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Es war keine schlechte Leistung, abends auszugehen, sich königlich zu amüsieren, bis zum Umfallen zu tanzen, eine Schlägerei auszulösen und schon um neun Uhr wieder zu Hause zu sein, sagte sich Daisy am nächsten Morgen. Also gut, der Abend war kein voller Erfolg gewesen; dafür war der erste Teil ausgesprochen erfolgreich gewesen. Und damit nicht genug, sie hatte sich gut unterhalten und würde es wieder tun. Nicht das mit der Schlägerei - hoffentlich nicht -, aber dafür das mit dem Tanzen und Flirten.
Nach der Kirche, wo sie sich der unverhohlenen Neugier der übrigen Gottesdienstbesucher ausgesetzt sah - Menschen, die eigentlich wissen sollten, dass man seine Mitmenschen nicht anglotzte -, aß sie schnell etwas zu Mittag und stieg dann in eine ihrer neuen Jeans, weil sie kurz in die Lassiter Avenue fahren wollte, um nachzuschauen, wie weit Buck Latham mit dem Anstreichen war. Inzwischen hatte sie ihren neuen Weg unwiderruflich eingeschlagen und konnte es kaum erwarten, in ihre eigene Wohnung zu ziehen. Doch gerade als sie mit ihrer Handtasche und den Autoschlüsseln in der Hand auf die Veranda trat, stoppte am Randstein vor dem Haus ein weißer Crown Victoria.
In stiller Verzweiflung beobachtete sie, wie Chief Russo seinen mächtigen Körper vom Fahrersitz wuchtete. Ihrer Mutter hatte sie den vergangenen Abend in einer leicht zensierten Version geschildert, weil sie es für besser hielt, ihr nicht auf die Nase zu binden, dass sie einem Mann die Hoden zerquetscht hatte. Wahrscheinlich war Chief Russo hier, um ein bisschen aus der Schule zu plaudern und ihr eine Standpauke zu halten, obwohl er dazu nicht das geringste Recht hatte, weil er schließlich ebenfalls nicht in offizieller Mission im Buffalo Club gewesen war. Er war zum Aufreißen dort gewesen, genau wie sie, wobei sie im Gegensatz zu ihm von ehrbaren Absichten getrieben wurde.
Er trug ebenfalls Jeans und dazu ein schwarzes T-Shirt, das sich um seine breiten, abgerundeten Schultern schmiegte. Heute sah er noch mehr als sonst nach einem Gewichtheber aus, dachte sie abfällig. Im nächsten Moment fiel ihr ein, wie mühelos er sie mit einem Arm gestern Abend aus dem Buffalo Club getragen hatte, und sie begriff, dass sie ihn völlig richtig eingeschätzt hatte.
»Wollen Sie irgendwohin?« Er blieb auf dem kurzen, blumengesäumten Weg vor dem Haus stehen und sah zu ihr auf, weil sie auf der schattigen Veranda stehen geblieben war.
»Ja«, erwiderte sie knapp. Eigentlich verlangte ihre gute Kinderstube nach einer ausführlicheren Antwort wie: »Na ja, eigentlich wollte ich kurz in den Supermarkt, aber das kann warten. Warum kommen Sie nicht auf einen Kaffee herein?« Doch sie beschränkte ihre Erwiderung auf dieses eine Wort. Er hatte etwas an sich, das sie ihre gute Kinderstube vergessen ließ.
»Wollen Sie mich nicht reinbitten?«, fragte er mit einem Funkeln in den Augen, das verriet, dass er eher belustigt als verärgert war.
»Nein.«
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf sein Auto. »Fahren wir. Ich glaube nicht, dass Sie dieses Gespräch hier draußen führen möchten, wo alle Nachbarn zuhören können.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »O Gott, wollen Sie mich 120 etwa aufs Revier bringen?« Sie eilte die Treppe hinab, weil ihr ein schrecklicher Gedanke gekommen war. »Der Mann von gestern Abend - er ist doch nicht gestorben, oder? Es war ein Versehen! Und selbst wenn, dann wäre das doch eine Tötung in Notwehr, oder?«
Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht, und sie fixierte ihn misstrauisch. Er sah beinahe so aus, als müsste er sich ein Grinsen verkneifen. Herr im Himmel, über so was lachte man nicht!
»Soweit ich weiß, ist Ihr Freund wohlauf; wahrscheinlich läuft er heute ein bisschen breitbeinig, aber er ist eindeutig am Leben.«
Sie atmete tief durch. »Da bin ich aber froh. Und warum wollen Sie mich dann aufs Revier bringen?«
Wieder kam er ihr mit dieser komischen Gesichtsreiberei. Diesmal gab es keinen Zweifel: Er lachte über sie. Also nein!
Er streckte die Hand aus und nahm ihren Arm in seinen warmen und unerträglich festen Griff, so als hätte er es jeden Tag mit Missetäterinnen zu tun, die nicht folgen wollten. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Miss Daisy.« Er kämpfte hörbar gegen ein Kichern an. »Aber … Revier hat in Hillsboro einfach einen ganz anderen Klang als in New York.«
Damit hatte er allerdings Recht, wenn man in Betracht zog, dass das hiesige Polizeirevier aus einem kleinen, gemütlich anmutenden Gebäude direkt neben dem Rathaus bestand. Trotzdem hätte er sich nicht so überheblich aufzuführen brauchen.
Gerade als er ihr die Beifahrertür seines Autos aufhielt und sie einsteigen ließ, ging die Haustür wieder auf, und Evelyn trat heraus. »Chief Russo! Wohin bringen Sie Daisy denn?«
»Wir fahren nur ein bisschen rum, Madam. In einer Stunde sind wir wieder zurück, Ehrenwort.«
Evelyn zögerte und lächelte schließlich. »Dann wünsche ich viel Spaß.«
»Danke, Madam«, entgegnete Chief Russo würdevoll. 121
»Fantastisch«, brummelte Daisy, als er sich neben ihr niedergelassen hatte. »Jetzt denkt sie, wir gehen miteinander.«
»Wir können ja noch mal reingehen und das richtig stellen, ihr erklären, was wirklich passiert ist«, bot er ihr an, während er den Wagen anließ, ohne ihre Antwort auch nur abzuwarten. Genau das war so ärgerlich an ihm; natürlich wollte sie das nicht, aber das hatte er schon gewusst, ehe er das Angebot gemacht hatte. Er wollte sich nur als Klugsch …, äh, Besserwisser aufspielen.
»Ich hatte ebenso viel Recht, in diesen Club zu gehen, wie Sie.« Sie verschränkte die Arme und reckte die Nase hoch.
»Stimmt.«
Sie senkte die Nase wieder und sah ihn verdutzt an. »Warum wollen Sie mich dann verhören? Ich habe nichts angestellt. Für die Schlägerei kann ich nichts, und ich hatte wirklich nicht beabsichtigt, dem Kerl die Hoden zu zerquetschen.«
»Ich weiß.« Schon wieder grinste er, dieser verfluchte … Was fand er bloß so komisch?
»Was ist dann los?«
»Nichts ist los. Und ich will Sie überhaupt nicht ›verhören‹. Ich habe Sie gebeten, mit mir zu fahren; das ist was ganz anderes, als Sie ins Verhörzimmer zu sperren und Ihnen stundenlang Feuer unter dem Hintern zu machen.«
Sie ließ einen erleichterten Stoßseufzer aus, sank in ihrem Sitz zusammen und richtete sich steil wieder auf. »Sie haben mich keineswegs gebeten, Sie haben es mir befohlen. Wieso sollte ich also was anderes annehmen? ›Fahren wir!‹ Das sagen die Polizisten im Fernsehen auch dauernd, und es bedeutet immer, dass sie jemanden aufs Revier bringen, um ihn einzubuchten.«
»Dann sollten sich die Drehbuchschreiber mal einen neuen Text einfallen lassen.«
Ein neuer, verstörender Gedanke kam ihr. Meine Güte, der Chief machte ihr doch nicht etwa den Hof, oder? Bislang hatten sie alle beide bei jeder Begegnung die Stacheln ausgefahren, aber der gestrige Abend hatte ihr bewiesen, dass die Männer sie ganz anders behandelten, seit sie sich ein neues Aussehen zugelegt hatte. Ihr Magen krampfte sich zusammen; sie hatte so gar keine Übung darin, einem Mann zu erklären, dass er in den Wind schießen sollte, dass sie nicht an ihm interessiert war. Er war doch bestimmt nicht interessiert, oder? Vielleicht sah sie gar nicht so viel besser aus, wie sie geglaubt hatte?
Geschwind klappte sie die Sonnenblende nach unten und warf einen prüfenden Blick in den Schminkspiegel, um ihn ebenso geschwind wieder nach oben zu klappen. O nein.
»Was sollte das denn?«, erkundigte er sich neugierig. »Sie haben nicht mal lang genug reingeschaut, um den Lippenstift zu kontrollieren.«
Den Lippenstift hatte sie vollkommen vergessen. Jedenfalls hatte ein kurzer Blick genügt, um ihr zu bestätigen, dass sie sich, nein, nicht täuschte, was die Veränderungen anging.
»Ich hatte mich nur gefragt, ob es in einem Polizeiauto wohl Schminkspiegel gibt«, posaunte sie heraus. »Ich finde das irgendwie … tuckig.«
»Tuckig?« Er sah aus, als würde er sich von innen auf die Wange beißen.
»Nicht dass ich Zweifel an Ihrer Männlichkeit anmelden möchte«, ergänzte sie hastig. Sie wollte ihm auf gar keinen Fall das Gefühl vermitteln, dass er ihr seine Männlichkeit beweisen musste. Männer, hatte sie gelesen, neigten dazu, derlei Kommentare persönlich zu nehmen. Ihre Egos waren eng mit ihrer Virilität verknüpft oder etwas in der Art.
Er seufzte. »Nehmen Sie’s mir nicht krumm, Miss Daisy, aber Ihren Gedanken zu folgen ist, als wollte man ein Karnickel auf Speed einfangen.«
Sie nahm es ihm nicht krumm, weil sie viel zu froh darüber war, dass es ihm nicht gelungen war, ihrem letzten Gedankengang zu folgen. Stattdessen sagte sie: »Ich wünschte, Sie würden nicht ständig Miss Daisy zu mir sagen. Das klingt so nach -« sie wollte schon »alter Jungfer« sagen, aber diese Bezeichnung hätte doch zu sehr getroffen, »verkalktem Fossil.«
Schon wieder kaute er auf seiner Wange herum. »Wem das Haarnetz passt …«
»Ich trage kein Haarnetz!«, brüllte sie und sackte dann überrascht auf den Sitz zurück. Sonst brüllte sie nie. Sie verlor niemals die Beherrschung. Womöglich war sie nicht nahtlos höflich zu ihm gewesen, aber sie hatte ihn auch nie angebrüllt. Allmählich begann sie sich Sorgen zu machen; ob es wohl ein Gesetz gab, das es verbot, einen Angehörigen der Polizei anzubrüllen? Ihn anzubrüllen war etwas anderes, als einen Polizisten anzubrüllen, der einen wegen einer Geschwindigkeitsübertretung angehalten hatte - nicht dass sie je zu schnell gefahren wäre -, aber immerhin war er der Polizeichef. Und das war vielleicht noch schlimmer -
»Sie haben schon wieder abgehoben«, knurrte er.
»Ich habe nur überlegt, ob es wohl ein Gesetz gibt, das es verbietet, einen Polizeichef anzubrüllen«, gab sie zu.
»Sie haben Angst, Sie könnten in den Knast wandern, weil Sie gebrüllt haben?«
»Es war respektlos. Bitte verzeihen Sie. Für gewöhnlich brülle ich nicht, aber für gewöhnlich wird mir auch nicht unterstellt, ich würde ein Haarnetz tragen.«
»Ich kann verstehen, dass Sie das trifft.«
»Wenn Sie noch länger auf Ihrer Backe herumbeißen«, bemerkte sie, »werden Sie sie nähen lassen müssen.«
»Ich werde mich bemühen, es nicht wieder zu tun. Und nur zu Ihrer Information, ich habe Sie lediglich aus Hochachtung mit Miss Daisy angesprochen.«
»Hochachtung?« Sie konnte nicht entscheiden, ob das nun gut war oder schlecht. Einerseits wollte sie natürlich schon, dass er sie achtete, andererseits war das nicht gerade die Art von Reaktion, die sie sich von einem Mann wünschte, der immerhin einige Jahre älter war als sie. Eventuell war der gestrige Abend nur ein glücklicher Zufall gewesen, und sie war doch nicht so attraktiv, wie sie meinte. Möglicherweise tanzten die Männer in einem Club ja mit jeder Frau.
»Sie erinnern mich an meine Tante Bessie«, eröffnete er ihr.
Um ein Haar hätte Daisy laut aufgestöhnt. Ach du Schreck, das übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Seine Tante! Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass das gestern Abend nur ein glücklicher Zufall gewesen war. Betroffen klappte sie den Schminkspiegel wieder nach unten, um zu prüfen, ob sie wirklich einen so gravierenden Fehler gemacht haben konnte.
»Ich frage lieber gar nicht erst«, seufzte er.
»Ich sehe aus wie Ihre Tante?« Das letzte Wort kam halb gestöhnt.
Er begann zu lachen. Er lachte sie tatsächlich aus! Zutiefst beschämt klappte sie die Sonnenblende wieder hoch und verschränkte aufs Neue die Arme.
»Großtante, um genau zu sein. Und ich habe nicht gesagt, dass Sie ihr ähnlich sehen; ich habe gesagt, Sie erinnern mich an sie. Sie war auch nicht sehr weltlich.«
Naiv. Was er meinte, war naiv. Leider lag er damit nicht ganz falsch. Das war die Folge, wenn man sein Leben lang die Nase ununterbrochen in Bücher steckte. Man bekam eine Menge interessante Fakten mit auf den Weg, aber was eigene Erfahrungen anging, tappte man ziemlich im Dunkeln.
Er bog auf den Highway in Richtung Fort Payne. »Warum fahren wir nach Fort Payne?«, fragte Daisy mit Blick auf die Zedern und grünen Hügel draußen. Es war eine hübsche Strecke, aber ihr wollte einfach nicht in den Sinn, warum er mit ihr dorthin fahren wollte.
»Tun wir ja gar nicht. Ich fahre Sie einfach nur spazieren.«
»Sie meinen, wir wollen nirgendwo Bestimmtes hin?«
»Ich habe gesagt, wir fahren. Das bedeutet fahren.«
Was erneut den schrecklichen Verdacht wachrief, dass er ihr möglicherweise den Hof machte, obwohl er das, falls er es wirklich tat, auf eine reichlich merkwürdige Art machte, indem er sie auslachte und ihr erzählte, dass sie ihn an seine Großtante erinnerte. Andererseits war er ein Yankee; vielleicht machte man das im Norden so. »Ich würde lieber in die entgegengesetzte Richtung fahren«, meinte sie nervös. »Nach Hause.«
»Zu dumm.«
Also, das war ganz eindeutig unhöflich, folglich konnte er ihr auch nicht den Hof machen. Unglaublich erleichtert strahlte sie ihn an.
»Was denn?« Er sah misstrauisch zu ihr herüber.
»Ach nichts.«
»Sie lächeln mich an. Das ist beängstigend.«
»Mein Lächeln ist beängstigend?« Das Strahlen ermattete.
»Nein, die Tatsache, dass Sie lächeln, ist beängstigend. Das zeigt mir, dass Sie mit Ihren Gedanken schon wieder weiß Gott wo sind.«
»Keineswegs. Ich weiß genau, wo ich mit meinen Gedanken bin. Ich bin nur froh, dass Sie es nicht wissen.« Verflixt, das hätte sie besser nicht gesagt. Sie durfte nicht vergessen, dass er ein Bulle war und dass Bullen notorisch neugierig waren.
»Ach ja?« Genau wie sie befürchtet hatte, sprang er auf ihren letzten Satz an.
»Das ist privat«, beschied sie ihm. Ein Gentleman würde es dabei belassen.
Wie hatte sie vergessen können, dass er kein Gentleman war? »Wieso privat?«, hakte er nach. »Hat es was mit Sex zu tun?«
»Nein!«, entfuhr es ihr entsetzt. Und weil die Vorstellung, er könnte glauben, sie hätte es darauf abgesehen, noch schlimmer war als das, was sie in Wirklichkeit gedacht hatte, sagte sie: »Ich hatte nur Angst, Sie könnten mir den Hof machen, darum war ich erleichtert, als Sie ›Zu dumm‹ sagten, weil Sie das bestimmt nicht gesagt hätten, wenn Sie es täten. Mir den Hof machen, meine ich.«
»Den Hof machen?« Seine Schultern begannen zu beben.
»Ja, wie immer man das heutzutage auch nennen mag. ›Anmachen‹ kommt mir ein bisschen zu pubertär vor, und außerdem ist das hier wohl kaum eine ›Anmache‹. Eher eine Entführung.«
»Ich habe Sie nicht entführt. Ich wollte mich nur ungestört mit Ihnen unterhalten, über gestern Abend …«
»Was soll mit gestern Abend sein? Solange ich gegen kein Gesetz verstoßen habe -«
»Würden Sie aufhören, ständig darauf herumzureiten? Ich möchte Ihnen ein paar Sachen über Clubs erzählen.«
»Dann lassen Sie sich gesagt sein, dass ich erwachsen bin und in jeden Club gehen kann, der mir gefällt. Und es auch tun werde, nur damit Sie’s wissen, also können Sie …«
»Würden Sie bitte mal den Mund halten!«, brüllte er sie an. »Ich will Ihnen gar nicht verbieten hinzugehen; ich will Ihnen nur erklären, worauf Sie aufpassen müssen!«
Sie verstummte für einige Sekunden. »Verzeihung«, sagte sie schließlich. »Aber bei Ihnen habe ich ständig das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Vielleicht weil Sie der Polizeichef sind.«
»Egal, hören Sie damit auf und mir zu. Mit Ihrem neuen Haarschnitt und so, wie Sie sich anziehen, werden die Männer auf Sie fliegen.«
»Ja«, bestätigte sie zufrieden. »Das tun sie.«
Er seufzte. »Haben Sie einen davon gekannt?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann können Sie ihnen nicht trauen.«
»Also, ich wollte keinen davon mit nach Hause nehmen oder so. Außerdem habe ich ein eigenes Auto, darum braucht mich niemand heimzufahren …«
Er schnitt ihr das Wort ab: »Haben Sie je von Date-Rape-Drogen gehört?«
Das ließ sie verstummen. Entsetzt sah sie ihn an. »Sie meinen … diese Männer -«
»Das weiß ich nicht, und Sie wissen es ebenso wenig. Genau darauf will ich hinaus. Wenn Sie wieder mal ausgehen, dann trinken Sie nur Sachen, die Ihnen eine Bedienung gebracht hat. Am besten gehen Sie selbst an die Bar und holen sich was. Lassen Sie Ihr Getränk nie auf dem Tisch stehen, wenn Sie tanzen gehen oder sonst was tun. Und wenn doch, dann trinken Sie nicht mehr davon. Bestellen Sie sich was Neues.«
»W-wie würde es denn schmecken? Wenn mir jemand was untermischen würde, meine ich.«
»In einem Drink würden Sie überhaupt nichts schmecken.«
»Meine Güte.« Sie ließ die Hände in den Schoß sinken. Der Gedanke, dass einer der netten Männer, mit denen sie gestern Abend getanzt hatte, sie möglicherweise unter Drogen gesetzt hätte, um sie irgendwohin zu bringen und sie während ihrer Bewusstlosigkeit zu vergewaltigen, war zutiefst verstörend. »Aber - wie soll ich es dann merken?«
»Im Allgemeinen merkt man überhaupt nichts. Sobald man die Wirkung zu spüren beginnt, kann man nicht mehr klar denken. Es ist also besser, mit einer Freundin in einen Club zu gehen, damit Sie aufeinander aufpassen können. Falls eine von beiden sich wie aus heiterem Himmel verwirrt oder schläfrig fühlt, sollte sie schleunigst in die Notaufnahme gebracht werden. Und lassen Sie sich um Himmels willen von keinem der Männer fahren, die Sie kennen gelernt haben.«
Bestürzt grübelte Daisy darüber nach, welche Freundin mit ihr in einen Club gehen würde. Ihr wollte keine einfallen. Nicht dass sie keine Freundinnen gehabt hätte, aber die waren alle verheiratet und hatten Kinder. Und Daisy in einen Club zu begleiten, damit sie sich einen Mann aufreißen konnte, wäre ihnen bestimmt nicht in den Sinn gekommen. Ihre Mutter und Tante Jo waren nicht mehr verheiratet, aber … nein, dieser Gedanke führte zu gar nichts.
»Es gibt verschiedene Arten von k.-o.-Tropfen«, fuhr er fort. »Rohypnol ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, aber was uns Polizisten wirklich Sorgen bereitet, ist GHB.«
»Was ist das denn?« Davon hatte sie noch nie gehört.
Er schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »PVC-Löser vermischt mit Abflussfrei.«
»O Gott!« Fassungslos starrte sie ihn an. »Das ist ja mörderisch!«
»In größeren Mengen ja. Und manchmal braucht man gar nicht viel davon, weil sich nie vorhersehen lässt, wie stark es wirkt.«
»Aber - brennt es nicht schrecklich in der Kehle, wenn man es schluckt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wer eine Überdosis erwischt, schläft einfach ein und wacht nicht wieder auf. In Verbindung mit Alkohol wird der Effekt noch verstärkt und noch unvorhersehbarer. Wenn ein Typ einer Frau GHB untermischt, dann ist es ihm im Grunde egal, ob sie stirbt oder nicht, Hauptsache, er kann sie fi- äh, Sex mit ihr haben, solange sie noch warm ist.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Daisy in die malerische Landschaft. Allein die Vorstellung, dass sich solche Dinge auf der Welt abspielten! Er hatte ihr die Szene in den Clubs in einem ganz anderen Licht gezeigt, und Daisy würde sie nie wieder unbefangen betrachten können. Aber wenn sie nicht ausging und unter Menschen kam, wie sollte sie dann je einen allein stehenden Mann kennen lernen? Auf der Unterlippe kauend, durchdachte sie die Situation. Alles in allem konnte sie ihr Ziel jedoch am einfachsten und effizientesten erreichen, wenn sie weiter in die Clubs ging. Sie würde halt aufpassen und sich seine Ratschlägen zu Herzen nehmen müssen.
»Ich werde aufpassen«, gelobte sie inbrünstig. »Vielen Dank für die Warnung.« Es war wirklich nett von ihm, dass er sich solche Umstände machte, nur um sie vor den Gefahren zu warnen, die ihr drohen konnten; so viel Nettigkeit hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Eventuell hatte sie ihn vorschnell abgeurteilt, nur weil er ein bisschen schroff war und allzu offenherzig in seiner Ausdrucksweise.
Als sie sich einer Kirche näherten, bremste er ab, wendete auf dem Parkplatz und fuhr dann in Richtung Hillsboro zurück. »Wann gehen Sie denn wieder aus?«, erkundigte er sich beiläufig.
Man konnte die Dankbarkeit auch übertreiben. »Wieso?«, fragte sie, misstrauisch bis zum Anschlag.
»Damit ich alle Männer warnen kann, ihre Weichteile einzupacken, wieso sonst?« Er seufzte. »Es war einfach eine höfliche Frage.«
»Ach so. Also, natürlich kann ich sonntags schlecht ausgehen und auch nicht unter der Woche, darum werde ich wohl bis nächstes Wochenende warten müssen. Außerdem habe ich in meinem neuen Haus zu tun, damit ich bald einziehen kann.«
»Sie ziehen um?«
»Ich habe ein Haus in der Lassiter Avenue gemietet.«
Er bedachte sie mit einem kurzen Seitenblick. »Lassiter? Nicht die allerbeste Gegend.«
»Ich weiß, aber die Auswahl war begrenzt. Außerdem werde ich mir einen Hund zulegen.«
»Am besten einen großen. Ein Deutscher Schäferhund wäre eine gute Wahl. Die sind intelligent und loyal und würden Sie vor Godzilla persönlich beschützen.«
Deutsche Schäferhunde wurden auch in den Hundestaffeln eingesetzt, deshalb kannte er sich vermutlich damit aus. Die Hunde mussten zuverlässig und vertrauenswürdig sein, sonst würde die Polizei nicht damit arbeiten.
Sie versuchte sich auszumalen, wie sie lesend in einem Sessel lümmelte, einen riesigen Hund dösend zu ihren Füßen, aber irgendwie wollte sich das Bild nicht recht einstellen. Sie war eher ein Kläffer-Typ; ein Terrier würde eher zu ihr passen als ein riesiger Deutscher Schäferhund. Sie hatte gelesen, dass kleine Hunde ebenso effektiv Diebe verscheuchten wie große, weil sie beim geringsten Geräusch zu bellen begannen. Schließlich brauchte sie vor allem eine Alarmanlage, keine Mordwaffe. Terrier waren gut im Anschlagen. Möglicherweise würde sie sich auch einen dieser niedlichen winzigen Malteserhunde zulegen, mit einem kleinen Schleifchen auf dem Scheitel.
Die ganze Heimfahrt über wog sie im Geist die Vorzüge der diversen Kleinhundrassen gegeneinander ab, bis sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen wurde, als er vor ihrem Haus anhielt. Einen Moment schaute sie blinzelnd auf den Minivan, der hinter ihrem Auto in der Auffahrt parkte, bevor sie ihn erkannte.
»Sie haben Besuch«, bemerkte Chief Russo.
»Meine Schwester Beth und ihre Familie«, bestätigte Daisy. Sie kamen mindestens zweimal im Monat zu Besuch, gewöhnlich am Sonntag nach der Kirche. Sie hätte damit rechnen können, hatte es aber völlig verdrängt.
Gerade als sie nach dem Türknauf fassen wollte, kam Tante Jo auf die Veranda geeilt. »Nur herein mit euch«, rief sie. »Ihr kommt gerade rechtzeitig für das selbst gemachte Eis.«
Noch bevor Daisy ihm erklären konnte, dass er nicht zu bleiben brauchte, war Chief Russo aus dem Wagen gesprungen. Als er ihr die Wagentür aufhielt, blieb sie wie angewurzelt sitzen und sah mit großen Augen zu ihm auf. »Na, machen Sie schon«, drängte er, »sonst schmilzt das Eis.«
»Das ist keine gute Idee«, flüsterte sie.
»Warum?«, flüsterte er zurück, wenngleich mit einem Funkeln in den Augen.
»Die glauben, dass Sie … dass wir …«
»Uns den Hof machen?«, ergänzte er hilfsbereit, wobei er sie aus dem Auto zerrte und zum Haus hinaufschob.
»Das ist überhaupt nicht komisch! Sie wissen gar nicht, wie schnell so was in einer Kleinstadt die Runde macht. Ich möchte meiner Familie keinen falschen Eindruck vermitteln.«
»Dann sagen Sie ihnen doch einfach die Wahrheit, nämlich dass ich Sie vor den Gefahren einer Vergewaltigung unter Drogeneinfluss warnen wollte.«
»Damit meine Mutter einen Herzinfarkt kriegt?«, brauste Daisy auf. »Unterstehen Sie sich!«
»Dann sagen Sie ihnen, dass wir einfach nur befreundet sind.«
»Als würden sie mir das glauben.«
»Warum sollte das so unglaublich sein?«
»Eben darum.« Inzwischen standen sie vor der Haustür, die er ihr aufhielt, um sie dann ins Haus zu geleiten. Sie gelangten in den kleinen Vorraum, der zur Linken unmittelbar in das gro ße Wohnzimmer überging. Das Stimmengewirr löste sich bei ihrem Eintritt in Nichts auf, nur das Klirren der abgestellten Eisschälchen war noch zu hören; Daisy hatte das Gefühl, von ganzen Heerscharen angestarrt zu werden, obwohl nur ihre Mutter und Tante Jo, Beth und Nathan sowie deren beide Kinder William und Wyatt im Raum waren. So gut wie nie stand sie derart im Mittelpunkt. Jeder Funken an Aufmerksamkeit erschien ihr wie ein Gewitterblitz.
»Äh … das ist Chief Russo.«
»Jack«, verbesserte er. Er durchquerte den Raum, um, Daisys Vorstellung folgend, erst ihrer Mutter und anschließend Tante Jo die Hand zu geben. Als Nathan an die Reihe kam, erhob er sich mit ausgestreckter Hand, doch seine Augen waren schmal wie bei einem Mann, der das Gefühl hatte, seine Familie beschützen zu müssen. Warum er das Gefühl hatte, sie beschützen zu müssen, wollte Daisy nicht in den Kopf. Offenbar war Chief Russo solche testosterongesteuerten Darbietungen gewohnt, denn er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Ich hole Ihnen auch ein Eis«, sagte Evelyn. »Wir haben nur Vanille, aber ich kann ein paar Walnusskerne und Karamellso ße darüber geben, wenn Sie gern möchten.«
»Vanille ist meine Lieblingssorte«, betonte der Polizeichef mit einer Inbrunst, dass Daisy ihm sogar geglaubt hätte, wenn sie das Gegenteil gewusst hätte. Irgendwie kam er ihr nicht vor wie ein Vanilleeisesser, aber sie würde sich deswegen auf keine Diskussion einlassen. Je schneller er sein Eis verputzte und wieder verschwand, desto besser für sie.
Beth würdigte den Polizeichef keines Blickes; sie starrte Daisy mit großen und leicht glasigen Augen an. »Du bist ja blond«, hauchte sie schwach. »Mama hat uns erzählt, dass du dein Haar aufgehellt hättest, aber … aber du bist ja blond!«
»Du bist hübsch«, befand der zehnjährige Wyatt beinahe vorwurfsvoll. Er war in einem Alter, in dem er nichts für Mädchen übrig hatte, darum war die Erkenntnis, dass sich seine Lieblingstante in eines verwandelt hatte, für ihn eher verstörend.
»Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. »Ich werde versuchen, mich zu bessern.«
»Mir gefällt’s«, meinte der elfjährige William und schenkte ihr jenes schüchterne Lächeln, mit dem er in wenigen Jahren Frauenherzen brechen würde.
»Und du trägst Jeans!«, heulte Beth beinahe. Sie selbst trug modische Shorts mit dazu passendem Top, aber die Daisy, die sie kannte, hatte praktisch nie Hosen getragen und kein einziges Paar Jeans besessen.
»Ich war einkaufen«, bekannte Daisy nervös, weil jeder, Chief Russo eingeschlossen, sie von Kopf bis Fuß musterte. »Und ich habe mir Ohrlöcher stechen lassen.« Sie deutete auf die kleinen Ringe, in der Hoffnung, die allgemeine Aufmerksamkeit wieder nach oben zu lenken.
»Ich finde, du siehst toll aus.« Nathan lächelte sie an. Sie liebte ihren Schwager, trotzdem wünschte sie, er würde in diesem Moment etwas mehr auf Beth eingehen, denn die war sichtlich schockiert über die Verwandlung ihrer großen Schwester.
Trotzdem war Beth keine Egoistin. Sie begann schließlich zu lächeln, erhob sich und schloss Daisy in die Arme. »Du siehst toll aus«, bestätigte sie, gerade als Evelyn mit zwei randvollen Schälchen mit sahnig weißer Eiscreme ins Wohnzimmer zurückkehrte.
»Ja, das tut sie.« Evelyn lächelte ihre beiden Töchter an und reichte Daisy und Chief Russo je eine Schale.
»Und«, mischte sich Tante Jo fröhlich ein, »seit wann trefft ihr beide euch?«
»Wir treffen uns nicht -«, setzte Daisy an, wurde aber von einer tiefen Stimme übertönt.
»Ungefähr seit einer Woche«, erklärte Chief Russo.