18
Jack fuhr heim nach Hillsboro, gab den Pick-up
zurück, schaute nach, ob Daisy in ihrer Bücherei saß, und war den
restlichen Tag damit beschäftigt, den Kleinkram zu erledigen, der
Tag für Tag auf einer Polizeistation anfällt, und sei sie noch so
klein. Er verließ das Revier zur gewohnten Zeit, fuhr heim, mähte
den Rasen, um die Zeit totzuschlagen, ging danach ins Haus, duschte
und rief schließlich auf der Station an, um sich zu überzeugen,
dass Eva Fay heimgegangen war. Manchmal überkam ihn der Verdacht,
dass sie dort übernachtete, weil sie immer schon dort war, wenn er
eintrudelte, und noch arbeitete, wenn er Schluss machte, selbst
wenn das noch so spät war. Als Sekretärin war sie wahrhaft Angst
einflößend. Außerdem war sie so gut in ihrem Job, dass er sie am
liebsten nach New York versetzt hätte, um auszuprobieren, welche
Wunder sie dort auf manchen Revieren bewirken würde.
In seinem Büro ging niemand an den Apparat, darum
konnte er in aller Ruhe zurückkehren. Sein Auto stand in der
Einfahrt, wo alle Welt es sehen konnte. Er ließ die
Arbeitsbeleuchtung in der Küche, eine Nachttischlampe oben im
Schlafzimmer und ein Licht im Wohnzimmer brennen. Das Fernsehen
lieferte Hintergrundgeräusche, falls jemand zufällig lauschen
sollte. Es gab keinen Grund, warum irgendwer sein Haus beobachten
sollte, wenigstens nicht, solange der große Unbekannte, der hinter
Daisy her war, nichts von seiner intimen Liaison mit ihr wusste,
aber trotzdem wollte er kein Risiko eingehen.
Kurz nach Sonnenuntergang kramte er alles zusammen,
was er möglicherweise brauchen konnte, und verstaute es in den
Hosentaschen. In Jeans, schwarzem T-Shirt und mit Baseballkappe -
diesmal schwarz und ohne Aufschrift - huschte er aus der Hintertür
und schlenderte zu Fuß zurück zur Polizeistation.
Zu dieser Stunde befand sich praktisch ganz Hillsboro im Haus,
nachdem alle Hausarbeiten erledigt waren und das Abendessen
verspeist war, und hockte vor der Glotze. Er hörte das hohe Lachen
einiger Jungen, die auf Glühwürmchenjagd waren, aber das kam aus
einer Parallelstraße. Vielleicht saß der eine oder die andere noch
auf der Veranda und genoss die frische, endlich abgekühlte Luft,
aber Jack wusste, dass er in der hereinbrechenden Nacht so gut wie
nicht wieder zu erkennen war.
Der Dienst habende Sergeant für die Spätschicht,
Scott Wylie, sah überrascht auf, als Jack durch die Hintertür
hereinkam, die von allen Beamten benutzt wurde. Es war eine ruhige
Nacht und niemand sonst auf der Wache, weshalb Wylie die
Angelzeitschrift in seiner Hand nicht einmal zu verstecken
versuchte. Jack hatte sich aus dem einfachen Dienst emporgearbeitet
und wusste aus eigener Erfahrung, wie sich eine lange, langweilige
Schicht hinziehen konnte, weshalb er seinen Leuten keine
Vorhaltungen wegen ihrer Lektüre machte. »Chief! Ist
irgendwas?«
Jack grinste. »Ich dachte, ich übernachte hier,
weil ich endlich mal erfahren möchte, wann Eva Fay eigentlich zur
Arbeit kommt.«
Der Sergeant lachte. »Viel Glück. Sie hat bei
solchen Sachen einen sechsten Sinn; wahrscheinlich meldet sie sich
morgen krank.«
»Ich bin eine Weile in meinem Büro, ich muss noch
ein paar Sachen erledigen. Eigentlich hatte ich mir das für morgen
vorgenommen, aber jetzt ist mir was dazwischengekommen.«
»Klar doch.« Wylie vertiefte sich wieder in seine
Zeitschrift, und Jack öffnete die Glastür in den Bürotrakt. Die
Polizeistation war zweistöckig und L-förmig angelegt, wobei sich
die Büros in dem kurzen, der Straße zugewandten Abschnitt befanden,
während die Umkleideräume für die Beamten, Duschen,
Asservatenkammer, Ausnüchterungszelle und Verhörräume
im Erdgeschoss des langen Flügels untergebracht waren, direkt
unter den Zellen im ersten Stock.
Jacks Büro lag im ersten Stock mit Blick auf die
Straße. Er trat ein, schaltete die Schreibtischlampe ein, verteilte
einige Papiere auf dem Schreibtisch, damit es so aussah, als hätte
er gearbeitet - nur für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass
jemand heraufkam -, und holte dann aus der Schreibtischschublade
einen Schlüssel, mit dem er wenig später in den Keller schlich, wo
ein kurzer unterirdischer Gang die Polizeistation mit dem Rathaus
verband. Durch diesen an beiden Enden abgesperrten Gang wurden die
Gefangenen aus ihren Zellen zur Verhandlung ins Gericht gebracht.
Jack hatte einen Schlüssel, der Dienst habende Beamte hatte einen
Schlüssel, und der Stadtdirektor hatte einen Schlüssel gehabt, der
ihm allerdings abgenommen worden war, als herauskam, dass er für
seine Freundin Privatführungen durch den Gang veranstaltet
hatte.
Jack schloss die Tür auf der Seite des
Polizeireviers auf und sperrte wieder zu, sobald er im Gang stand -
auch diesmal nur für den Fall der Fälle. Hier unten war es finster
wie im Grab, aber Jack hatte eine Stift-Taschenlampe mit schmalem,
kräftigem Strahl dabei. Er schloss die Tür am anderen Ende auf und
ließ sie offen stehen, weil nach siebzehn Uhr keine Menschenseele
mehr im Rathaus war. Wie nicht anders zu erwarten, lag der
Rathauskeller still und dunkel vor ihm.
Lautlos stieg er die Stufen hoch; die Tür oben
hatte kein Schloss. Er drückte sie einen Spalt weit auf, lauschte
und schob dann sein Auge an den Spalt, um Ausschau zu halten, ob
vielleicht irgendwo ein Licht brannte, das eigentlich nicht brennen
durfte. Nichts zu sehen. Das Rathaus war still und verlassen.
Deutlich entspannter knackte er das brüchige
Schloss an der Tür zum städtischen Wasseramt - die Stadt sollte
unbedingt neue Schlösser einsetzen, er brauchte nur ein paar
Sekunden, um es zu öffnen - und ließ den Computer hochfahren. Das
System war durch kein Passwort geschützt, weil es vom Netz
abgekoppelt
war. Er klickte den Ordner »Programme« an, fand das Programm für
das Rechnungswesen und öffnete es. Wie praktisch, dass hier so
ordentliche Menschen arbeiteten: Kundennummern und Namen waren
penibel verknüpft. Er musste nur Daisys Namen heraussuchen, ihn
anklicken, statt ihrer Adresse seine eigene eingeben, die Änderung
abspeichern und das Programm wieder schließen. Fertig.
Nachdem das erledigt war, fuhr er den Computer
herunter, schaltete ihn aus und schloss die Tür wieder hinter sich
ab, um anschließend die Treppe hinaufzusteigen zum Büro des
Bürgermeisters. Er hatte keine Ahnung, wonach er dort suchte, aber
er wollte sich auf jeden Fall einmal umsehen.
Genau wie sein eigenes Büro hatte das des
Bürgermeisters zwei Türen: eine zu Nadines Heiligtum sowie einen
zweiten, unauffälligen Ausgang, der direkt auf den Flur führte.
Hier waren die Schlösser deutlich stabiler als an der Tür zum
Wasseramt.
Jack entschloss sich, Nadines Tür zu knacken, weil
er darauf hoffte, dass sie annehmen würde, sie hätte abends
versehentlich nicht abgeschlossen. Wie schon einen Stock tiefer zog
er einen kleinen Satz von Sperrhaken und Drahtstiften aus seiner
Hosentasche, steckte die Taschenlampe in den Mund, ging in die
Hocke und machte sich ans Werk. Er war ein begabter Schlossknacker,
obwohl er seit seinem Umzug nach Hillsboro nicht oft auf diese
Fähigkeit hatte zurückgreifen müssen - bis heute Abend. Wenn er
nach seiner SEK-Ausbildung oder seinen einschlägigen Erfahrungen
gefragt wurde, wollte nie jemand etwas über die Zusatzausbildungen
wissen, die er dabei absolviert hatte. Die Einsätze spielte er
stets herunter - er war kein Rambo, das war keiner von ihnen
gewesen, obwohl auch Männer darunter waren, die sich von dem
Mythos, der ihre Arbeit umgab, hinreißen ließen -, und von seinen
Ausbildungen redete er lieber nicht, weil es ihm klug erschien,
etwas in Reserve zu haben.
Das Schloss gab nach etwa einer halben Minute nach.
Ein
Normalbürger wäre entsetzt zu wissen, wie leicht sich eine
abgeschlossene Tür öffnen ließ; die meisten Menschen glaubten, es
würde genügen, den Schlüssel herumzudrehen, um in Sicherheit zu
sein. Leider waren die Menschen nur vor jenen Menschen in
Sicherheit, die ohnehin gesetzestreu waren und sich von einer
verschlossenen Tür abschrecken ließen. Ein Gauner würde einfach ein
Fenster einschlagen oder eine Tür eintreten; Jack wusste aus
Erfahrung, dass manche von ihnen sogar unter Holzhäuser krabbelten
und Löcher in den Boden sägten. Alarmanlagen und Sperrriegel waren
eine feine Sache, aber wenn jemand wirklich entschlossen war, in
ein Haus einzudringen, dann würde er es schaffen.
Man brauchte nur ihn selbst anzuschauen, wie er ins
Büro des Bürgermeisters einbrach. Grinsend huschte Jack durch
Nadines Vorzimmer, den Strahl der Taschenlampe nach unten
gerichtet, damit er nicht versehentlich übers Fenster zuckte, und
drehte den Türknauf zu Temple Nolans Büro. Die Tür ging auf; das
konnte dreierlei bedeuten: Entweder hatte Temple Nolan nichts zu
verbergen, oder er war verboten unvorsichtig, oder er hatte dafür
gesorgt, dass es hier nichts Verdächtiges zu entdecken gab. Jack
hoffte auf die erste Möglichkeit, hielt die dritte aber für
wesentlich wahrscheinlicher.
Schnell und systematisch wühlte er den Papierkorb
durch, fand aber außer einem zusammengeknüllten Notizzettel mit
Daisys Autokennzeichen nichts Interessantes. Er strich den Zettel
glatt; es war ein Blatt von dem Block mit dem Aufdruck Temple
Nolan, ebenjenem Block, der jetzt auf Temples Schreibtisch lag.
Daraus folgte, dass der Bürgermeister hier im Büro gewesen war, als
ihn jemand gebeten hatte, die Autobesitzerin zu diesem Kennzeichen
ausfindig zu machen.
Die Durchsuchung des bürgermeisterlichen
Schreibtisches förderte nichts zu Tage. Jack suchte mit Blicken das
Büro ab, aber hier gab es keine Aktenschränke, nur ein paar
Sitzmöbel. Sämtliche Akten befanden sich in Nadines Vorzimmer.
Dafür
standen zwei Telefone auf Temples Schreibtisch. Eines war der
Amtsanschluss, erkennbar an der daneben angebrachten Liste mit
Durchwahlnummern. Das andere musste ein Privatanschluss sein, auf
dem Temple ohne Nadines Wissen Anrufe machen und empfangen
konnte.
Auch wenn das ein Schuss ins Blaue war, zog Jack
einen Mikrorekorder aus seiner Jackentasche, drückte die
Wahlwiederholungstaste auf Nolans Privattelefon, nahm mit dem
Rekorder die Wähltöne aus dem Hörer auf und legte sofort wieder
auf. Er kannte jemanden, der sich die Töne nur anzuhören brauchte,
um zu wissen, welche Nummer gewählt worden war. Als Nächstes wählte
er die *69 und kritzelte die vom Computer genannte Nummer auf
Temples Notizblock. Der letzte entgegengenommene Anruf war ein
Ferngespräch gewesen, also hatte ganz offensichtlich nicht seine
Frau angerufen, um sich zu erkundigen, wann Temple zum Abendessen
heimkommen würde. Jack riss ein paar Seiten zusätzlich von dem
Notizblock, um sicherzugehen, dass der Kugelschreiber keine Spuren
hinterlassen hatte, knüllte die leeren Blätter zusammen und ließ
sie in den Papierkorb fallen. Der Müll würde weggebracht werden,
bevor Nolan zur Arbeit kam, außerdem war es wenig wahrscheinlich,
dass er seinen eigenen Müll durchwühlte, in dem sich nichts
Interessantes fand, außer dem Papier mit Daisys Autokennzeichen,
das Jack ebenfalls in den Korb zurückgeworfen hatte.
Mehr konnte er in dieser Nacht nicht tun. Mit einem
Taschentuch wischte er alles, was er berührt hatte, sorgfältig ab;
dann verschwand er wieder durch Nadines Vorzimmer. Er kehrte durch
den unterirdischen Gang ins Polizeigebäude und dort in sein Büro
zurück, wo er alle Papiere, die er zuvor verstreut hatte, wieder
aufstapelte, damit Eva Fay nicht merkte, dass er während ihrer
Abwesenheit hier gewesen war. Zuletzt schaltete er das Licht aus
und schloss ab. Alles war genauso, wie er es vorgefunden
hatte.
Er machte sich auf den Weg zum Hinterausgang;
inzwischen war Leben auf dem Revier eingekehrt; ein
Streifenpolizist hatte einen alkoholisierten Autofahrer
eingeliefert, einen zwei Meter großen Schrank, der mindestens 150
Kilo wog. Als Jack durch die Tür trat, schauten Sergeant Wylie und
der Kollege kurz zu ihm herüber und achteten einen
Sekundenbruchteil nicht auf ihren Gefangenen, der seine Chance zur
Flucht gekommen sah, mit einer Schulter den Beamten wegschubste,
dass er durch die halbe Station flog, und dann den Kopf senkte, um
ihn geradewegs in Wylies Magen zu rammen.
Jack hatte schon länger nicht mehr kämpfen müssen.
Mit einem Freudenschrei stürzte er sich ins Getümmel.
Zu dritt gelang es ihnen schließlich, den Riesen zu
überwältigen, auch wenn sie zu drastischen Mitteln greifen mussten,
ehe sie ihn am Boden hatten. Nur gut, dass der Kerl in Handschellen
war, sonst hätte sich jemand ernsthaft verletzen können. Auch so
verzog Sergeant Wylie, nachdem sie den Autofahrer erst gebändigt
und gefesselt hatten, das Gesicht, als er sich an die Rippen
fasste.
»Ist was gebrochen?« Jack wischte Blut unter seiner
Nase weg.
»Ich glaub nicht. Wahrscheinlich nur geprellt.«
Aber er verzog erneut das Gesicht, als er sie berührte.
»Lassen Sie sich untersuchen. Ich übernehme das
hier.«
Der Streifenbeamte Enoch Stanfield hatte sich eine
dicke Lippe und ein blaues Auge eingefangen. Leicht bebend nach
dieser Überdosis Adrenalin, tränkte er sein Taschentuch am
Wasserspender und presste dann den nassen Stoff auf sein Auge.
»Mein Gott, ich liebe diesen Job«, keuchte er erschöpft. »Nirgendwo
sonst hätte ich die Möglichkeit, mich jeden Tag so zurichten zu
lassen.« Er sah Jack an. »Man hätte meinen können, Sie hätten sich
gut amüsiert, Chief.«
Jacks Blick kam auf dem trunkenen Riesen zu liegen,
der in Tiefschlaf gefallen war, gleich nachdem sie ihn gefesselt
hatten.
Gargantuanische Schnarcher stiegen rumpelnd aus seinem riesigen
Mund. »Ich lebe für solche Tage.« Auch Jack fühlte sich schlagartig
verausgabt, auch wenn er nicht so zitterte wie Stanfield.
Er musste einen weiteren Beamten herrufen, der
ihnen half, den Betrunkenen in die Ausnüchterungszelle zu
schleifen, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte. Außerdem
bestellte er einen Notarzt aufs Revier, der kontrollieren würde, ob
es dem Arrestanten gut ging, dass es sich nicht um einen
Insulinschock oder etwas Ähnliches handelte, auch wenn das
Atemanalysegerät anzeigte, dass ihr schlafender Gast schlicht und
einfach sternhagelvoll war, eine Diagnose, die der Arzt
letztendlich bestätigte. Auf Stanfields Auge wurde eine Kühlpackung
gelegt, seine Lippe wurde vernäht, und ein zweiter Kühlpack landete
auf Jacks linker Hand, die allmählich anzuschwellen begann. Er
hatte keine Ahnung, wie er sich die Hand verletzt hatte, aber so
war das eben bei einer Rauferei: Man warf sich einfach in den Kampf
und machte erst hinterher Inventur. Bis er alles geregelt hatte,
darunter auch die Frage, wer für Wylie bis Schichtende einsprang,
war es beinahe halb elf; die Männer von der dritten Schicht waren
schon zur Übergabe eingetroffen, aus der zweiten Schicht waren alle
Kräfte außer Wylie anwesend, und ein paar Leute aus der ersten
Schicht hatten über Funk von dem Aufruhr gehört und waren
hergekommen, weil sie sich das Schauspiel nicht entgehen lassen
wollten. Schließlich wurde der Chef nicht jeden Tag in eine
Rauferei mit einem Betrunkenen verwickelt.
»Ich fürchte, das wird Eva Fay garantiert zu Ohren
kommen«, meinte Jack trübselig, womit er allgemeines Gelächter
erntete.
»Sie wird Ihnen ganz schön die Hölle heiß machen,
dass Sie ohne sie hergekommen sind«, bestätigte Markham, mit seinen
zwanzig Dienstjahren ein alter Kämpe im Polizeidienst,
fröhlich.
Die Männer, begriff Jack, genossen die Situation
von Herzen. Die Leute aus den unteren Rängen bekamen ihren Chef
nicht oft im körperlichen Einsatz zu sehen. Sie waren ein wenig
reserviert ihm gegenüber, was nicht allein auf den Rangunterschied
zurückzuführen war, sondern vielmehr darauf, dass er als
Außenseiter empfunden wurde. Dass er den betrunkenen Bären
niedergerungen hatte, vermittelte ihnen das Gefühl, dass er einer
von ihnen war und trotz seines Postens ein ganz gewöhnlicher
Bulle.
Um das Maß voll zu machen, musste er zu Fuß nach
Hause gehen. Natürlich hätte er sich von einem der Jungs heimfahren
lassen können, doch dann hätte er eine einigermaßen einleuchtende
Erklärung abgeben müssen, warum er zu Fuß hergekommen war, und
darauf wollte er sich lieber nicht einlassen.
Das Haus war so, wie er es verlassen hatte. Nichts
schien verändert oder berührt worden zu sein. Er ging sofort ans
Telefon und rief bei der Auskunft an, um festzustellen, ob er sich
die Nummer des Privatanschlusses im Bürgermeisterbüro geben lassen
konnte. Es war kein solcher Anschluss aufgeführt, was ihn nicht
überraschte. Als Nächstes rief er Todd Lawrence an, der sich beim
dritten Läuten mit einem verschlafenen »Hallo?« meldete.
»Ich habe die Adresse geändert«, sagte er.
»Zusätzlich habe ich mir auf dem Privatanschluss des Bürgermeisters
über die Rückruffunktion die Telefonnummer des letzten Anrufers
ansagen lassen, und außerdem habe ich die Wahlwiederholungstaste
gedrückt und die Tonfolge der letzten gewählten Nummer
aufgenommen.«
»Sie waren ja wirklich fleißig.« Todd hörte sich
gleich bedeutend wacher an.
»Also müssen wir zwei Nummern überprüfen. Glauben
Sie, Sie können auch die Privatnummer des Bürgermeisters
rausbekommen?«
»Auch? Ich soll also drei Telefonnummern ausfindig
machen.« Das war keine Frage.
»Wozu hat man Freunde bei der Bundespolizei?«
»Wenn Sie so weitermachen, wird Ihr Freund bei der
Bundespolizei bald gefeuert.«
»Ich tippe, mein Freund bei der Bundespolizei ist
Daisy das schuldig.«
Todd seufzte. »Schon gut. Okay. Ich sehe mal, was
ich tun kann, eventuell fordere ich ein paar alte Gefälligkeiten
ein. Aber die Sache bleibt absolut unter uns.«
Anschließend rief Jack bei Daisy an, auch wenn ihm
ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, dass es schon nach elf war.
Wahrscheinlich war sie um Punkt zehn zu Bett gegangen, doch nachdem
er den ganzen Tag ihretwegen solche Mühen auf sich genommen hatte,
fand er, dass er zumindest einen kleinen Plausch verdient
hatte.
»Hallo.« Sie hörte sich nicht verschlafen an; müde
ja, aber nicht verschlafen.
»Bist du schon im Bett?«
»Noch nicht. Es war ein … ereignisreicher
Abend.«
»Warum? Was ist denn passiert?« Augenblicklich
schrillten die Alarmglocken wieder.
»Ich kann ihn keine Sekunde lang aus den Augen
lassen, sonst zerfetzt er was.«
»›Ihn?‹«
»Den Hund.«
Den Hund. Jack atmete erleichtert auf. »Das hört
sich nicht so an, als sei er gut erzogen.«
»Er ist überhaupt nicht erzogen. Killer, nein! Lass
das! Ich muss auflegen«, verabschiedete sie sich hastig.
»Ich bin gleich da«, meinte er noch, gerade bevor
sie den Hörer aufgelegt hatte, sodass er nicht wusste, ob sie ihn
gehört hatte oder nicht. Es war ihm auch egal. Er schnappte sich
seine Schlüssel, schaltete die Lichter aus und verließ das
Haus.
Daisy war vollkommen erschöpft. Ihre Mutter hatte
um drei Uhr nachmittags angerufen und müde erklärt: »Jo und ich
bringen den Kleinen jetzt rüber. Bei dir ist wenigstens der Garten
eingezäunt, da kann er sich austoben. Wir bleiben dort, bis du
heimkommst.«
»O Gott.« Das verhieß nichts Gutes. »Was hat er
denn angestellt?«
»Du meinst wohl, was hat er nicht
angestellt? Wir laufen uns die Hacken ab, nur um mit ihm
mitzuhalten, aber er ist uns mühelos stets eine Schnauzenlänge
voraus. Jedenfalls sehen wir uns in ein paar Stunden.«
Als sie um zehn nach fünf daheim eingetroffen war,
lagen ihre Mutter und Tante Jo dösend im Wohnzimmer, während der
Welpe zwischen den Füßen ihrer Mutter schlummerte. Auf seinem
Bäuchlein liegend und mit den nach hinten ausgestreckten
Hinterläufen sah er so niedlich aus, fast wie ein winziges
Bärenfell, dass ihr sofort das Herz aufging.
»Hallo, mein Süßer«, gurrte sie. Ein schweres Lid
hob sich, der kleine Schweif wedelte kurz; im nächsten Moment war
er wieder eingeschlafen.
Tante Jo rappelte sich auf. »Gott sei Dank, dass du
zu Hause bist. Viel Glück; du wirst es mit dem kleinen Racker
brauchen. Komm, Evelyn, nichts wie weg hier, solange wir noch
lebend rauskommen.«
Evelyn setzte sich auf und blickte auf den Welpen
zwischen ihren Füßen. »Wir haben Miley Park angerufen, um uns zu
erkundigen, ob ihm was fehlt. Sie hat nur gelacht und geantwortet,
dass er vielleicht ein bisschen aufgeregt wegen der neuen Umgebung
sei, aber dass Golden-Retriever-Welpen pausenlos Unfug treiben, bis
sie ungefähr vier Monate alt sind. Nun, Pausen macht er durchaus,
aber nur, wenn er schläft.«
»Bei ihm gibt’s nur entweder - oder«, bekräftigte
Tante Jo. »Entweder rast er wie ein Irrer herum, oder er schläft.
Basta. Viel Spaß. Jetzt komm schon, Evelyn.«
»Vielleicht fahren wir noch am Wal-Mart vorbei und
besorgen uns ein Babyställchen, damit wir ihn wenigstens zeitweise
bändigen können. Sollen wir dir auch eins mitbringen?«
»Ach du Schreck, ist er wirklich so schlimm?« Daisy
war bestürzt. Er sah aus wie ein Engel, wenn er so schlafend
dalag.
»Anscheinend ist er schon fast stubenrein«, sagte
ihre Mutter. »Aber alle zwei Stunden muss er raus, und zwar auf die
Minute. Er hat auf die Vliese gepinkelt -«
»Wenn er sie nicht gerade in Fetzen gerissen hat«,
warf Tante Jo ein. »Komm endlich, Evelyn.«
»Er mag seine Spieltiere -«
»Er mag überhaupt alles und vor allem seinen
Wassernapf. Evelyn, wenn du nicht auf der Stelle mitkommst, dann
fahre ich ohne dich. Er kann jeden Moment aufwachen.«
Der Welpe hob den Kopf, gähnte und streckte dabei
die winzige rosa Zunge heraus. Innerhalb von zehn Sekunden hatten
Daisys Mutter und Tante die Handtaschen geschnappt und waren zur
Tür hinaus. Daisy stemmte die Hände in die Hüften und fasste die
kleine Flauschkugel ins Auge. »Na schön, Mister, was hast du nun
wirklich ausgefressen?«
Er rollte sich auf den Rücken und räkelte sich. Sie
konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen warmen kleinen
Bauch zu massieren, was er als Einladung nahm, sie überall
abzulecken, wohin seine gierige rosa Zunge nur reichte. Sie nahm
ihn hoch, knuddelte ihn und labte sich an der Wärme und den kleinen
Knochen unter dem flauschigen Fell. Seine großen, weichen Pfoten
stemmten sich gegen ihren Griff, und er wand sich, um ihr zu
zeigen, dass er auf den Boden wollte. Sie setzte ihn ab und
sprintete im nächsten Moment los, weil er sofort in Richtung Küche
abzischte.
Eigentlich wollte er nur ein bisschen Wasser. Er
schlabberte gierig, bevor er ganz unerwartet mit beiden
Vorderpfoten in den Napf hüpfte, woraufhin das Wasser durch die
ganze Küche spritzte.
Sie wischte den Küchenboden auf - was er für ein
wunderbares Spiel hielt, weil er sich unermüdlich auf den Mopp
stürzte -, fütterte ihn und brachte ihn dann nach draußen, damit er
sein Geschäft erledigen konnte. Sobald seine Füße das Gras
berührten, ging er in die Hocke; anschließend attackierte er einen
Busch. Aus Angst, dass er die Blätter nicht vertrug oder ihm danach
das Bäuchlein wehtun könnte, lockte sie ihn vom Busch weg und ließ
aus dem Schlauch Wasser in das Kinderplantschbecken laufen, das sie
für ihn gekauft hatte.
Er war zu klein, um über den Rand zu klettern,
darum half sie ihm hinein und schaute dann zu, wie er in dem fünf
Zentimeter tiefen Wasser herumtollte und schlitterte, bis er
klatschnass war, sie ebenfalls klatschnass war und ihr der Bauch
vor Lachen wehtat. Sie hob ihn aus dem Becken, wickelte ihn in ein
Handtuch und nahm ihn mit ins Haus, in der Hoffnung, dass er noch
mal einnicken würde, sodass sie etwas essen konnte.
Drinnen hüpfte er sofort wieder in seinen
Wassernapf. Während sie aufwischte, jagte er dem Mopp nach. Dann
bekam er das Küchenhandtuch zu fassen und brannte damit durch. Sie
erwischte ihn, als er eben unter dem Bett verschwinden wollte, und
zog ihn wieder hervor. Ihre Bemühungen, ihm das Handtuch
abzunehmen, erweckten in ihm offenbar den Eindruck, dass sie mit
ihm Tauziehen spielen wollte, weshalb er mit aller Kraft an dem
Handtuch zerrte und leise Knurrlaute ausstieß, bis der ganze kleine
Leib vor Anstrengung bebte.
Sie lenkte ihn mit einer kleinen Plüschente ab. Er
schleuderte die Ente über sein Köpfchen, hechtete darauf zu und
schaffte es, sie unter das Sofa zu bugsieren, wo er sie nicht
wieder hervorholen konnte. Also baute er sich davor auf und
kläffte, bis Daisy auf Hände und Knie ging und die Ente wieder
herauszog. Postwendend hatte er sie wieder unter das Sofa
gestopft.
Als Nächstes probierte sie es mit einem
Kauspielzeug als Ablenkung,
was ungefähr zehn Minuten lang klappte. Er lag auf dem Bauch und
nagte, das Kauspielzeug zwischen den Vorderpfoten haltend, mit
grimmiger Entschlossenheit darauf herum. Daisy nutzte die
Gelegenheit, um aus ihren Arbeitssachen zu schlüpfen und ein
Sandwich zuzubereiten. Noch bevor sie damit fertig war, hörte sie
ein Scheppern aus dem Wohnzimmer und lief barfuß hinüber, wo sie
entdeckte, dass er irgendwie die Fernbedienung des Fernsehers vom
Beistelltischchen geschubst hatte und sie nun zu zerlegen
versuchte. Sie nahm ihm die Fernbedienung ab und versteckte sie an
einem sicheren Ort.
Total begeistert stürzte er sich auf ihre roten
Nägel. Immer wieder sprang er an ihr hoch und versuchte, ihre
Finger in seinen Mund zu bekommen; erschrocken zuckte sie jedes Mal
mit der Hand zurück, denn seine kleinen, scharfen Babyzähne taten
weh. Schließlich ließ sie die Hand einfach hängen, während
er ihre Finger in den Mund nahm, als wollte er ihren Geschmack
aufnehmen, und sie nach einer Weile zufrieden wieder freigab.
Endlich wurde er schläfrig. Er fiel praktisch
mitten im Lauf um, plumpste, einen dicken Seufzer ausstoßend, auf
den Bauch und schloss die Augen.
»Ich glaube, das war ein anstrengender Tag für
dich, mein Kleiner«, redete sie ihm leise zu. »Vermisst du deine
Mama und deine Geschwister? Bis jetzt hattest du immer jemanden zum
Spielen, stimmt’s? Und plötzlich bist du allein.«
Mittlerweile war es nach sieben Uhr und sie halb
verhungert. Sie machte ihr Sandwich fertig und aß es im Stehen,
wobei sie ihn ständig im Auge behielt. Er sah so süß und winzig
aus, wenn er schlief, aber sobald er die Augen aufschlug, würde er
mit voller Kraft weiter Unsinn machen.
Er schlief mit der absoluten Selbstvergessenheit
eines Babys. Sie beschloss, kurz zu duschen, ließ aber die
Badezimmertür offen, damit er hereinkommen konnte, falls er
zwischendurch aufwachte. Die Sachen auf den Boden fallen lassend,
zog sie
sich aus und stieg in die Wanne. Kaum hatte sie sich eingeseift,
da hörte sie ein Geräusch, teilte den Vorhang und sah einen
hellbeigen Fellball mit ihrem Höschen im Maul durch den Flur
flitzen.
Daisy sprang aus der Wanne und sauste nackt und
glitschend hinterher. Irgendwie schaffte er es, mit seinem
erbeuteten Schatz hinter der Couch zu verschwinden. Sie zog die
Couch von der Wand weg und rettete ihr Höschen. Natürlich war ein
Loch drin. Er wedelte mit dem Schwanz.
»Du kleiner Schlawiner!« Sie hob ihn hoch und nahm
ihn mit ins Bad. Dort schloss sie die Tür, sodass er nicht
verduften konnte, legte ihre Anziehsachen auf dem Spülkasten der
Toilette ab, wo er nicht hinkam, und stellte sich wieder unter die
Dusche. Die ganze Zeit über stand er kläffend auf den Hinterbeinen
und versuchte, zu ihr in die Wanne zu klettern.
Die Episode mit dem Mopp hatte sie etwas gelehrt;
statt auf den Badevorleger zu treten und sich dort abzutrocknen,
blieb sie in der Wanne stehen. Auf den Hinterläufen hockend,
verfolgte er das Zucken des Handtuchs mit sehnsuchtsvollen Blicken
und engelsgleicher Miene.
Sein kleines Gesicht wirkte so glücklich, und sein
Mund schien zu einem ewigen Lächeln geöffnet. Unter dem bleichen
Fell und den langen blonden Wimpern sahen die dunklen Augen mit den
dunklen Rändern ungemein exotisch aus, fast als hätte jemand sie
mit Khol ummalt. Er war von einer unglaublichen Neugier und so
begeistert über alles und jedes, dass der kleine Schwanz
ununterbrochen hin- und herzuckte wie ein überdrehtes
Metronom.
»Auch wenn du ein kleiner Teufel bist«, sagte sie.
»Du bist mein kleiner Teufel, und ich hatte mich schon in
dich verliebt, als du in meinen Schoß geklettert bist.« Als er ihre
Stimme und den liebevollen Tonfall darin hörte, wedelte er noch
heftiger mit dem Schwanz.
»Ich brauche noch einen guten Namen für dich,
einen, der
groß und gefährlich klingt. Schließlich bist du zu meinem Schutz
da, weißt du? Und ich glaube nicht, dass sich viele Einbrecher
abschrecken lassen, wenn ich rufe: ›Schnapp ihn dir, Flauschi,
oder? Was hältst du von Brutus?«
Er gähnte.
»Recht hast du; du bist kein Brutus. Dafür
bist du zu hübsch. Und wie wär’s mit Devil?« Nach einer
kurzen, nachdenklichen Musterung verwarf sie den Namen wieder.
»Nein, das passt nicht, denn ich bin hundertprozentig sicher, dass
du ein ganz süßer Hund sein wirst, wenn du erst mal groß
bist.«
Den ganzen Abend über probierte sie Namen aus.
Conan, Duke, King, Rambo, Rocky, Samson, Thor, Wolf. Keiner passte.
Sie brachte es einfach nicht fertig, diesem lächelnden kleinen
Geschöpf einen gefährlich klingenden Namen zu verpassen.
Sie lernte, kein Wasser in seinem Trinknapf zu
lassen, weil es andernfalls unweigerlich auf dem Küchenboden
landete. Wenn er zu seinem Napf trabte, goss sie etwas Wasser
hinein, und wenn er das aufgeschlabbert hatte, goss sie wieder
etwas nach, bis er zu schlabbern aufhörte. Leider blieb meistens
ein Rest Wasser im Napf, wenn er fertig war, den er dann begeistert
verspritzte. Sieben Mal wischte Daisy an diesem Abend den
Küchenboden, jedes Mal begleitet von einem verbissen nach dem Mopp
jagenden Welpen.
Es erstaunte sie, wie gescheit er war; an nur einem
Nachmittag und Abend hatte er gelernt, an die Hintertür zu gehen,
wenn er rausmusste. Endlich schien er auch etwas ruhiger zu werden,
weshalb Daisy ihm das Körbchen zeigte, das sie in ihrem
Schlafzimmer aufgestellt hatte, damit er sich nachts nicht einsam
fühlte und jaulte. Sie machte die Schlafzimmertür zu, damit er
nicht durchs ganze Haus streunen konnte, steckte die Ente in sein
Körbchen und krabbelte todmüde ins Bett. Zwei Sekunden nachdem sie
das Licht ausgeschaltet hatte, begann er zu winseln.
Fünfzehn Minuten später gab sie auf und nahm ihn zu
sich
ins Bett. Er war außer sich vor Freude, hüpfte auf und ab, zerrte
ständig an der Decke und leckte ihr das Gesicht. Gerade als sie ihn
mühsam beruhigt hatte, läutete das Telefon. Jack war dran. Während
er mit ihr redete, entdeckte der Kleine ihren Bademantel, den sie
quer über das Bettende gelegt hatte, und verbiss sich in den Ärmel.
Sie schimpfte: »Killer, nein! Lass das! Ich muss auflegen«, und
knallte den Hörer auf den Apparat, um sich übers Bett zu werfen und
ihren zukünftigen Wachhund aufzufangen, gerade als er rückwärts auf
den Boden plumpste.
Keine fünf Minuten später ging die Türglocke. Mit
einem müden Seufzen stieg sie aus dem Bett, nahm den Welpen auf den
Arm und ging mit ihm zur Tür. Das erschien ihr am sichersten. Ein
kurzer Blick durchs Fenster verriet ihr, dass Jack auf der Veranda
wartete. Sie schaltete das Außenlicht an und entsicherte mit einer
Hand den Sperrriegel, um ihn einzulassen.
Er trat ein, blieb stehen und starrte wie
hypnotisiert auf den Welpen. »Das ist ja ein Welpe«, stellte er in
fassungslosem Erstaunen fest, was wirklich scharf beobachtet war,
wenn man in Betracht zog, dass sie ihm bereits erzählt hatte, sie
habe sich einen Hund zugelegt.
»O nein!«, erwiderte sie in gespieltem Entsetzen.
»Ich bin übers Ohr gehauen worden!«
»Das ist ein Golden-Retriever-Welpe.«
Sie drückte den Kleinen an ihre Brust. »Na
und?«
Mit wohl bedachten Bewegungen schloss Jack die Tür,
legte den Riegel wieder vor und donnerte mit dem Kopf rhythmisch
gegen den Türrahmen.
»Was hast du gegen meinen Welpen?«, wollte Daisy
wissen.
Gepresst antwortete er: »Der Witz an der ganzen
Sache war, dass du dir einen Hund zulegen solltest, der dich
beschützt.«
»Er wird schon noch größer«, prophezeite sie.
»Schau dir nur seine Pfoten an. Das wird ein Riesenkerl.«
»Aber er wird immer ein Golden Retriever
bleiben.«
»Was stört dich daran? Ich finde ihn
wunderschön.«
»Das ist er auch. Ein fantastischer Hund. Aber
Goldens sind so freundlich, dass sie überhaupt keinen Schutz
bieten. Sie halten jeden Menschen für einen Freund, der nur dazu da
ist, sie zu streicheln. Vielleicht bellt er ja, falls jemand durchs
Fenster einsteigt, weil er dir mitteilen möchte, dass du Besuch
hast, aber mehr auch nicht.«
»Mir reicht das. Er ist wie geschaffen für mich.«
Sie küsste den Welpen auf den Scheitel. Er versuchte sich zappelnd
ihrem Griff zu entwinden, um das unbekannte Menschenwesen zu
untersuchen.
Seufzend streckte Jack die riesige Hand aus und
nahm ihr den kleinen Kerl ab. Der Welpe begann mit Feuereifer jeden
Zentimeter Haut abzuschlecken, den er erreichen konnte. »Und er
heißt Killer?«
»Nein. Ich probiere noch Namen aus. So richtig
passt keiner.«
»Bestimmt keiner wie Killer, nein. Goldens
heißen Lucky oder Puschel.« Er hob den Welpen hoch,
bis ihre Nasen sich beinahe berührten. »Wie wär’s mit Midas?
Oder Riley? Oder -«
»Midas!« Mit leuchtenden Augen sah Daisy erst auf
Jack und dann auf den Welpen. »Das ist es!« Sie schlang die Arme um
Jack und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu
geben, doch der frisch getaufte Midas kam ihr zuvor und schleckte
ihr über den Mund. Sie wischte sich spottend die Lippen ab. »Vielen
Dank, Schätzchen, aber du küsst nicht halb so gut wie dieser Kerl
hier.«
»Danke«, meinte Jack und hielt Midas auf sichere
Distanz, während er sich vorbeugte, bis ihre Lippen aufeinander
trafen. Und aufeinander liegen blieben. Der Kuss wurde immer
tiefer. Wieder setzte das Schmelzen ein.
»Macht es dir was aus, wenn ich heute Nacht hier
bleibe?«, murmelte er, wobei seine Lippen an ihrem Hals abwärts
wanderten.
»Ganz und gar nicht«, sagte sie, konnte aber ein
gewaltiges, kiefergefährdendes Gähnen nicht unterdrücken.
Jack lachte kurz. »Lügnerin. Du bist ja stehend
k.o.«
Daisy errötete. »Ich hatte gestern einen ziemlich
anstrengenden Tag. Und eine anstrengende Nacht.« Sie sah auf Midas.
»Und einen anstrengenden Abend. Ich kann ihn keine Sekunde lang aus
den Augen lassen.«
»Und wie wär’s, wenn ich hier bleibe und wir
einfach nur schlafen?«
Sie blinzelte erstaunt. »Warum solltest du das
wollen?«
»Nur um mich zu überzeugen, dass es dir gut
geht.«
»Ich glaube, du nimmst deine Beschützerrolle ein
bisschen zu ernst.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Heute hat mich
der Bürgermeister ein Autokennzeichen raussuchen lassen, weil der
Wagen angeblich in einer Feuerwehreinfahrt geparkt hat. Rate mal,
wessen Kennzeichen das war?«
»Wessen?«
»Deines.«
»Meines!«, wiederholte sie entrüstet. »Ich habe
noch nie im Leben in einer Feuerwehrzufahrt geparkt!«
Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als er Midas
absetzte. »Das habe ich mir auch gedacht. Kannst du dir vorstellen,
warum ich für den Bürgermeister dein Kennzeichen raussuchen
sollte?«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Wenn er dein Auto gesehen hätte, dann hätte er
gewusst, dass es deines ist, also hat er offensichtlich für jemand
andern nachgefragt. Das macht mir ein wenig Sorgen. Es trifft sich
ganz gut, dass du umgezogen bist und deine Adresse nicht mehr
stimmt.«
Ihr stockte der Atem. »Ach du Schreck, das habe ich
ja vollkommen vergessen! Ich werde mich gleich morgen ummelden
-«
»Nein, wirst du nicht«, fiel er ihr ernst ins Wort.
»Nicht, ehe ich weiß, was hier gespielt wird.«
»Warum fragst du Temple nicht einfach?«
»Weil mir die ganze Sache nicht geheuer ist. Bis
ich sicher bin, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht, möchte
ich, dass du niemandem deine neue Adresse gibst. Und sag auch
deinen Verwandten, sie sollen sie nicht weitergeben.«
»Aber wenn jemand wissen will, wo ich wohne,
braucht er mir doch nur von der Arbeit aus nach Hause zu folgen
…«
»Ab morgen werde ich das übernehmen. Ich werde dich
heimfahren, und ich garantiere dir, dass es niemand schaffen wird,
uns zu folgen.«
Sie schaute zu ihm auf, sah seine entschlossene
Miene und begriff, dass es ihm todernst war. Erstmals spürte sie
einen leisen Angstschauer über ihren Rücken laufen. Jack machte
sich wirklich Sorgen, und das machte wiederum ihr Sorgen.
Midas tapste in die Küche davon, und sie hörte ihn
mit einem Platsch im Trinknapf landen. »Bring ihn noch mal nach
draußen, während ich die Küche aufwische«, bat sie seufzend. »Und
dann gehen wir ins Bett.«
»Mit ihm?«
»Er ist noch ein Baby. Du möchtest doch nicht, dass
er die ganze Nacht weint, oder?«
»Besser er als ich«, grummelte Jack, doch er
brachte Midas gehorsam nach draußen und kehrte fünf Minuten später
mit einem schlafenden Welpen im Arm zurück.
»Ich nehme an, er schläft in der Mitte«, grummelte
er, Böses ahnend.
Daisy seufzte. »Im Moment würde ich ihn überall
schlafen lassen. Außerdem müssen wir ihn sowieso alle zwei Stunden
rausbringen.«
»Was müssen wir?«, wiederholte er ungläubig.
»Ich hab dir doch gesagt, er ist noch ein Baby.
Babys halten es nicht so lange aus.«
»Ich sehe schon, uns steht eine traumhafte Nacht
bevor.«