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Daisys Eingeweide flatterten wie Flaggen bei
Windstärke 12. Sich mit Todd Lawrence zu verabreden, hatte ihre
Nerven bis zum Zerreißen strapaziert, obwohl er tatsächlich so
zuvorkommend gewesen war, wie ihre Mutter behauptet hatte. Sie
sorgte sich nicht nur, dass sie ihn möglicherweise beleidigt hatte
- was er in diesem Fall ausgezeichnet zu verbergen verstand -, sie
fand es auch absolut erniedrigend, dass sie bei einer so
einfachen Tätigkeit wie dem Schminken Hilfe brauchen sollte. Was
hatte sie nur falsch gemacht? Sie wusste, dass sie nicht dumm war,
aber war sie auf diesem Gebiet wirklich so unbeholfen, dass ihre
Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt waren? Sie
konnte schon jetzt die Witze hören: Daisy Minor sucht einen Mann?
Haha; die kann ja nicht mal Mascara auftragen.
Und wollte sie tatsächlich einen Mann, der nicht
sie selbst sah, so wie sie wirklich war, sondern eine dicke Schicht
Make-up brauchte, bevor er sie überhaupt wahrnahm?
Leider ja. Sie hatte es mit dem »wahren Selbst«
lang genug
probiert und rein gar nichts erreicht. Nullo. Wenn sie sich
aufpolieren musste, um das zu bekommen, was sie sich wünschte -
eine Familie nämlich -, dann würde sie polieren, bis sie
blinkte.
Die frisch erworbene Erkenntnis, wie altbacken sie
wirkte, lähmte sie beinahe, als sie sich zur Arbeit anzog. Diesmal
hatte sie ihre Anziehsachen nicht schon am Vorabend bereitgelegt.
Nun stand sie also vor ihrem Schrank und starrte auf die Ansammlung
langweiliger Röcke, langweiliger Blusen und langweiliger Kleider.
Sie ertrug es nicht, auch nur ein Stück davon anzuziehen, nicht
einen einzigen Tag mehr. Unschlüssig harrte sie aus, bis sie zum
allerersten Mal in ihrem Leben wirklich Gefahr lief, zu spät zur
Arbeit zu kommen. Schließlich zerrte sie ein Paar schwarze Hosen
aus dem Schrank und stieg hinein. Noch nie hatte sie Hosen zur
Arbeit angezogen, was allerdings auf ihre Fantasielosigkeit
zurückzuführen war, nicht etwa auf eine entsprechende Vorschrift.
Dies war ein weiterer Bruch mit ihrem alten Leben, und ihr Herz
hämmerte ebenso ängstlich wie aufgeregt. Natürlich besaß sie kein
elegantes Top, nur ihre unauffälligen, langweiligen weißen Blusen,
dennoch zog sie eine davon an und steckte den Saum in den
Hosenbund, um dann einen Gürtel umzulegen und mit den Füßen in ihre
schwarzen Halbschuhe zu schlüpfen.
Weil sie keinen prüfenden Blick in den Spiegel mehr
wagte, schnappte sie sich einfach ihre Handtasche und rannte die
Treppe hinunter.
Tante Jo zog die Brauen hoch, als sie Daisy sah,
sagte aber nichts.
»Und?«, wollte Daisy wissen, die diese schweigende
Inspektion nur noch nervöser machte.
Evelyn kam aus der Küche und nahm ihre Tochter in
Augenschein. »Nett«, urteilte sie schließlich mit einem Kopfnicken.
»Anders. Und in der Hose kommt dein Hintern zur Geltung.«
Herr im Himmel; jetzt würde sie den ganzen
Tag lang keinem Menschen den Rücken zukehren können. Bestürzt
schaute sie auf die Uhr. Zum Umziehen war keine Zeit mehr. »Warum
hast du das gesagt?«, jammerte sie.
Evelyn lächelte. »Das ist doch nur gut so,
Schätzchen. Wenn ich mich recht entsinne, haben Männer eine
Schwäche für schöne Hintern. Versuch ihn beim Gehen ein bisschen zu
schwenken.«
»Schwenken«, wiederholte Daisy wie betäubt, weil
sie immer noch nicht begreifen wollte, dass ihre Mutter - ihre
Mutter! - es für gut hielt, wenn man die Umrisse ihres
Hinterns erkennen konnte.
»Du weißt schon … hin und her.« Zur Demonstration
marschierte ihre Mutter quer durchs Zimmer, mit einem dezenten
Schaukeln in den Hüften, das den Blick unwillkürlich auf ihr
Hinterteil lenkte. Die Bewegung war so verblüffend sexy, dass Daisy
der Atem wegblieb. Ihre Mutter? Ihre intellektuelle, so gar
nicht mondäne Mutter?
»Aber nicht zu wild«, riet Tante Jo. »Sonst sieht
es aus, als würden zwei Schweinchen in einem Sack zappeln.«
Was zu viel war, war zu viel. Mit einer gemurmelten
Entschuldigung, sie käme sonst zu spät zur Arbeit, floh Daisy aus
dem Haus.
Sie hatte kaum den Schlüssel in das Schloss für den
Angestellteneingang geschoben, als hinter ihr ein weißes Auto
bremste und Chief Russo ausstieg. Er stand vielleicht nicht ganz
oben auf der Liste von Menschen, die Daisy heute auf gar keinen
Fall sehen wollte, aber eindeutig in der Spitzengruppe. Sie
versuchte, sich seitlich hinzustellen, um ihren Hintern aus seinem
Blickfeld zu nehmen, doch er schien sich ohnehin nicht dafür zu
interessieren. Mit finsterer Miene kam er auf sie zu. »Sie sind
spät dran.«
Daisy schaute auf ihre Uhr. Es war zwölf Sekunden
vor neun. »Ich bin pünktlich.«
»Sonst kommen Sie immer eine halbe Stunde zu früh.
Heute nicht. Also sind Sie spät dran.«
»Woher wissen Sie, wann ich in die Arbeit komme?«
Sie merkte, wie sie nervös wurde und sich in die Enge gedrängt
fühlte. Ein einziges Mal wäre sie beinahe zu spät gekommen, und
ausgerechnet an diesem Tag musste jemand auf sie warten.
Außerdem stand er viel zu dicht neben ihr, er bedrängte sie auf die
für ihn so typische, unangenehme Weise, fast als wollte er sie mit
seiner Größe einschüchtern. Womöglich hatte er damit sogar Erfolg,
denn sie wurde nervös und fühlte sich in die Enge gedrängt. Sie
versuchte, näher an die Tür heranzurutschen.
»Wenn ich vorbeifahre, ist in der Bücherei immer
schon Licht.«
Was bedeutete, dass sie regelmäßig vor ihm in der
Arbeit war. Sie verkniff sich im letzten Moment ein Schmunzeln und
setzte stattdessen ihre Bibliothekarinnen-Miene und -Stimme auf.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Chief?«
»Ja«, antwortete er knapp wie ein typischer Yankee.
»Ich wollte gestern Abend in die Online-Bibliothek, aber das
Programm ließ sich nicht öffnen. Sie haben mir das falsche Passwort
aufgeschrieben oder so.«
Warum waren eigentlich ständig die Frauen an allem
schuld?, fragte sie sich und verdrehte heimlich die Augen. »Wenn
sich die Seite nicht öffnen lässt, müssen Sie wahrscheinlich Ihren
Browser upgraden.«
Er starrte sie an, als hätte sie Chinesisch
gesprochen.
»Ihren Browser«, wiederholte sie. »Wie alt ist Ihr
Computer?«
Er zuckte mit den Achseln. »Zwei oder drei
Jahre.«
»Und haben Sie jemals einen Upgrade gemacht, seit
Sie ihn gekauft haben?« Sie kannte die Antwort, bevor sie auch nur
die Frage gestellt hatte. Am liebsten hätte sie ihn selbst tüfteln
lassen, aber das ließen ihre guten Manieren und ihre seit frühester
Kindheit praktizierte Hilfsbereitschaft nicht zu. Schließlich
war sie Bibliothekarin; es war ihre Pflicht, ihm zu helfen, wenn
er in die virtuelle Bibliothek wollte. »Haben Sie einen Laptop oder
einen PC?« Sie tippte auf den Laptop. Er gehörte zu den
Ungeduldigen, die ihren Computer ständig dorthin mitnehmen wollten,
wo sie ihn zu brauchen meinten.
»Laptop.«
Sie schrieb sich zwei Punkte gut. »Wenn Sie ihn
vorbeibringen, zeige ich Ihnen, wie man einen Upgrade macht.
Vorausgesetzt, Sie können so viel speichern.« Sollte er doch selbst
entscheiden, ob sie damit den Computer oder sein Gehirn
meinte.
So wie er die Augen zukniff, hatte er sie wohl im
letzteren Sinne verstanden, aber er ließ die Sache auf sich
beruhen. »Ich habe ihn im Auto.« Er stelzte zurück zu seinem
Dienstwagen, einem Crown Victoria, hob den Laptop vom Beifahrersitz
und trug ihn locker in einer Hand zurück.
Sie sperrte den Angestellteneingang auf und drehte
sich zur Seite, um ihm den Laptop abzunehmen. »Heute Mittag können
Sie ihn wieder abholen«, sagte sie.
Er ließ das Gerät nicht los. »Könnten Sie das nicht
gleich erledigen?«
»Das habe ich auch vor, aber es wird ein paar
Minuten dauern.«
»Wie viele sind ein paar?«
Verzagt erkannte sie, dass er warten wollte. »Sind
Sie nicht im Dienst?«
Er tippte auf den Piepser an seinem Gürtel. »Ich
bin immer im Dienst. Wie viele sind ein paar?«
Diese verfluchte moderne Elektronik, fluchte sie
insgeheim. Auf gar keinen Fall wollte sie, dass er ständig über
ihr hing. »Kommt ganz darauf an.« Sie versuchte auszurechnen,
wie lange ihm wohl zu lange wäre. »Eine Dreiviertel- bis ganze
Stunde.«
»Dann warte ich.«
Verflucht, verflucht. Ihr einziger Trost war, dass
es bestimmt
nicht so lange dauern würde, den Upgrade durchzuführen; danach
würde er sie wieder in Frieden lassen.
»Gut. Ich erwarte Sie am Haupteingang.« Sie trat
ein und hätte ihm fast die Tür ins Gesicht geschlagen, weil er
ebenfalls einen Schritt nach vorn gemacht hatte. Er fing die Tür im
letzten Moment mit der Hand ab. »Ich komme mit rein«, erklärte er
mit düsterem Blick.
Daisy streckte die Schultern durch. »Das geht
nicht.«
»Warum nicht?«
Sie hätte gedacht, das würde sich von selbst
verstehen. Also wies sie auf das Schild an der Tür, das nur wenige
Zentimeter von seiner Nase entfernt war. »Dies ist der Eingang für
Angestellte. Sie sind kein Angestellter.«
»Ich bin städtischer Angestellter.«
»Sie sind kein Angestellter der Bücherei, und nur
das zählt.«
»Verdammt noch mal, Lady, wen interessiert das
schon?«, fuhr er sie ungeduldig an.
Noch mehr Punktabzüge. Mit seinen Strafpunkten
hätte er ein ganzes Springreitturnier bestreiten können. »Nein. Sie
gehen zum Haupteingang.«
Offenbar hatte er ihre eiserne Miene endlich zur
Kenntnis genommen. Er musterte sie kurz, als würde er überlegen, ob
er sie einfach über den Haufen rennen sollte, machte dann aber,
einen Fluch brummelnd, auf dem Absatz kehrt und stürmte um das
Gebäude herum zur Vorderseite.
Sie blieb allein stehen, mit untertassengroßen
Augen. Er hatte ein ausgesprochen derbes Wort gebraucht. Jedenfalls
war sie ziemlich sicher, eines gehört zu haben. Natürlich hatte sie
es schon öfter gehört; man konnte heutzutage kaum einen Film
anschauen, ohne dass es einem um die Ohren gehauen wurde. Außerdem
war sie ins College gegangen, wo sich die jungen Leute gegenseitig
darin zu übertrumpfen versuchten, wie cool und weltgewandt sie
waren, indem sie alle ihnen bekannten Schimpfwörter verwendeten;
sie hatte es sogar schon selbst
verwendet. Doch Hillsboro war eine Kleinstadt in den Südstaaten,
und hier galt es immer noch als schlechte Kinderstube, wenn ein
Mann in Gegenwart einer Frau derartige Ausdrücke verwendete.
Frauen, die nicht mal mit der Wimper zuckten, wenn ihre Männer oder
Freunde daheim fluchten wie die Droschkenkutscher, plusterten sich
auf wie Königin Victoria, wenn sie dieselben Wörter in der
Öffentlichkeit hörten. Und so etwas zu einer Frau zu sagen, die man
kaum kannte, war ein absoluter Fauxpas, der mangelnde Erziehung und
mangelnden Respekt verriet -
Ein Donnern an der Vordertür riss sie aus ihren
entrüsteten Gedanken; der Unhold lauerte bereits an ihrer Tür. Vor
sich hin schimpfend, eilte sie durch die dunkle Bücherei, um die
Tür aufzuschließen.
»Wieso haben Sie so lange gebraucht?«, fauchte er,
kaum dass er eingetreten war.
»Ich war so schockiert über Ihre Ausdrucksweise,
dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte«, erwiderte sie
kühl, nahm ihm den Laptop ab und trug ihn zu dem Online-Terminal
der Bücherei, nicht ohne unterwegs die Lichter einzuschalten.
Wieder brummelte er vor sich hin, doch diesmal
verstand sie glücklicherweise kein Wort. Von seinem nächsten Satz
konnte sie das leider nicht behaupten. »Sie sind ein bisschen zu
jung, um die Arschbacken zusammenzukneifen wie eine alte
Jungfer.«
Zumindest kam sie nicht ins Stolpern, das musste
sie sich zugute halten. »Gutes Benehmen ist keine Frage des Alters,
sondern der Erziehung.« Sie setzte den Laptop ab und stöpselte ihn
geschickt in der Steckdose und der Telefonbuchse ein.
Er brauchte einen Augenblick. »Wollen Sie etwa
meine Mutter beleidigen?«, knurrte er schließlich.
»Keine Ahnung. Tue ich es denn? Oder haben Sie nur
alles vergessen, was sie Ihnen beigebracht hat?«
»Scheiße!«, brach es aus ihm heraus, dann atmete er
tief durch. »Also gut, ich bitte um Entschuldigung. Manchmal
vergesse ich einfach, dass ich hier bei den Waltons gelandet
bin.«
Wenn er die Menschen hier wirklich so langweilig
und engstirnig fand, sollte er sich überlegen, ob er nicht besser
dorthin zurückkehrte, wo er hergekommen war, dachte sie wütend,
behielt ihren Gedanken aber für sich, bevor ihr Wortgefecht in
einen richtigen Streit ausartete. »Entschuldigung angenommen«, rang
sie sich ab, obwohl sie das auch gnädiger hätte sagen können, wenn
sie sich ganz, ganz viel Mühe gegeben hätte. Sie setzte sich und
ging online, tippte dann die Internetadresse des Browsers ein und
wartete ab, bis der Computer die Seite gefunden und abgebildet
hatte. Dann klickte sie auf das Update-Feld und überließ den Rest
der modernen Technik.
»Das ist alles?«, fragte er, den Blick fest auf die
kleine Uhr gerichtet.
»Das ist alles. Sie sollten das regelmäßig machen,
am besten alle sechs Monate.«
»Sie sind gut.«
»Ich musste das schon öfter machen, seit wir die
virtuelle Bibliothek haben«, erwiderte sie spröde.
Er setzte sich neben sie; natürlich viel zu nahe.
Sie rückte mit dem Stuhl ab. »Sie kennen sich mit Computern
aus.«
»Eigentlich nicht. Ich weiß, wie man so was macht,
aber das habe ich mir selbst beigebracht. Ich finde mich
einigermaßen im Internet zurecht, ich kann einen Computer ans Netz
bringen und Programme herunterladen, aber ich bin bestimmt kein
Computerfreak oder so.«
»Das Rathaus ist nicht mal online. Die
Wasserrechnungen und die Lohnabrechnungen werden per Computer
erstellt, aber das ist auch schon alles.«
Er beugte sich vor, stemmte die Ellbogen auf die
Knie und starrte auf den Bildschirm, als könne er den Vorgang
dadurch beschleunigen.
»Aber die Polizei ist vernetzt, oder? Sie haben
doch Anschluss an die ganzen Polizei-Datenbanken?«
Er schnaubte. »Schon. Einen Anschluss, einen
Computer.« Er wirkte entnervt.
»Hillsboro ist eben eine Kleinstadt«, bemerkte sie.
»Wir haben keinen großen Etat. Außerdem gibt es hier kaum
Verbrechen.« Sie verstummte, plötzlich verunsichert. »Oder?«
»Wenig. Seit ich hier bin, hat es innerhalb der
Gemeindegrenzen noch keinen einzigen Mord gegeben. Natürlich gibt
es wie überall Einbrüche und Fälle von Körperverletzung.
Alkoholfahrten. Ehestreitigkeiten.«
Sie hätte ihn für ihr Leben gern gefragt, in
welchem Haus es Ehestreitigkeiten gab, biss sich aber auf die
Zunge. Am Ende würde er es ihr verraten, dann würde sie es Mutter
und Tante Jo weitererzählen und sich anschließend schämen, weil sie
getratscht hatte.
War er näher an sie herangerückt? Sie hatte ihn
nicht dabei beobachtet, aber sie meinte auf einmal, seine
Körperwärme zu spüren und ihn zu riechen. Weshalb rochen Männer
noch mal so ganz anders als Frauen? Wegen des Testosterons? Ihrer
Körperbehaarung? Es war kein unangenehmer Geruch; im Gegenteil, er
war verlockend. Aber vor allem war er anders, so als würde
der Polizeichef einer fremden Art angehören. Er war ihr ganz
eindeutig auf die Pelle gerückt!
Jetzt reichte es. »Sie bedrängen mich«, bemerkte
sie sehr höflich.
Ohne sich vom Fleck zu rühren, schaute er nach
unten; ihre Stühle standen mindestens zwei Zentimeter auseinander.
»Ich berühre Sie doch gar nicht«, erwiderte er ebenso
höflich.
»Ich habe auch nicht behauptet, dass Sie mich
berühren; nur dass Sie mir zu nahe kommen.«
Er verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus,
rückte aber mit dem Stuhl zwei Zentimeter zur Seite. »Ist das auch
so eine komische Südstaaten-Regel?«
»Sie arbeiten bei der Polizei; eigentlich müssten
Sie sich mit Körpersprache auskennen. Schüchtern Sie damit Ihre
Verdächtigen ein - indem Sie in ihre persönliche Aura
eindringen?«
»Nein, zum Einschüchtern nehme ich meistens eine
Neun-Millimeter. Auf diese Weise werden meine Signale nur selten
falsch verstanden.«
Ach, jetzt wollte er wohl den großen Macho
markieren? Es war ja so typisch männlich, mit der Größe seiner
Waffe zu prahlen. Sie hätte liebend gern die Augen verdreht, aber
das hatte er eben getan, und sie wollte ihn um keinen Preis der
Welt nachahmen.
Ein typischer Mann … Plötzlich kam ihr das Gespräch
in den Sinn, das sie gestern Abend mit ihrer Mutter und Tante Jo
geführt hatte, und ein Gedanke begann sie zu kitzeln, bis sie ihn
energisch beiseite schob. Nein, darüber wollte sie sich auf keinen
Fall mit ihm unterhalten. Sie wollte nur das Update seines Browsers
zu Ende bringen, damit er endlich wieder abzog -
»Wissen Sie eigentlich, was Mauve ist?«, platzte es
aus ihr heraus. Die Worte waren ihr von der Zunge gepurzelt, ehe
sie ihnen Einhalt gebieten konnte.
Diese Frage traf ihn fast wie ein elektrischer
Schlag. Er zuckte zurück und sah sie an, als wären ihr unversehens
Fangzähne und Tentakel gewachsen. »Was ist das denn für eine
Frage?«, erkundigte er sich misstrauisch.
»Ich wollte es einfach nur wissen.« Sie verstummte.
»Und?«
»Wieso glauben Sie, dass ich es wissen
könnte?«
»Tue ich ja gar nicht. Ich frage einfach
nur.«
»Für mich hört sich das an wie ein Test, mit dem
Frauen herausfinden wollen, ob ein Mann schwul ist oder nicht.
Warum fragen Sie nicht einfach, wenn es Sie interessiert?«
»Es interessiert mich nicht«, wehrte sie ab,
fassungslos, dass er das für möglich hielt. »Es ist nur so, dass
jemand anderes - ach, vergessen Sie’s.« Sie wurde rot. Das spürte
sie genau; ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie starrte wie
hypnotisiert auf den
Computerschirm und versuchte, die Datenübertragung durch
Willenskraft zu beschleunigen.
Er fuhr sich mit einer rauen Hand über das kurze
Haar. »Rosa«, murmelte er.
»Was?«
»Rosa. Mauve ist so ein Modewort für Rosa, nicht
wahr? Ich habe es ständig zu hören bekommen, wenn meine Frau Sachen
für unsere Wohnung ausgesucht hat, aber für mich haben sie immer
rosa ausgesehen.«
Meine Güte, Tante Jo hatte Recht, was Mauve anging;
es war kein aussagekräftiger Test mehr. War das nicht interessant?
Sie konnte es kaum erwarten, den beiden davon zu erzählen.
»Und Taupe?«, fragte sie und hätte sich dafür
ohrfeigen können. Warum konnte sie nie Ruhe geben?
»Tob?« Er reagierte, als hätte er noch nie von so
einem Wort gehört.
»Taupe. Was für eine Farbe ist Taupe?«
»Buchstabieren Sie es.«
»T-a-u-p-e.«
Diesmal fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht.
»Das ist eine Fangfrage, stimmt’s?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Taupe. Wer in aller Welt würde eine Farbe ›Taupe‹
nennen? Das hört sich nach Tod an, und kein Mensch möchte etwas,
das nach Tod aussieht.«
»Taupe ist eine ausgesprochen hübsche Farbe«,
berichtigte sie.
Er sah sie ungläubig an. »Wenn Sie meinen.«
»Wissen Sie jetzt, was für eine Farbe es ist, oder
nicht?«
»Verdammt noch mal, nein, ich weiß nicht, was für
eine Farbe Taupe ist«, schnauzte er. »Mir reichen die richtigen
Farben; Blau und Grün und Rot, solche Sachen. Taupe, leck mich am
Arsch. Das haben Sie sich doch ausgedacht.«
Sie schmunzelte. »Nein. Sie können gern im
Wörterbuch nachschlagen.« Dabei deutete sie auf die
Lexika-Abteilung. »Dort drüben stehen mehrere.«
Er schnaubte, schrammte mit seinem Stuhl zurück und
stapfte wütend zu dem Regal mit den Lexika. Er blätterte in einem
Wörterbuch, fuhr mit dem Finger über mehrere Spalten und las dann
kurz vor: »›Maulwurfsgrau, braungrau‹«, grummelte er
kopfschüttelnd. »Nicht dass ich noch nie was Maulwurfsgraues oder
Braungraues zu sehen bekommen hätte, aber Sie können Gift drauf
nehmen, dass ich nicht mit dem Finger darauf zeigen und sagen
würde: ›Das sieht ja taupe aus!‹«
»Wie würden Sie es denn bezeichnen?«, frotzelte
sie. »Mit einem wahnsinnig fantasievollen Wort wie Maulwurfsgrau?
Obwohl ich persönlich Taupe immer eher als Lilagrau eingeschätzt
hätte.«
»Wenigstens würden die Menschen verstehen, wovon
ich, verflucht noch mal, rede, wenn ich maulwurfsgrau sagen würde
oder sogar lilagrau. Wer braucht so eine Farbe überhaupt? Wer würde
schon in einen Laden gehen und den Verkäufer fragen, ob er ein
taupes Hemd hat, solange er noch einigermaßen bei Sinnen ist? Oder
sich ein taupes Auto kaufen? Es gibt mir ja schon zu denken, wenn
sich jemand ein lila Auto kauft, aber taupe? Hören Sie mir
auf. Taupe taugt höchstens als Schwulentest.«
Wahrscheinlich schon, aber das würde sie auf gar
keinen Fall zugeben. »Sie wissen jetzt, was für eine Farbe
Taupe ist«, konnte sie sich nicht verkneifen zu bemerken. »Von nun
an werden Sie immer, wenn Sie etwas Braungraues mit einem winzigen
Hauch von Lila sehen, denken: ›Das ist taupe.‹«
»O Himmel.« Er zwickte sich in die Nasenwurzel.
»Mir platzt gleich der Schädel«, murmelte er. Dann sah er mit
zusammengekniffenen Augen und Mordlust im Blick auf. »Wenn Sie auch
nur einer Menschenseele von diesem Gespräch erzählen,
werde ich alles abstreiten und Sie einsperren lassen, sobald Sie
auch nur bei Rot über die Straße gehen. Haben wir uns
verstanden?«
»Ich gehe nicht bei Rot über die Straße«,
entgegnete sie triumphierend. »Ich bin so gesetzestreu, dass man
mich auf einem Plakat für den verantwortungsbewussten Bürger
abbilden könnte. Ich habe Sie nicht mal durch den
Angestellteneingang reingelassen, richtig?«
»Menschen wie Sie brauchen Hilfe.« Sein Blick fiel
auf den Computerschirm, und er seufzte erleichtert. »Es ist
fertig.« Er schaute auf die Uhr. »Das hat bei weitem keine
Dreiviertelstunde gedauert. Eher eine Viertelstunde. Sie haben also
doch ein Laster, Miss Daisy.«
Sie merkte, wie sie die Zähne zusammenbiss, als sie
das »Miss Daisy« hörte. Wenn er sich noch einmal über ihren Namen
lustig machte, würde sie ihn k.o. schlagen. »Und welches?«, fragte
sie, während sie in Windeseile den Computer abstöpselte. Je
schneller er verschwand, desto besser.
Er nahm ihr den Laptop ab. »Sie lügen wie
gedruckt«, sagte er, ließ sie sprachlos stehen und war aus der
Bibliothek verschwunden, noch ehe ihr eine schlagfertige Erwiderung
eingefallen war.