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Daisy stand im Regen und starrte auf das kleine,
windschiefe Haus in der Lassiter Avenue, das ihre letzte Hoffnung
war. Die weiße Farbe blätterte von den Wänden, die wenigen
struppigen
Büsche mussten dringend gestutzt werden, und das Dach über der
Veranda vor dem Eingang sackte in der Mitte durch. Die Fliegentür
war auf einer Seite aus den Angeln gerissen, und durch eines der
Fenster zog sich ein langer Sprung. Positiv blieb anzumerken, dass
der kleine Hinterhof umzäunt war. Sie suchte angestrengt nach
weiteren Pluspunkten, konnte jedoch keinen mehr vergeben. Außer
jenem, dass das Haus noch nicht vermietet war.
»Ich muss nur schnell den Schlüssel suchen, dann
können wir reingehen.« Mit diesen Worten begann die Besitzerin Mrs.
Phipps, in ihrer geräumigen Schultertasche zu kramen. Mrs. Phipps
brachte es auf knappe ein Meter sechzig, und zwar in Körpergröße
und Taillenumfang, und ihr Haar hatte sie - falls es nicht von
Natur aus so wuchs - zu riesigen weißen Flusen hochtoupiert, die an
Wolken im Wind erinnerten. Schwer schnaufend näherte sie sich dem
Haus über die zersprungenen Platten im Vorgarten, wobei sie jenen
Abschnitt, auf dem gar keine Platten mehr waren, vorsichtshalber
umging.
»Es ist keine Luxuswohnung«, warnte sie, obwohl
Daisy sich fragte, wieso sie diese Warnung für notwendig hielt.
»Nur Wohnzimmer, Küche, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Aber ich und
E.B. haben hier zwei wunderbare Kinder großgezogen. Als E.B. das
Zeitliche gesegnet hat, haben mir die Kinder einen großen Trailer
gekauft, den wir hinter dem Haus meines ältesten Sohnes aufgestellt
haben, damit ich jemanden in der Nähe habe, wenn ich krank werde
oder so. Trotzdem würde ich das alte Haus nicht gern verkaufen. Es
war mir lange Zeit ein Heim. Und ich kann die Mieteinnahmen gut
brauchen.«
Die durchhängende Holzveranda schien unter Mrs.
Phipps’ Gewicht noch ein bisschen weiter nachzugeben; Daisy blieb
ein paar Schritte zurück, nur für den Fall, dass sie Hilfe holen
musste, wenn Mrs. Phipps durch den Boden krachte. Doch die alte
Dame erreichte ohne jeden Zwischenfall die Haustür, wo sie den
Kampf mit dem widerspenstigen Schloss aufnahm. Endlich
ließ sich der Schlüssel drehen, woraufhin Mrs. Phipps ein
zufriedenes Grunzen hören ließ. »Dann wollen wir mal. Ich habe
alles sauber gemacht, nachdem die letzten Mieter ausgezogen sind,
Sie brauchen sich also keine Gedanken zu machen, dass noch Müll
rumliegt.«
Das Haus war sauber, stellte Daisy bei ihrem
Eintritt erleichtert fest. Natürlich roch es muffig, aber es roch
nach einem leer stehenden Hauses, nicht nach Unrat.
Die Räume waren wirklich klein, vor allem die Küche
war kaum so groß, dass man einen kleinen Tisch und zwei Stühle
hineinzwängen konnte, sodass sich Daisy lieber nicht ausmalte, wie
eng es damals mit einer vierköpfigen Familie gewesen sein musste.
Alle Böden waren mit zerschlissenem Linoleum ausgelegt, das aber
mit Teppichen überdeckt werden konnte. Auch das Bad war klein, doch
war hier die alte Badewanne irgendwann gegen eine blaue
Fiberglaswanne mit Duscheinheit ausgetauscht worden, die in krassem
Gegensatz zu der weißen Toilette und dem weißen Waschbecken stand.
Aus einer Wand ragte ein kleiner Radiator heraus.
Schweigend durchschritt sie noch einmal alle Räume
und versuchte sich dabei vorzustellen, wie sie wohl mit Lampen und
Vorhängen und gemütlichen Möbeln aussehen würden. Wenn sie das Haus
mietete, würde sie Klimaanlagen für die Fenster, Teppiche für
sämtliche Böden, Küchengeräte und Wohnzimmermöbel kaufen müssen.
Ein Schlafzimmer besaß sie bereits, Gott sei Dank, aber wenn sie
sich nicht auf das allerbilligste Gerümpel beschränken wollte,
würde sie ungefähr sechstausend Dollar ausgeben müssen, um das Haus
halbwegs wohnlich einzurichten. Zum Glück lebte sie nicht in einem
Landesteil, wo die Lebenskosten höher waren, sonst wären die
anstehenden Ausgaben mindestens doppelt so hoch. Das Geld hatte sie
- das war kein Problem -, aber sie hatte noch nie in ihrem Leben so
viel auf einmal ausgegeben. Schon bei dem blo ßen Gedanken krampfte
sich ihr Magen vor Angst zusammen.
Sie stand vor der Wahl, das Geld auszugeben oder
weiter im Haus ihrer Mutter zu wohnen, bis sie alt und grau wurde
und starb. Und zwar allein.
»Ich nehme es.« Die Worte hörten sich ungewohnt und
wie aus weiter Ferne an, so als hätte jemand anderer für sie
gesprochen.
Mrs. Phipps’ rundliches rosa Gesicht hellte sich
auf. »Wirklich? Ich hätte nicht gedacht - also, ich meine, Sie
sehen gar nicht so aus … Das war früher eine richtig nette Straße,
aber die Gegend ist ein bisschen runtergekommen und …« Schließlich
ging ihr der Dampf aus, ohne dass sie ihrem Erstaunen Ausdruck
verleihen konnte.
Daisy konnte es ihr nachfühlen. Noch vor einer
Woche - ach Unsinn, noch gestern! - hätte sie sich genauso wenig
vorstellen können, hier zu wohnen.
Bei ihr mochte eventuell Not am Mann sein, aber
über den Tisch ließ sie sich trotzdem nicht ziehen. Sie
verschränkte die Arme und setzte ihre ernsteste
Bibliothekarinnenmiene auf. »Die Veranda vor dem Haus muss
unbedingt repariert werden. Wenn Sie möchten, erledige ich das für
Sie, aber nur wenn die Reparaturkosten in voller Höhe auf die Miete
angerechnet werden.«
Mrs. Phipps verschränkte ebenfalls die Arme. »Warum
sollte ich mich darauf einlassen?«
»Zugegeben, kurzfristig entgehen Ihnen Einnahmen,
aber auf lange Sicht wird dadurch der Wert Ihres Eigentums
gesteigert und Sie können beim nächsten Mal mehr Miete verlangen.«
Daisy hoffte, dass Mrs. Phipps den langfristigen Nutzen sah und
nicht nur auf die Mietzahlungen schielte. Wie viel die Reparatur
kosten würde, vermochte Daisy nicht einmal zu überschlagen, aber
die Miete sollte nur hundertzwanzig Dollar im Monat betragen,
sodass Mrs. Phipps möglicherweise mehrere Monate lang keine Miete
kassieren würde.
»Ich glaube nicht, dass ich so lange auf die Miete
verzichten kann«, meinte Mrs. Phipps zweifelnd.
Daisy überlegte blitzschnell. »Wie wäre es dann mit
einer zweimonatlichen Rückzahlung? Käme Ihnen das mehr entgegen?
Ich strecke das Geld für die Reparaturen vor; danach zahle ich nur
alle zwei Monate Miete, bis meine Auslagen wieder beglichen sind.
Oder Sie zahlen die Reparatur selbst und erhöhen die Miete ein
bisschen.«
Mrs. Phipps trat von einem Fuß auf den anderen.
»Ich habe kein Geld, um so viel vorzustrecken. Also gut, wir machen
es so, wie Sie vorgeschlagen haben. Aber ich will das schriftlich
haben. Und ich will die erste Monatsmiete; danach fangen wir mit
Ihrem Zwei-Monats-Ding an. Ach ja, und die Nebenkosten sind nicht
enthalten.«
Für hundertzwanzig Dollar im Monat hatte Daisy das
auch nicht erwartet. Strahlend streckte sie die Hand aus.
»Abgemacht«, sagte sie, und sie besiegelten den Handel mit einem
Händedruck.
»Schon ein bisschen klein«, kommentierte Tante Jo
am Abend, als sie mit ihrer Schwester Daisys neue Herberge
inspizierten.
»Es ist wunderbar«, widersprach Evelyn entschieden.
»Ein frischer Anstrich und ein paar hübsche Vorhänge, und schon ist
es nicht wieder zu erkennen. Außerdem wird Daisy nicht ewig hier
wohnen. In null Komma nichts wird sie jemanden gefunden haben.
Daisy, Liebes, wenn du irgendwas aus unserem Speicher mitnehmen
möchtest, dann bedien dich einfach.« Sie sah sich noch einmal in
dem kleinen Haus um. »Wie willst du dich eigentlich einrichten?«,
fragte sie zweifelnd, so als wüsste sie nicht, womit man das Haus
wirklich aufmöbeln könnte.
»Gemütlich und wohnlich«, war Daisys Antwort. »Für
alles andere ist es zu klein. Du weißt schon, dick aufgepolsterte
Sessel mit einem schweren Afghanen darüber, so was in der
Art.«
»Hmpf«, schnaubte Tante Jo. »Der einzige Afghane,
der mir je begegnet ist, wäre nicht mal still liegen geblieben,
wenn man ihn festgezurrt hätte. Der dümmste Hund der Welt.«
Alle mussten lachen. Tante Jo hatte einen skurrilen
Sinn für Humor, und Daisy wie auch ihre Mutter liebten ihre
fantastischen Eskapaden über alles.
»Du wirst tatsächlich einen Hund brauchen«,
bemerkte Evelyn unvermittelt und schaute sich um. »Oder Gitter vor
den Fenstern und eine Alarmanlage.«
Gitter vor den Fenstern und eine Alarmanlage würden
ihre Ausgaben um weitere tausend Dollar in die Höhe treiben. Daisy
sagte: »Ich werde mich nach einem Hund umschauen.« Außerdem würde
ihr ein Hund Gesellschaft leisten. Sie hatte nie in ihrem Leben
allein gewohnt, und ein Hund konnte ihr bei der Umstellung helfen.
Ohnehin wäre es schön, wieder ein Tier in der Nähe zu haben;
schließlich war es schon acht Jahre her - meine Güte, so lange! -,
seit das letzte Haustier der Familie an Altersschwäche gestorben
war.
»Wann willst du einziehen?«, fragte Tante Jo.
»Ich weiß nicht.« Zweifelnd blickte Daisy sich um.
»Erst müssen Wasser und Strom wieder angestellt werden, aber das
kann nicht so lange dauern. Dann muss ich die Küchengeräte kaufen
und liefern lassen, Möbel und Teppiche finden und die Vorhänge
aufhängen. Und streichen. Zuallererst muss ich ganz eindeutig
streichen.«
Evelyn schniefte hörbar. »Eine anständige
Vermieterin hätte das Haus streichen lassen, nachdem die letzten
Mieter ausgezogen sind.«
»Ich zahle hundertzwanzig Dollar Miete im Monat. Da
ist ein frischer Anstrich nicht inbegriffen.«
»Ich habe gehört, Buck Latham übernimmt in seiner
Freizeit Malerarbeiten«, sagte Tante Jo. »Ich rufe ihn noch heute
Abend an und erkundige mich, wann er Zeit hätte.«
Daisy hörte, wie die Schleusen in ihrem Bankkonto
immer weiter aufgerissen wurden. »Ich kann selbst streichen.«
»Nein, kannst du nicht«, widersprach Tante Jo
energisch. »Du bist beschäftigt.«
»Na gut, aber ich habe trotzdem Zeit -«
»Nein, hast du nicht. Du bist beschäftigt.«
»Jo will damit sagen, Liebes, dass wir uns Gedanken
gemacht haben und dass wir glauben, du solltest einen Modeund
Farbberater aufsuchen.«
Daisy starrte sie mit offenem Mund an und verkniff
sich ein Lachen. »Wo soll ich den denn finden?« Der Wal-Mart führte
bestimmt keinen Mode- und Farbberater auf seiner Angestelltenliste.
»Und wozu sollte ich jemanden brauchen, der mir sagt, was ich
anziehen soll? Ich habe mir selbst schon Gedanken darüber gemacht.
Ich werde mir von Wilma die Haare schneiden und vielleicht ein paar
Strähnchen färben lassen, und dann kaufe ich Make-up -«
Evelyn und Joella schüttelten einträchtig den Kopf.
»Das wird nicht reichen«, sagte Tante Jo.
»Wieso nicht?«
Evelyn mischte sich ein. »Liebes, wenn du wirklich
etwas verändern willst, dann mach es richtig. Ja, du kannst dir
eine neue Frisur zulegen und anfangen, dich zu schminken, aber was
dir vor allem fehlt, ist Stil. Du brauchst Ausstrahlung,
etwas, das die Menschen dazu bringt, sich nach dir umzudrehen. Und
das ist wiederum zum großen Teil eine Frage der Präsentation, und
was du dazu brauchst, findest du bestimmt nicht im Kosmetikregal
von unserem Drugstore.«
»Aber der Umzug kostet mich schon so viel -«
»Am falschen Ende zu sparen, kann einen teuer zu
stehen kommen. Glaubst du, General Eisenhower hätte in der
Normandie landen können, wenn er gesagt hätte: ›Moment mal, das
kostet uns zu viel; besser, wir schicken nur halb so viele Schiffe
rüber‹? Du hast jahrelang gespart, aber wozu ist das ganze Geld
gut, wenn du es nicht ausgibst? Schließlich wirst du nicht gleich
alles verprassen, was du zurückgelegt hast.«
Daisy ließ sich zwar überzeugen, aber nicht
überfahren. Sie überdachte den Vorschlag. »Erst möchte ich es so
probieren,
wie ich es mir gedacht habe. Wenn ich dann nicht zufrieden bin,
suche ich mir einen Berater.«
Mutter wie auch Tante kannten Daisy lang genug, um
zu wissen, wann Widerspruch zwecklos war. »Na gut. Aber lass Wilma
nicht an deine Haare«, warnte Tante Jo. »Der Schaden könnte nicht
wieder gutzumachen sein.«
»Wilma schneidet auch dir die Haare!«, wehrte Daisy
sich entrüstet.
»Schätzchen, ich lasse sie auf gar keinen Fall mit
irgendwelchen Chemikalien an mich ran. Ich habe in diesem
Friseursalon schon Sachen gesehen, die dir das Blut in den Adern
gefrieren lassen würden.«
Unvermittelt hatte Daisy eine Vision von sich mit
einem grünen Krauskopf und beschloss, erst einmal abzuwarten, bevor
sie einen Termin bei Wilma vereinbarte. Vielleicht sollte sie
doch lieber in die Stadt fahren, um sich das Haar machen zu
lassen, selbst wenn damit ein monatlicher Besuch zum Nachschneiden
und somit weitere Ausgaben verbunden waren. Wilma war zwar
schlecht, aber billig.
Andererseits war Wilma zwar billig, aber
schlecht.
»Denk an die Normandie«, murmelte sie vor sich
hin.
»Ganz genau«, bestätigte ihre Mutter
zufrieden.
Daisy war eigensinnig genug, um auf der Heimfahrt
beim Drugstore zu halten und für eine atemberaubende Summe ein
winziges Schminktäschchen zu erstehen. Mascara, Lidschatten, Rouge,
Lipliner und Lippenstift fielen in ihrer Handtasche kaum ins
Gewicht, erleichterten ihr Portemonnaie aber um lockere
fünfundzwanzig Dollar, obwohl Daisy noch nicht einmal die wirklich
teuren Sachen gekauft hatte. Ihr neues Projekt entwickelte sich mit
atemberaubender Geschwindigkeit zu einem Fass ohne Boden.
Außerdem stöberte sie eine Weile in den
Modezeitschriften und entschied sich zuletzt für eine, die genaue
Anweisungen für das Schminken zu geben schien. Jede Frau, die lesen
konnte,
konnte auch lernen, sich zu schminken, dachte Daisy zufrieden und
kehrte mit ihren Einkäufen sowie dem Anleitungsheft nach Hause
zurück.
»Was hast du gekauft?«, wollte Tante Jo wissen,
sobald Daisy das Haus betreten hatte.
»Nur das Notwendigste.« Daisy zählte den Inhalt
ihrer Einkaufstüte auf. »Ich will keine komplizierten Sachen wie
Eyeliner ausprobieren, bevor ich mich mit dem anderen Zeug
auskenne. Nach dem Abendessen lege ich alles auf, und dann schauen
wir mal, wie ich aussehe.«
Weil sie Geburtstag hatte, gab es zum Abendessen
eines ihrer Lieblingsgerichte: Hackbraten, Kartoffelbrei und grüne
Bohnen. Allerdings war sie zu aufgeregt, um das Mahl wirklich
genießen zu können; so vieles war an diesem Tag geschehen, und ihre
Nerven schienen einfach nicht zur Ruhe kommen zu wollen. Nachdem
die Küche aufgeräumt war, ließen sich ihre Mutter und Tante Jo vor
dem Fernseher nieder, um Glücksrad zu schauen, während Daisy
nach oben verschwand, um sich ein neues Gesicht zu geben.
Erst vertiefte sie sich in die Modezeitschrift und
studierte die richtige Methode, Lidschatten aufzutragen: einen
leichten Hauch unter der Braue, einen etwas stärkeren Schatten auf
dem Lid, einen kräftigen Strich in der Falte. Das klang nicht
besonders kompliziert. Es gab auch ein paar Diagramme mit
Audrey-Hepburn-Rehaugen, an denen die Prozedur demonstriert wurde.
Daisy klappte das winzige Döschen auf und starrte auf die vier
Behälter mit mehr oder weniger braunem Lidschatten. Irgendwie war
braun langweilig; vielleicht hätte sie sich für Grün oder Blau oder
sogar Lila entscheiden sollen. Aber wenn sie Blau genommen hätte,
hätte das nicht zu ihrem grünen Auge gepasst, und wenn sie Grün
genommen hätte, hätte das nicht zu ihrem blauen Auge gepasst. Lila
überstieg ganz eindeutig ihre Vorstellungskraft, darum hatte sie
sich auf Braun beschränkt.
Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte sie sich
schon viel zu oft in ihrem Leben auf Braun beschränkt.
Sie trug ihre Schätze ins Bad und reihte sie auf
der Ablage unter dem Spiegel auf. Der Lidschattenpinsel war ein
winziger, mit Schaumstoff besetzter Zauberstab; sie zupfte ihn aus
der Halterung und wischte damit ganz sacht über die hellste
Schattierung, bevor sie wie vorgeschrieben die Farbe direkt unter
ihren Augenbrauen verteilte. Sie überprüfte das Resultat im
Spiegel; tja, praktisch war nichts zu sehen. Sie wusste nicht, ob
sie eher enttäuscht oder erleichtert war.
Okay, der nächste Schritt war mittelbraun. Es gab
zwei mittelbraune Schattierungen, aber sie nahm nicht an, dass es
wirklich von Bedeutung war, welchem Braunton sie den Vorzug gab.
Sie wischte den einen mittelbraunen Farbton über ihr eines Lid und
den anderen über das andere Lid, damit sie die beiden anschließend
vergleichen konnte. Nach einer kurzen, kritischen Prüfung kam sie
zu dem Schluss, dass sie kaum einen Unterschied bemerkte.
Allerdings wirkten ihre Augen dramatischer; irgendwie rauchig. Mit
spürbarer Aufregung trug sie in der Lidfalte die dunkelste
Schattierung auf, aber diesmal verschätzte sie sich bei der
benötigten Menge; der zurückbleibende dunkle Streifen sah aus wie
eine Kriegsbemalung. Verwischen. Die Zeitschrift empfahl,
die Schattierungen zu verwischen. Daisy verwischte nach
Leibeskräften und versuchte, das dunkle Zeug dabei möglichst weit
zu verstreichen.
Na gut, dann sah sie eben eher nach Kleopatra als
nach Audrey Hepburn aus. Alles in allem war das kinderleicht
gewesen. Sie würde sich nächstes Mal einfach mit dem dunklen
Farbton zurückhalten.
Jetzt kam das Mascara. Mascara verlieh, so
behauptete der Ratgeber wenigstens, den Augen Tiefe. Enthusiastisch
ließ sie den winzigen Zauberstab in dem Behälter kreiseln und
begann anschließend, das Schwarz auf den Wimpern zu
verteilen.
»O nein!«, stöhnte sie, als sie in den Spiegel
blickte. Was
hatte sie nur falsch gemacht? Sie sah kein bisschen wie die Models
in der Zeitschrift aus! Ihre Wimpern waren zu fetten, klumpigen
Stacheln geronnen, und bei jedem Blinzeln schienen die oberen und
unteren Wimpern zusammenkleben zu wollen. Nachdem sie die Augen zum
zweiten Mal mit aller Kraft wieder aufgerissen hatte, gab sie sich
Mühe, nicht mehr zu blinzeln.
Jetzt aufzuhören, wäre reine Feigheit gewesen,
oder? Sie würde das bis zum Ende durchstehen. Rouge konnte
keinesfalls so schlimm sein wie Mascara. Sie fegte mit dem kleinen
Schwämmchen über den länglichen Farbbehälter und trug das Rouge
dann behutsam auf den Wangen auf.
»Herr im Himmel«, hauchte sie, während sie den
kleinen Behälter studierte. Wie war es möglich, dass die Farbe auf
ihrem Gesicht so viel dunkler wirkte als in dem Kästchen? Sie sah
aus, als hätte sie sich einen Sonnenbrand geholt, nur dass sie bei
keinem Sonnenbrand derart knallrosa Wangen bekam.
Grimmig probierte sie auch ihre übrigen Erwerbungen
aus, den Lipliner und den Lippenstift, nur konnte sie leider nicht
sagen, ob das irgendwas brachte oder die Situation noch
verschlimmerte. Sie wusste nur, dass das Ergebnis eine einzige
Katastrophe war; sie sah aus wie ein Mittelding zwischen einem
Rodeo-Clown und einer Horrorfilm-Figur.
Sie brauchte ganz eindeutig Hilfe.
Die Zähne fest zusammengebissen, wagte sie sich
nach unten, wo nach wie vor das Glücksrad gedreht wurde.
Evelyn und Jo starrten sie mit weit aufgerissenen Augen und weit
offenem Mund an, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben.
»Heilige Scheiße«, platzte es schließlich aus Tante
Jo heraus.
Daisys Wangen begannen unter dem Rouge zu erglühen,
was die Farbe noch knalliger wirken ließ. »Es muss irgendeinen
Kniff dabei geben.«
»Keine Panik«, flehte ihre Mutter und erhob sich,
um einen
tröstenden Arm um Daisys Schultern zu legen. »Die meisten jungen
Mädchen lernen, sich in der Pubertät durch einfaches Ausprobieren
zu schminken. Du hast dich halt nie mit diesen Dingen
abgegeben.«
»Ich habe keine Zeit zum Ausprobieren. Ich muss das
in den Griff kriegen, und zwar sofort.«
»Darum haben wir dir auch Schönheitsberatung
empfohlen. Denk noch mal drüber nach, Liebes; so geht es jedenfalls
am schnellsten.«
»Beth könnte mir zeigen, wie man das macht«, schlug
Daisy aus einer Eingebung heraus vor. Ihre jüngere Schwester
kleisterte sich nicht gerade mit Make-up zu, aber sie verstand, das
Beste aus ihrem Typ zu machen. Außerdem würde Beth kein Geld von
ihr verlangen.
»Das halte ich für keine gute Idee«, wandte Evelyn
vorsichtig ein.
Daisy blinzelte. Ein dummer Fehler. Nachdem sie die
Augen wieder aufgezwungen hatte, fragte sie: »Warum?«
Nach kurzem Zögern antwortete Evelyn seufzend:
»Schnecke, du warst immer die Klügere, darum hat Beth sich die
Schönheit zu ihrem Territorium erkoren. Ich glaube nicht, dass es
ihr gefallen würde, wenn du sie bittest, dir dabei zu helfen, schön
und klug zu werden. Nicht dass du nicht schon schön wärst«,
ergänzte sie hastig, um Daisy nicht zu verletzen. »Das bist du
eindeutig. Du hast einfach nie gelernt, dich von deiner
vorteilhaftesten Seite zu zeigen.«
Die Vorstellung, dass Beth auch nur ein winziges
bisschen eifersüchtig sein könnte, erschien Daisy so abwegig, dass
sie ihren Ohren nicht zu trauen meinte. »Aber Beth war doch stets
eine gute Schülerin. Sie ist nicht blöd. Sie ist selbst klug und
schön, warum sollte sie mir also nicht dabei helfen?«
»Beth fühlt sich nicht so intelligent wie
du. Sie hat nur die High School abgeschlossen, wohingegen du auf
der Universität warst.«
»Sie ist nur nicht aufs College gegangen, weil sie
mit achtzehn geheiratet und beschlossen hat, eine wunderbare
Familie zu gründen«, widersprach Daisy. Genau besehen hatte Beth
alles, was Daisy sich von jeher gewünscht hatte. »Nicht zu
studieren, war ihre eigene Entscheidung.«
»Trotzdem fragt man sich doch oft, was wohl gewesen
wäre, wenn man sich anders entschieden hätte«, wandte Tante Jo ein,
womit sie Daisys letzten Gedanken nur bekräftigte. »Evelyn will
damit nur sagen, dass du Beth nicht in eine solche Zwickmühle
bringen solltest. Sie würde sich schrecklich fühlen, wenn sie dir
deine Bitte abschlägt, und wenn sie dir hilft, wäre das vom Gefühl
her wie ein Wollpullover im Sommer: unangenehm und kratzig.«
So viel also zu dieser Idee. Zum Glück hatte sie
noch eine. »Ich schätze, ich könnte auch in eines der großen
Kaufhäuser in Chattanooga oder Huntsville fahren und mich dort
schminken lassen.«
»Ehrlich gesagt«, offenbarte Tante Jo, »haben wir
an jemanden hier in Hillsboro gedacht.«
»Hier?« Verdattert versuchte Daisy sich
irgendjemanden in Hillsboro vorzustellen, der als Schönheitsberater
durchgehen konnte. »An wen denn? Ist vielleicht jemand
zugezogen?«
»Das nicht.« Tante Jo räusperte sich. »Wir dachten,
Todd Lawrence wäre doch wie geschaffen für so was.«
»Todd Lawrence?« Fassungslos starrte Daisy die
beiden an. »Tante Jo, dass ein Mann schwul ist, heißt noch lange
nicht, dass er deshalb gleich zum Schönheitsberater taugt. Außerdem
weiß ich nicht, ob Todd sich schon geoutet hat. Und wenn nicht,
dann möchte ich ihn auf gar keinen Fall mit so einer Bitte
konfrontieren.« Todd Lawrence war einige Jahre älter als sie,
mindestens Anfang vierzig, und ein sehr würdevoller, reservierter
Mann. Vor zwanzig Jahren hatte er Hillsboro verlassen und, laut
seiner hingebungsvollen verwitweten Mutter, einige Erfolge am
Broadway vorweisen können. Doch da sie
nie auch nur einen Zeitungsausschnitt oder Artikel mit seinem
Namen herumgezeigt hatte, hatten alle geglaubt, nur ihr
mütterlicher Stolz habe sie glauben lassen, dass ihr Sohn sich
wirklich durchgesetzt hatte. Etwa fünfzehn Jahre später war Todd
nach Hillsboro zurückgekehrt, um seine Mutter während ihres letzten
Lebensjahres zu pflegen, und hatte seit ihrem Tod still und
zurückgezogen in ihrem viktorianischen Haus am Ortsrand
gelebt.
»Aber natürlich hat er sich geoutet«, widersprach
Evelyn. »Meine Güte, er hat in Huntsville einen Antiquitäten- und
Dekorationsladen eröffnet. Und wie viele heterosexuelle Männer
haben wohl je von einer Farbe namens Mauve gehört? An Ostern hat
Todd mir erklärt, wie gut Mauve mir stehen würde; du weißt doch
noch, welches Kleid ich da angehabt habe? Und er hat es vor
mehreren Zeugen gesagt. Also ist er offiziell schwul.«
»Ich weiß nicht.« Tante Jo war nicht wirklich
überzeugt. »Mauve ist kein so guter Test. Wenn nun eine Frau ihrem
Mann ein paar Farbproben zeigt? Dann wüsste er womöglich auch, wie
Mauve aussieht. Nein, Taupe wäre ein besserer Test. Frag
Todd nach Taupe.«
»Ich werde ihn ganz bestimmt nicht nach Taupe
fragen!«
»Na ja, dann musst du ihn eben ganz direkt fragen,
ob er schwul ist.«
Daisy massierte sich die Stirn. »Wir kommen vom
Thema ab. Selbst wenn Todd schwul ist -«
»Er ist es«, bestätigten beide Schwestern im
Chor.
»Gut, dann ist er eben schwul. Das bedeutet aber
noch lange nicht, dass er was vom Schminken versteht!«
»Er war am Broadway, selbstverständlich versteht er
was vom Schminken. In diesen Shows werden alle geschminkt, schwul
oder nicht. Außerdem habe ich ihn schon angerufen«, sagte
Evelyn.
Daisy stöhnte auf.
»Reg dich nicht auf«, warf ihre Mutter
beschwichtigend ein. »Er war unwahrscheinlich nett und hat gesagt,
natürlich würde er dir helfen. Ruf ihn einfach mal an, wenn du dazu
bereit bist.«
»Das kann ich nicht.« Daisy schüttelte den
Kopf.
»Dann schau noch mal in den Spiegel«, schlug Tante
Jo vor.
Zaghaft drehte Daisy den Kopf zur Seite und blickte
in den Spiegel über dem mit Gas befeuerten falschen Kamin. Der
Anblick ließ sie heftig zusammenzucken, und sie kapitulierte ohne
jede weitere Gegenwehr. »Morgen früh rufe ich ihn an.«
»Nein, jetzt gleich«, drängte Evelyn.