sie hat ihr Leben lang dort
gewohnt.«
Das beantwortete schon mal eine Frage, dachte
Sykes; der Bürgermeister kannte die Frau persönlich.
»Dann hat sie gestern irgendwo anders übernachtet.
Eventuell hat sie ja einen Freund.«
»Daisy Minor? Wohl kaum«, schnaubte Temple.
»Hey, wenn sie in den Buffalo Club geht, dann ist
sie jedenfalls nicht Mutter Teresa.«
»Wahrscheinlich nicht«, bestätigte Temple
zögerlich. »Außerdem hat sie ihre Haare blondiert.
Verflucht!«
»Wenigstens scheint sie nichts zu ahnen.«
»Dann könnten wir die ganze Sache vielleicht
vergessen -«
»Nein.« Sykes war nicht umzustimmen. »Ich will,
dass alles wasserdicht ist. Die Ladung mit Russinnen trifft in
Kürze ein; wollen Sie das Risiko eingehen, dass diese Minor uns
alles vermasselt? Ich glaube nicht, dass Philipps es gern sehen
würde, wenn er so viel Geld verliert. Die Russinnen sind dreimal so
viel wert wie die anderen Lieferungen.«
»Scheiße.«
Sykes nahm das als Zustimmung und fragte: »Wo
arbeitet sie? Wenn ich es schaffe, fange ich sie noch heute Morgen
ab, sonst in der Mittagspause. Wenn beides nicht klappt, folge ich
ihr heute Nachmittag, wenn sie heimgeht, und schnappe sie mir
dann.«
»Sie ist die verfluchte Bibliothekarin«, sagte
Temple.
»Bibliothekarin?«
»In der öffentlichen Bücherei. Sie hockt praktisch
neben dem Rathaus. Um neun schließt sie die Bibliothek auf, und
dort arbeitet sie, wenn ich mich recht entsinne, allein bis zum
Mittag, aber da kommen Sie nicht an sie ran. Dafür gehen zu viele
Leute ins Rathaus oder auf die Polizeistation, und aus beiden
Gebäuden kann man auf den Parkplatz der Bücherei sehen.«
»Dann folge ich ihr mittags, mal sehen, ob sich was
ergibt. Keine Panik. So oder so kriege ich sie noch heute.«
Als die beiden Männer das Gespräch beendeten,
drückte Jennifer Nolan in ihrem Schlafzimmer hastig den Trennknopf
und hielt ihn nieder, bis der Hörer wieder fest auf der Gabel lag.
Seit Jahren belauschte sie nun schon Temples Telefonate, ein
krankhafter Zwang, dem sie einfach nicht widerstehen konnte. Sie
hatte ihn Verabredungen mit so vielen verschiedenen Frauen treffen
gehört, dass sie schon längst den Überblick verloren hatte. Doch
nach wie vor hatte sie jedes Mal das Gefühl, dass dabei etwas in
ihr starb. Seit Jahren versuchte sie
nun schon, endlich genug Selbstachtung aufzubringen, um die
Scheidung einzureichen, aber es war leichter gewesen, ihren Schmerz
im Alkoholdunst oder mit anderen Männern zu betäuben. Manchmal
hatte sie es sogar geschafft, so viel zu trinken, dass sie sich
einreden konnte, die anderen Männer würden ihn ebenso verletzen,
wie seine Weiber sie verletzten, aber sogar diese schwache Hoffnung
hatte sie verloren, als er von ihr zu fordern begann, mit Männern
zu schlafen, denen er einen Gefallen schuldete.
Elton Philipps war einer dieser Männer, und seit
jenem Erlebnis hasste Jennifer ihren Mann aus tiefstem Herzen,
hasste sie ihn mit einem Zorn, der sie wie Säure zerfraß. Er
wusste, er musste gewusst haben, was Elton Philipps
für ein Mann war, aber nichtsdestotrotz hatte Temple seine Frau zu
ihm geschickt. In Philipps abgeschiedenem Schlafzimmer hatte sie
gebrüllt und geschrien und gebettelt und schließlich alles weinend
über sich ergehen lassen, heimlich flehend, dass sie nicht sterben
würde - bis zu jenem Punkt, an dem sie nur noch gebetet hatte, dass
sie endlich sterben würde.
Philipps hatte allerdings nicht beabsichtigt, sie
zu töten; dazu bestand keine Notwendigkeit. Er verließ sich darauf,
dass Temple sie in der Hand hatte, aber auch sonst wäre sie nicht
zu den Bullen gegangen. Sie wollte keinesfalls, dass ihre Kinder
erfuhren, was ihr angetan worden war oder welche Rolle ihr Vater
dabei gespielt hatte. Seit sie zu trinken begonnen hatte, hatten
Jason und Paige ohnehin jede Achtung vor ihr verloren; wenn sie von
den anderen Männern erführen, würden sie ihrer Mutter ein für alle
mal den Rücken kehren, und Jennifer zweifelte keine Sekunde lang
daran, dass Temple ihnen davon erzählen würde.
Ob Temple überhaupt aufgefallen war, dass sie mit
keinem Mann mehr freiwillig geschlafen hatte, seit sie sich von
Philipps’ Übergriffen erholt hatte? Inzwischen konnte sie die
Berührung eines Mannes nur noch mit Mühe ertragen und nur,
wenn sie genug intus hatte. Sogar dieses Vergnügen, so verwerflich
es auch gewesen war, hatte Temple ihr genommen. Nun war ihr nichts
mehr geblieben außer ihren Kindern.
Doch möglicherweise hatte ihr Temple gerade eben
die Mittel in die Hand gegeben, sich von ihm zu lösen, ohne dabei
Jason und Paige zu verlieren.
Sie gab sich alle Mühe, nichts von dem zu
vergessen, was sie gehört hatte. Temple hatte den Mann mit Namen
angesprochen, irgendwas wie Lykes. Nein - er hatte ihn
Sykes genannt. Und dann ging es noch um eine Lieferung von
Russinnen, was keinen Sinn ergab. Sie konnte sich nicht vorstellen,
dass Temple mit irgendwelchen Schleppern zusammenarbeitete, die
illegale Einwanderer ins Land brachten; er predigte doch dauernd
lautstark, dass ihr Land die Grenzen dichter abschotten musste, um
den Zustrom von Immigranten einzudämmen. Eines aber wusste sie
genau: Wenn Elton Philipps mit von der Partie war, dann ging es um
ein schmutziges Geschäft.
Aber was die Sache mit Daisy Minor betraf - da war
Jennifer sicher, dass sie nichts falsch verstanden hatte. Daisy war
ein »loser Faden«, und lose Fäden mussten abgeschnitten werden.
Jennifer wusste, was das zu bedeuten hatte, obwohl sie nicht die
leiseste Vorstellung hatte, inwiefern Daisy etwas mit Temple zu tun
haben könnte; Temple gab sich ausschließlich mit Barbiepüppchen ab,
die seine Spielregeln akzeptierten und ihm keine Schwierigkeiten
machten. So wie er sich angehört hatte, machte Daisy ihm dagegen
gehörige Schwierigkeiten. Der Mann namens Sykes wollte sie
»schnappen«. Das hieß, er wollte sie umbringen.
Sie musste jemandem davon erzählen, aber wem? Die
städtische Polizeistation war der nächstliegende Ansprechpartner,
aber würde man sie dort überhaupt ernst nehmen? Der Bürgermeister
sollte die Bibliothekarin umbringen wollen? Weil er Russinnen ins
Land schmuggeln wollte? Na klar. Äußerst glaubhaft.
Zumindest musste sie Daisy warnen. Jennifer fasste
schon nach dem Telefon, hielt aber in der Bewegung inne, bevor sie
den Hörer erreicht hatte. Wenn sie Temples Telefonate belauschen
konnte, dann konnte er auch ihre belauschen.
Sie hatte Zeit bis zur Mittagspause; dann würde
Sykes versuchen, Daisy zu kriegen.
Wen sollte sie also anrufen? Das Sheriffbüro von
Jackson County? Das FBI in Huntsville? Oder die
Einwanderungsbehörde? Das Sheriffbüro nicht, dachte sie; Temple
hatte sein Netz weit gespannt, und die Männer des Sheriffs waren
ihr ein bisschen zu nahe. Andererseits fuhr Temple oft nach
Huntsville; ob er auch Verbindungen zur Bundespolizei hatte?
Bestimmt nicht. Trotzdem wollte sie ihn keinesfalls unterschätzen;
sie hatte eine Chance, aber nur diese eine Chance, ihn loszuwerden,
ohne dabei das Minimum an Zuneigung, das ihre Kinder für sie
empfanden, auch noch zu verlieren.
Sie versuchte nachzudenken, eine Anstrengung, die
sie sich allzu lange verwehrt hatte. Eine Freundin, die sie um
Hilfe oder Rat bitten konnte, hatte sie nicht. Ihre Eltern waren
nach Florida gezogen, und ihr einziger Bruder hatte seit Jahren
nicht mehr mit ihr gesprochen; wahrscheinlich hatte sie nicht
einmal mehr seine Telefonnummer. Ab wann hatte sie sich eigentlich
so isoliert?
Sie musste irgendetwas unternehmen, und sei es nur,
dass sie zur Bücherei fuhr und Daisy warnte. Nicht einmal das
musste sie. Sie brauchte nur zu warten, bis Temple das Haus
verlassen hatte, damit er sie nicht belauschen konnte, und dann bei
Daisy anzurufen, um sie zu warnen. Fürs Erste würde das genügen,
aber danach musste sie sich überlegen, wie sie Elton Philipps und
ihrem Ehemann ein für alle Mal Einhalt gebieten konnte.
Evelyn ließ alles stehen und liegen, zog sich an
und fuhr sofort zu Daisy. Noch auf der Türschwelle, nagelte sie
Jack mit einem bohrenden Mutterblick fest und wollte wissen: »Was
geht
hier vor, dass Sie glauben, jemand könnte mir folgen, warum sollen
wir niemandem verraten, wo Daisy hingezogen ist, und warum musste
ich ihre Nummer aus meiner Anruferkennung löschen?«
»Sie wurde möglicherweise Zeugin eines Mordes«,
antwortete Jack, der gerade seinen Teller in die Spüle
stellte.
»Ach du meine Güte.« Zittrig ließ Evelyn sich auf
den Stuhl sinken, den Jack eben frei gemacht hatte. Midas tollte
zur Begrüßung wie aufgezogen um ihre Füße herum, sodass sie sich
unwillkürlich vorbeugte, um ihn zu kraulen.
»Der Leichnam wurde in Madison County gefunden,
deshalb bringe ich sie nach Huntsville, damit sie dort ihre Aussage
macht. Sorgen macht mir vor allem, dass jemand ihr Kennzeichen weiß
und ihren Namen herausfinden wollte; das lässt vermuten, dass
irgendwer sie ausfindig machen möchte. Möglicherweise bin ich ein
bisschen übervorsichtig, aber bis die Sache geklärt ist, muss sie
sich verstecken.«
»Sie reden von meiner Tochter. Da können Sie gar
nicht vorsichtig genug sein. Sie unternehmen alles, damit ihr
nichts passiert, haben Sie verstanden?«
»Jawohl, Madam. Sie sollten währenddessen alle ihre
Verwandten warnen, keine Auskünfte über Daisy zu geben. Niemand
darf etwas über sie erfahren, nicht einmal der Bürgermeister.
Vielleicht ist er in die Sache verstrickt.«
»Ach du meine Güte«, sagte Evelyn wieder. »Temple
Nolan?«
»Er hat mich gebeten, ihr Autokennzeichen zu
überprüfen.«
»Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache
Erklärung -«
»Würden Sie dafür Daisys Leben aufs Spiel
setzen?«
»Nie und nimmer.«
Während die beiden sich unterhielten, hatte Daisy
methodisch und mit nachdenklicher Miene die Küche aufgeräumt. »Wenn
der Bürgermeister in die Sache verwickelt ist, dann kennt er uns
alle: Mutter, Tante Jo, Beth, mich. Falls es tatsächlich darum
gehen sollte, mich mundtot zu machen, dann
schweben sie ebenfalls in Gefahr. Er weiß genau, dass ich alles
unternehmen würde, um sie zu beschützen.« Sie schaute Jack an; in
ihrem blassen Gesicht leuchteten die Augen noch intensiver. »Können
Sie alle bewachen lassen? Nicht nur Beth, sondern auch Nathan und
die Jungs?«
Er zögerte kurz und entschied sich dann für die
Wahrheit. »Nur vorübergehend. Es ist eine Geldfrage. Wir können
nicht unbefristet Leute zur Bewachung abstellen.«
»Es handelt sich aber um eine langfristige
Angelegenheit, es sei denn, ich kann einen der drei Männer auf den
Fahndungsfotos identifizieren, oder das Verbrechen wird zufällig
aufgeklärt, und es handelt sich um einen ganz anderen Täter.«
Er nickte, ihrem Blick standhaltend. Er wünschte,
sie hätte die Situation nicht so klar erkannt, aber sie war zu
intelligent und gescheit, als dass sie nicht irgendwann von selbst
auf die Antwort gekommen wäre. Er brauchte nur ihr lebhaftes
Mienenspiel zu beobachten, um die Gedanken zu lesen, die ihr durch
den Kopf jagten.
»Zerbrich dir nicht unnötig den Kopf; wir haben
auch so schon genug Probleme. Wir werden eines nach dem anderen
angehen. Erst machst du deine Aussage und gibst die Beschreibungen
der drei Kerle ab, und dann sehen wir weiter.«
»Na gut, aber vorläufig soll meine Familie nicht
nur beschützt werden, ich will auch, dass sie fort ist.« Sie
wandte sich an Evelyn. »Wie wär’s mit einer Woche in den Smoky
Mountains? Du und Tante Jo mit Beths gesamter Familie.«
»Ich lasse dich nicht allein zurück, solange das
hier nicht geklärt ist!«, protestierte Evelyn energisch.
»Es wäre aber sicherer für mich«, wandte Daisy mit
unwiderlegbarer Logik ein.
Evelyn zögerte, hin- und hergerissen zwischen ihrem
gesunden Menschenverstand und dem mütterlichen Instinkt, um ihr
Kind zu kämpfen.
»Zum einen«, setzte Daisy ihr auseinander, »ist es
viel einfacher
für die Polizei, eine Person zu überwachen als sieben. Zum anderen
bin ich weniger abgelenkt, wenn ich weiß, dass ihr in Sicherheit
seid, und mache darum auch weniger Leichtsinnsfehler.«
»Sie hat Recht«, leistete Jack ihr Schützenhilfe.
»Packen Sie ein paar Sachen zusammen, und verlassen Sie so schnell
wie möglich die Stadt. Bis dahin kann ich ein paar Beamte für Ihre
Bewachung abstellen und die Kollegen in Huntsville bitten, das
Gleiche für Beths Familie zu tun.«
»Was ist mit dem Hund?« Evelyns Blick fiel auf
Midas, der an einem Stuhlbein herumkaute. »Wer kümmert sich um
den?«
Daisy folgte ihrem Blick und bückte sich hastig.
»Nein, Midas, nein!«, schimpfte sie ihn und hob ihn hoch. Falls er
ihren strengen Tonfall registriert hatte, war ihm das weder an
seinem aufgeregten Gezappel anzumerken noch an dem hektischen
Schwanzwedeln oder dem gierigen Lecken, mit dem er sich für ihre
Aufmerksamkeit bedankte. »Ich werde bis auf weiteres ganz
offensichtlich nicht arbeiten, also werde ich mich selbst um ihn
kümmern.«
Evelyn wiederholte: »Midas, wie?«, wobei ihre
Stimme erkennen ließ, dass sie sich, wenn auch widerwillig, in die
Notwendigkeit gefügt hatte, ihre Tochter in Jacks Obhut zu
lassen.
Daisy wühlte die Nase in das plüschige Fell, um die
Tränen zu verbergen, die ihr plötzlich in den Augen brannten. »Jack
hat ihn getauft. Andernfalls hätte ich ihn Wuschel nennen
müssen.«
Jack mischte sich ein, bevor die Szene allzu
emotional werden konnte. »Meine Damen, es gibt viel zu tun. Ich
muss ein paar Anrufe machen; Mrs. Minor, auf Sie warten zwei meiner
Leute, wenn Sie nach Hause kommen.«
»Meine Güte«, sagte sie, nach dem Telefon greifend.
»Da sollte ich Jo lieber vorwarnen.«
Dreißig Sekunden später war sie auf dem Weg zur
Tür. Jack
rief ihr nach: »Rufen Sie bei Beth an und sagen Sie ihr, sie soll
anfangen zu packen. Glauben Sie, dass Nathan schon in der Arbeit
ist?«
»Nein, er arbeitet in der Spätschicht.«
»Sehr gut. Ich rufe in Huntsville an und lasse sie
alle sofort unter Personenschutz stellen. Wenn es irgendwelche
Probleme mit seinem Arbeitgeber geben sollte, dann rufen Sie mich
an, damit ich das kläre.«
Mit einem Nicken stieg Evelyn die Stufen vor der
Veranda hinab. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um.
»Eines sollen Sie noch wissen.«
»Was denn?«, fragte er vorsichtig, durch ihre
schmalen Augen misstrauisch geworden.
»Ich bin eine verflixt gute Schwiegermutter, wenn
ich das mal sagen darf. Aber ich gebe eine noch bessere Feindin ab,
wenn Sie zulassen, dass meiner Tochter irgendwas passiert.«
»Ja, Madam«, antwortete er, als hätte er sie
vollkommen verstanden.
Daisy schaute ihrer Mutter überrascht und mit
großen Augen nach. »Sie hat dich bedroht«, stellte sie fassungslos
fest.
»Ziemlich massiv.«
»Äh … was die Sache mit der Schwiegermutter angeht
-«
»Darüber reden wir später. Jetzt mach dich fertig.«
Seine große Hand schabte mit einem kratzigen Geräusch über sein
Kinn. »Dürfte ich deinen Rasierer ausborgen? Ich will dich nicht
allein lassen, um mich zu Hause zu rasieren.«
Daisy machte sich fertig, während er in ihrem
Schlafzimmer telefonierte. Immer wieder streckte sie den Kopf aus
dem Badezimmer, um mitzubekommen, was er sagte, konnte aber kaum
ein Wort verstehen. Schließlich gab sie auf und konzentrierte sich
ganz aufs Schminken, den Blick fest in den Spiegel gerichtet und
mit dem Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Sie war doch
nur Daisy Minor, eine Bibliothekarin, die zeit ihres Lebens in
dieser Kleinstadt gelebt hatte. Menschen
wie sie rechneten nicht damit, dass ihnen so etwas widerfahren
könnte. Doch kaum hatte sie beschlossen, auf Männerjagd zu gehen,
wurde sie von Männern gejagt. Offenbar war ganz allgemein die
Jagdsaison eröffnet.
Jack kam ins Bad. »So, mit deinen Verwandten ist
alles geregelt. Meine Leute werden deine Mutter und deine Tante zu
Beth begleiten. In ein paar Stunden müssten alle in Sicherheit
sein.«
»Gut.« Sie beugte sich vor, legte etwas Lippenstift
auf und trat dann zurück. »Das Bad ist jetzt frei. Der Rasierer ist
im Medizinschrank.«
Temple trödelte mit seinem Frühstück, das aus
frisch gepresstem Orangensaft und einem Bagel mit Streichkäse
bestand. Normalerweise ging er um acht Uhr dreißig aus dem Haus,
doch heute saß er um acht Uhr fünfundvierzig immer noch am
Esstisch. Patricia, ihre Köchin und Haushälterin, kam aus der
Küche, um die Betten zu machen und Wäsche zu waschen.
Jennifer brachte keinen Bissen herunter; das kam
öfter vor, doch sonst aß sie nichts, weil sie zu verkatert dafür
war; heute war ihr schlecht, weil ihre Nerven unter Hochspannung
standen. Schweigend saß sie da, nippte hin und wieder an ihrem
Kaffee und wünschte sich, sie könnte einen Schuss Whisky
hineinkippen, ohne das allerdings zu wagen. Sobald sie den ersten
Schuss hineinkippte, würde der zweite folgen - und wenig später
würde sie völlig auf den Kaffee verzichten. Ihre Hände zitterten so
stark, dass sie die Finger gegen die Tasse pressen musste und das
Beben mit Willenskraft zu unterdrücken versuchte, während sie
gleichzeitig insgeheim flehte, dass Temple bald verschwinden würde,
weil sie nicht wusste, wie lange sie es noch aushalten würde.
Er redete nicht mit ihr, doch das war keine
Seltenheit. Auch wenn sie im selben Haus wohnten, führten sie
getrennte Leben. Er erzählte ihr nicht mehr, bei welchen
gesellschaftlichen Anlässen
man sie als Bürgermeistersgattin erwartet hätte; er erzählte ihr
überhaupt nichts mehr, weder wohin er ging, noch wann sie ihn
zurückerwarten konnte. Er erzählte ihr nichts über seinen
Tagesablauf; er erzählte ihr nicht einmal mehr, wenn eines der
Kinder bei ihm angerufen hatte, obwohl sie aus einigen ihrer
Bemerkungen geschlossen hatte, dass sie regelmäßig mit ihm
sprachen. Anscheinend telefonierte er im Rathaus mit ihnen, denn zu
Hause riefen sie niemals an.
Vielleicht hatte sie die beiden schon
unwiderruflich verloren, dachte sie und schluckte den Ekel
herunter, der auf einer Blase von Kummer nach oben steigen wollte.
Ihre Babys … natürlich waren sie inzwischen erwachsen, doch eine
Mutter vergaß niemals die Zeit, als sie aus ihrem Bauch gekommen
waren, als sie noch so klein und hilflos gewesen waren, dass sie
als Mutter für ihre Kinder die ganze Welt bedeutet hatte und
umgekehrt.
Ihre Kinder schämten sich für sie. Sie wollten
nicht mit ihr reden, nicht in ihrer Nähe sein. Temple hatte ihr das
angetan, doch sie hatte ihm dabei Hilfestellung geleistet. Sie
hatte Zuflucht in der Flasche gesucht, statt der Wahrheit ins
Gesicht zu sehen: dass der von ihr geliebte Mann sie nicht liebte,
sie nie geliebt hatte, sie niemals lieben würde. Sie war für ihn
nur ein Mittel zum Zweck. Eigentlich hätte sie ihre Kinder packen
und ihn verlassen sollen, ganz gleich, wie viel Schlamm während der
Scheidung geschleudert worden wäre - denn eine Schlammschlacht wäre
es mit Sicherheit geworden, so gut kannte sie Temple inzwischen -,
sie hätte zumindest ihren Stolz behalten, und ihre Kinder würden
sie nun nicht verachten.
Jennifer schaute auf die Uhr. Fünf vor neun. Wieso
war er immer noch hier?
Das Läuten des Telefons ließ sie hochschrecken.
Temple stand auf, schaltete den schnurlosen Apparat ein, ging damit
in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
Darum also; er hatte auf einen Anruf
gewartet.
Bebend nahm sie ihre Kaffeetasse mit nach oben in
ihr Schlafzimmer, dann schloss und verriegelte sie ihre Tür.
Patricia hatte bereits das Bett gemacht und das Bad aufgeräumt.
Jennifer ließ sich aufs Bett sinken und sah auf ihren
Telefonapparat. Wenn sie jetzt den Hörer abnahm, würde Temple das
Klicken hören; wenn sie ihn sonst belauschte, hob sie stets im
selben Moment ab wie er und deckte anschließend mit der Hand das
Mikrofon ab, damit kein Geräusch durchdrang.
Das Herz schlug ihr im Hals. Sie riss den Hörer
hoch und drückte wild ein paar Knöpfe, so als wollte sie jemanden
anrufen. Obwohl sie den Hörer gar nicht am Ohr hatte, hörte sie
Temple rufen: »Jennifer! Verdammt noch mal! Ich telefoniere
noch.«
»W-was?«, stammelte sie und ließ ihre Stimme ein
wenig unsicher klingen. Vielleicht würde er annehmen, dass sie
schon vor dem Frühstück getrunken hatte. »Tsch-schuldigung. Ich
wollte nur -«
»Ist mir scheißegal. Geh aus der Leitung.«
Sie hörte ein Gurgeln am anderen Ende, ein tiefes
Lachen, bei dem ihr eiskalt wurde und sich sämtliche Härchen
aufstellten. Elton Philipps.
»’schuldigung«, lallte sie nochmals, bevor sie die
Sprechmuschel mit der Hand abdeckte und kurz mit dem Finger auf die
Gabel drückte, damit es so klang, als hätte sie den Hörer
aufgelegt.
»Blöde Kuh«, knurrte Temple. »Tut mir Leid.«
»Schon gut«, beschwichtigte Philipps und lachte
wieder. »Sie haben sie ja schließlich nicht wegen ihres Hirns
geheiratet.«
»Das steht mal fest. Sonst würde ich jetzt dumm
dastehen, weil sie nämlich keines hat.«
»Allmählich frage ich mich aber, ob sie die Einzige
ist, bei der die Birne ein bisschen flackert. Sie haben in letzter
Zeit eine Menge verbockt.«
»Ich weiß. Es tut mir wirklich Leid, Mr. Philipps.
Aber inzwischen hat Sykes alles unter Kontrolle.«
»Das wird sich noch zeigen. Die Russinnen treffen
morgen früh hier ein, und ich möchte, dass Mr. Sykes sich voll auf
die Lieferung konzentriert. Wenn er das Problem mit dieser
Büchereitante bis dahin nicht gelöst hat, wäre ich sehr, sehr
unglücklich.«
Erst jetzt fiel Jennifer ein, dass der
Anrufbeantworter in ihrem Apparat auch über eine
»Aufnahme«-Funktion verfügte. Blinzelnd studierte sie das kleine
Kästchen und suchte nach dem richtigen Knopf. Er musste bei den
anderen Tasten zu finden sein. ABSPIELEN, LÖSCHEN, PAUSE - hier:
AUFNAHME. Sie drückte die kleine rote Taste und betete, dass man
das nicht in der Leitung hörte.
»Er schnappt sie sich, wenn sie mittags aus der
Bücherei kommt, oder spätestens, wenn sie heute Nachmittag nach
Hause fährt. Sie wird ganz einfach verschwinden. Wenn Sykes sich
persönlich einer Sache annimmt, gibt es nie Probleme.«
»Ach ja? Und warum wurde dann Mitchells Leiche so
schnell gefunden?«
»Das hat Sykes nicht selbst erledigt. Er musste auf
dem Parkplatz des Clubs bleiben, um festzustellen, wer sie
beobachtet hatte. Die anderen beiden haben den Leichnam
entsorgt.«
»Trotzdem geht der Fehler auf das Konto von Mr.
Sykes.«
»Ja.«
»Dann ist das hier seine letzte Chance. Und
Ihre.«
Philipps legte so abrupt auf, dass Jennifer um ein
Haar die Verbindung unterbrochen hätte. Doch dann wartete sie,
endlose Sekunden lang. Warum legte Temple nicht auf? Den Finger auf
die Gabel gelegt, saß sie da. Wartete er vielleicht auf ein
verräterisches Klicken? Kalter Schweiß lief ihr über den
Rücken.
Endlich klickte es in der Leitung, und im nächsten
Moment hatte sie die Verbindung getrennt und legte vorsichtig den
Hörer
auf den Apparat zurück. Sie flog halb durchs Zimmer, um ihre Tür
wieder aufzuschließen, und rannte anschließend ins Bad, wo sie
eilig Zahnpasta auf ihre Bürste quetschte, das Wasser aufdrehte und
wie wild Zähne zu putzen begann. Temple kam nie in ihr
Schlafzimmer; sie war vollkommen unnötig in Panik -
Die Badezimmertür ging auf, und Temple sagte: »Was
zum Teufel -«
Sie zuckte kreischend hoch und versprühte dabei die
Zahnpasta über das Waschbecken. Sie war so wacklig auf den Beinen,
dass sie das Gleichgewicht verlor und rückwärts taumelte, bis sie
gegen die Toilette rumpelte, über die sie um ein Haar gepurzelt
wäre, hätte sie sich nicht in letzter Sekunde am Spültank
eingehalten und sich hart auf den Deckel fallen lassen, um sich zu
beruhigen.
Temple verfolgte ihre Darbietung mit Ekel. »Mein
Gott, du hast noch nicht mal gefrühstückt und schon einen
sitzen.«
Mit zitternder Hand wischte sie sich die Zahnpasta
vom Mund, ohne ihm zu antworten. Sollte er doch glauben, sie sei
betrunken; das war am sichersten so.
»Wen wolltest du anrufen?«
Sie zeigte auf ihre Haare, wobei sie versehentlich
mit der Zahnbürste über ihre Wange schrubbte. »Ich muss mir die
Haare machen lassen.«
»Allerdings. Nächstes Mal pass auf, dass ich nicht
gerade telefoniere, bevor du anfängst, irgendeine Nummer
einzutippen.« Er wartete gar nicht ab, ob sie ihm das versprach,
sondern drehte sich wortlos um und dampfte ab. Den Kopf gegen das
Waschbecken gelehnt, atmete Jennifer tief durch und bemühte sich,
ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. Als sie sich halbwegs sicher
auf den Beinen fühlte, stand sie wieder auf, wusch sich das
Gesicht, spülte ihren Mund aus und entfernte zum Schluss mit einem
Waschlappen die Zahnpasta aus ihren Haaren.
Sie hatte den Anrufbeantworter nicht wieder
ausgeschaltet.
Darum kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück; Temple hatte die Tür
offen gelassen, die sie schloss, bevor sie zum Telefon ging und die
Aufnahme ausschaltete.
Das kleine Band war Gold wert. Die Frage war nur,
was sie damit anfangen sollte. Wem konnte sie es vorspielen? Temple
hatte oft genug erzählt, dass der neue Polizeichef, dieser Russo,
»sein« Junge sei, was nur bedeuten konnte, dass ihr Mann Russo
unter seinem Daumen hatte. Er war ganz froh gewesen, als Beason,
der alte Polizeichef, in Ruhestand gegangen war, weil Beason schon
zu lange im Amt gewesen war, seine Nase in zu viele Dinge gesteckt
hatte und viel zu viele Geheimnisse kannte. Ob Russo so blind war,
wie Temple meinte, blieb abzuwarten, aber dieses Risiko konnte
Jennifer im Moment nicht eingehen. Denn diesmal durfte sie auf gar
keinen Fall einen Fehler machen.
Sie blieb noch eine halbe Stunde auf ihrem Zimmer,
bevor sie nach unten ging, um nachzusehen, ob Temple schon gefahren
war. Er war nicht in seinem Büro, darum sah sie in der Garage nach;
sein Auto stand nicht mehr da.
Endlich! An seinem Schreibtisch sitzend, suchte sie
die Telefonnummer der Bücherei heraus und wählte.
»Öffentliche Bücherei Hillsboro.«
Jennifer atmete erst einmal durch. »Kann ich bitte
mit Daisy Minor sprechen? Hier ist Jennifer Nolan.«
»Tut mir Leid, aber Daisy ist heute nicht da. Ich
bin Kendra Owens; kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Herr im Himmel, und jetzt? »Ist sie zu Hause? Kann
ich sie dort erreichen?«
»Also, ich weiß nicht. Ihre Mutter hat gesagt, sie
hätte Zahnschmerzen, also ist sie wahrscheinlich beim
Zahnarzt.«
»Wissen Sie, zu welchem Zahnarzt sie geht?«
Jennifer merkte, wie ihr alles aus der Hand glitt. Sie brauchte
etwas zu trinken. Nein. Nein, sie brauchte nichts zu
trinken; sie brauchte jetzt ihre gesamte Konzentration.
»Nein, leider nicht.«
»Es ist wichtig, verdammt noch mal! Überlegen Sie!
Ich muss sie sofort sprechen; jemand wird versuchen, sie
umzubringen.«
»Verzeihung? Madam? Was haben Sie eben
gesagt?«
»Sie haben mich schon richtig verstanden!« Jennifer
packte den Hörer so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Sie
müssen sie finden! Ich habe gehört, wie mein Mann am Telefon mit
einem Mann namens Sykes geredet hat, der sie umbringen wird, wenn
ich sie nicht warnen kann.«
»Vielleicht sollten Sie lieber die Polizei anrufen
-«
Jennifer knallte den Hörer auf die Gabel und
vergrub das Gesicht in den Händen. Und jetzt? Zahnärzte. Wie viele
Zahnärzte gab es wohl in Hillsboro? Nicht viele, aber wenn Daisy
nun zu einem Zahnarzt in, hm, … Fort Payne ging? Oder in
Scottsboro?
Nein, Moment. Sie würde Daisys Mutter anrufen und
sie fragen, zu welchem Zahnarzt sie gegangen war.
Sie schlug die Nummer nach, aber bei Mrs. Minor
ging niemand an den Apparat.
Jennifer klappte die Gelben Seiten auf, fand den
Eintrag Zahnärzte und begann zu wählen. Sie durfte einfach
nicht aufgeben. Sie war schon oft im Leben gescheitert, doch
diesmal durfte sie um keinen Preis versagen.