12
Am Samstagabend herrschte im Buffalo Club regelmäßig Hochbetrieb, darum konnte Jimmy, der Bartender, nicht genau sagen, wie lange Mitchell schon da gewesen war, ehe er ihn entdeckt hatte, mit einem Bier in der Hand und über eine rothaarige Hexe gebeugt, die genug Make-up im Gesicht hatte, um den kalifornischen San-Andreas-Graben zuzukleistern. Der Rotschopf schien wenig begeistert von seiner Anmache; die Frau wandte sich ständig wieder an ihre Freundin, eine genauso zugespachtelte Platinblondine, so als würden die beiden versuchen, ein Gespräch zu führen, und Mitchell würde sie dabei stören.
Jimmy sah kein zweites Mal zu ihnen hin; auf gar keinen Fall sollte Mitchell bemerken, dass er ihn beobachtete. Da Mitchell ein Bier in der Hand hielt, hatte er es wohl bei einer Kellnerin bestellt, statt sich wie sonst an der Theke breit zu machen. Jimmy griff sich das Telefon unter der Bar, wählte und sagte: »Er ist da.«
»Ach, Mist«, antwortete Sykes in einer genialen Eingebung. »Ich müsste ihn unbedingt sehen, aber im Moment kann ich auf keinen Fall weg. Na schön, dann eben ein andermal.«
»Klar«, sagte Jimmy und legte auf.
Sykes unterbrach ebenfalls die Verbindung und rief sofort bei zwei seiner Leute an. »Wir treffen uns in vierzig Minuten am Buffalo Club. Bringt alles Nötige mit.«
Anschließend machte Sykes sich bereit; er zog eine Baseballkappe auf, um seine Haare zu verstecken, schlüpfte in die Cowboystiefel, in denen er größer wirkte, und stopfte sich ein kleines Kissen ins Hemd. Bei Tageslicht würde man seine Verkleidung sofort als solche erkennen, aber nachts reichten solche Kleinigkeiten aus, um eine Beschreibung zu erschweren, falls im Club irgendwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Sykes hatte keineswegs vor, die Sache im Club zu erledigen; er wollte Mitchell herausholen und ihn irgendwohin bringen, wo es keine hundert potenziellen Zeugen gab, aber nichtsdestotrotz war Vorsicht besser als Nachsicht. Aus diesem Grund fuhr Sykes auch nicht in seinem eigenen Auto; er hatte sich eines geliehen, nur für alle Fälle, und dann das Nummernschild durch eines ersetzt, das er in Georgia von einem Wagen abgeschraubt hatte.
Vorausgesetzt, es kam nicht zu unvorhergesehenen Zwischenfällen wie einer weiteren Rauferei, würden sie ihr kleines Problem mit Mitchell noch heute Nacht lösen.
 
Daisy stellte fest, dass man gute Nerven brauchte, um ein zweites Mal in einen Club zu gehen, in dem man versehentlich eine Rauferei angezettelt hatte. Theoretisch dürfte es kaum jemanden geben, der den wahren Hintergrund kannte: sie selbst, Chief Russo, möglicherweise der Kerl, dessen Hoden sie zerquetscht hatte - obwohl der wahrscheinlich nicht groß darauf geachtet hatte, was um ihn herum vorging -, und vielleicht ein, zwei aufmerksame Beobachter. Also höchstens fünf Personen. Und wie standen die Chancen, dass ausgerechnet heute Abend einer der vier anderen auch kommen würde? Im Grunde konnte ihr überhaupt nichts passieren; niemand würde mit dem Finger auf sie zeigen, sobald sie durch die Tür trat, und rufen: »Da ist sie!«
Das sagte ihr wenigstens der gesunde Menschenverstand. Allerdings hatte ihr gesunder Menschenverstand auch behauptet, dass es keine große Sache sei, ein paar Kondome zu kaufen, folglich war ihr gesunder Menschenverstand nicht unfehlbar.
Deshalb hockte sie in ihrem Auto auf dem dunklen Parkplatz und schaute zu, wie Pärchen, Grüppchen und Einzelgänger in den Buffalo Club strömten, wo offenbar das Leben tobte. Immer, wenn die Tür aufschwang, schwappte ein Schwall Musik heraus, wobei sie den schweren Schlag der Bässe sogar durch die Wände wummern hörte. Frisch aufgedonnert, hockte sie in ihrem Wagen, ohne den Mumm zum Aussteigen aufzubringen.
Aber sie gab sich alle Mühe; jedes Mal, wenn sie sich neuen Mut zu sprach, war sie ein bisschen dichter davor, die Wagentür tatsächlich aufzudrücken. Heute trug sie Rot, das erste rote Kleid in ihrem Leben, und sie wusste genau, dass sie gut aussah. Ihre blonden Haare hatten nach wie vor diesen schlichten, eleganten Schwung, ihr Make-up war dezent, aber schmeichelhaft, und verglichen mit dem roten Kleid würden all die Schlauchtop-Trägerinnen billig wirken, was irgendwie doppelt gemoppelt war. Das Kleid war geschnitten wie ein Strandkleid, wie sie Anfang der sechziger Jahre getragen wurden, mit fünf Zentimeter breiten Trägern, einem - nicht allzu tiefen - Ausschnitt, enger Taille und einem vollen Rock, der bis knapp über die Knie reichte und beim Gehen um ihre Beine schwang. Sie trug wieder die taupefarbenen Pumps, und um ihren Knöchel glitzerte das Fußkettchen. Das und ihre Ohrringe waren ihr einziger Schmuck, wodurch sie cool und korrekt wirkte.
Sie sah nicht nur gut aus, sie sah fantastisch aus. Solange sie allerdings nicht ausstieg und in den Club ging, würde das niemand außer ihr selbst bemerken.
Andererseits war es vielleicht besser, abzuwarten, bis es drinnen ganz voll war, um die geringe Chance, dass jemand sie erkannte, noch zu verringern.
Sie trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Sie spürte, wie die Musik sie auf die Tanzfläche lockte, um nach Herzenslust zu tanzen. Sie liebte diese Nächte, sie liebte den Rhythmus, das Gefühl, wie sich ihr Körper bewegte, das Wissen, dass sie alles richtig machte, dass die im College genommenen Tanzstunden sich gelohnt hatten, weil sie noch alle Schritte beherrschte und weil die Männer ganz offensichtlich gern mit einer Partnerin tanzten, die mehr konnte, als nur auf der Stelle zu treten und herumzuhampeln. Nicht dass in Clubs mit Country-Musik viel gehampelt wurde; hier bevorzugte man Formationstänze und langsame Walzer -
»Ich versuche bloß, Zeit zu schinden«, erklärte sie ihrem Wagen. »Und damit nicht genug, ich bin sehr gut darin.«
Andererseits war sie auch sehr gut darin, Zeitgrenzen einzuhalten, die sie sich selbst gesetzt hatte. »Noch zehn Minuten«, nahm sie sich vor und schaltete die Zündung ein, um die Uhr im Armaturenbrett ablesen zu können. »In zehn Minuten gehe ich rein.«
Sie schaltete die Zündung wieder aus und überprüfte den Inhalt ihrer winzigen Tasche. Führerschein, Lippenstift, Taschentuch und zwanzig Dollar. Die Inventur nahm nicht mehr als, hm, fünf Sekunden in Anspruch.
Aus dem Club kamen drei Männer, deren Gesichter kurz von dem Neonschild über der Tür beleuchtet wurden. Der in der Mitte kam ihr vertraut vor, sein Name wollte ihr allerdings nicht einfallen. Sie beobachtete, wie die drei sich auf ihrem Weg über den vollen Parkplatz zwischen den eng und unordentlich geparkten Autos und Lastern durchschlängelten. Ein weiterer Mann stieg aus einem Wagen in ihrer Nähe, und alle vier schlugen den Weg zu einem Pick-up ein, der unter einem Baum geparkt war.
Ein weiterer Wagen bog auf den Parkplatz und streifte mit dem Scheinwerferstrahl über die Männer, die vor dem Pick-up standen. Drei der vier drehten sich nach dem Auto um, während der vierte den Scheinwerfern den Rücken zukehrte und etwas auf der Pritsche studierte.
Ein Mann und eine Frau stiegen aus dem Auto und gingen in den Club. Einen kurzen Moment dröhnte die Musik aus dem offenen Eingang, dann fiel die Tür wieder zu, und der Lärm verblasste erneut zu einem gedämpften Wummern. Abgesehen von den vieren unter dem Baum und ihr selbst, war der Parkplatz menschenleer.
Noch einmal schaltete Daisy die Zündung ein, um nach der Uhrzeit zu sehen. Noch vier Minuten. Gut; sie wollte auf gar keinen Fall aussteigen und allein über den Parkplatz gehen, solange die vier dort standen. Hoffentlich würden sie in der Zwischenzeit wegfahren. Sie schaltete die Zündung wieder aus und sah auf.
Einer der Männer war offenbar blitzeblau, weil er jetzt von zwei seiner Freunde gestützt werden musste, einem auf jeder Seite, und dann, vor ihren Augen, auf die Pritsche des Pick-ups geladen wurde, wobei die beiden seinen Kopf festhielten. Gut so; sie ließen ihn in diesem Zustand nicht mehr fahren, obwohl er allem Anschein nach ohnehin schon bewusstlos war. Beim Verlassen des Clubs hatten alle drei noch vollkommen normal gewirkt, aber sie hatte schon gehört, dass es Leute geben sollte, die ganz normal gehen und reden konnten, bis sie urplötzlich umkippten. Sie hatte das für ein Ammenmärchen gehalten, doch hier sah sie mit eigenen Augen den Gegenbeweis.
Die beiden, die ihren Freund auf die Pritsche des Pick-ups geladen hatten, setzten sich in die Kabine und fuhren los. Der vierte machte kehrt und ging zu seinem Auto zurück.
Wieder sah Daisy auf die Uhr. Ihre zehn Minuten waren um. Tief Luft holend, zog sie den Schlüssel aus dem Zündschloss, ließ ihn in ihr Täschchen fallen und stieg aus, wobei sie noch im Aussteigen die automatische Verriegelung aktivierte.
»Kanonen zur Linken, Kanonen zur Rechten …«, deklamierte sie bei ihrem Marsch über den Parkplatz und wünschte sich im nächsten Moment, etwas anderes zitiert zu haben, da die Leichte Brigade aus Tennysons Gedicht bei ihrem Angriff vollkommen aufgerieben worden war.
Ihr hingegen passierte nichts. Sie wurde nicht aus dem Sattel geschossen, und es deutete auch niemand mit dem Zeigefinger auf sie, als sie die Tür öffnete. Sie trat ein, zahlte ihre zwei Dollar und wurde von der Musik verschluckt.
Glenn Sykes saß in seinem Auto und beobachtete mit kalten, brennenden Augen, wie die Frau in dem Club verschwand. Woher zum Teufel war sie gekommen? Allem Anschein nach hatte sie im Dunkeln in einem der Autos gesessen, wo er und seine Leute sie nicht hatten sehen können.
Die Frage war nicht, ob sie etwas mitbekommen hatte, sondern wie viel sie mitbekommen hatte und wie viel sie davon begriff. Es war dunkel, Einzelheiten waren kaum auszumachen, und sie hatten keinen Lärm gemacht, der sie aufgeschreckt haben konnte. Wenn Mitchell nicht probiert hätte, das Pärchen auf sich aufmerksam zu machen, das in diesem Augenblick auf den Parkplatz gefahren war, dann hätte es für sie auch überhaupt nichts zu sehen gegeben. Aber verdammt noch mal, sobald Sykes aus dem Auto gestiegen war, hatte Mitchell begriffen, dass sie ihm ans Leder wollten und er nichts mehr zu verlieren hatte. Sykes konnte es dem Scheißer nicht verdenken, dass er einen letzten Versuch gewagt hatte. Zu dumm, dass Buddy schnell wie ein geölter Blitz mit dem Messer war; mehr als ein heiseres Krächzen hatte Mitchell nicht mehr herausgebracht.
Sie kannte keinen von ihnen; ihr war ganz offensichtlich auch nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Aber sie war ein loser Faden, und Sykes konnte keine losen Fäden brauchen. Ursprünglich hatte er geplant, Mitchell genug GHB einzuflößen, um drei Männer umzubringen, was das passende Ende für diesen Drecksack gewesen wäre. Er hatte sogar beschlossen, den Leichnam so zu deponieren, dass er gefunden wurde, noch bevor das GHB sich abgebaut hatte, damit die Bullen genau wussten, was ihn umgebracht hatte, und Mitchell als weiteres Drogenopfer abschreiben würden. Jetzt ging das nicht mehr, nicht mit dem Schlitz in Mitchells Kehle. Außerdem waren auf dem Parkplatz Blutspritzer, die unter Umständen irgendwem auffallen würden.
Falls sie hier Stammgast war, dann hatte sie Mitchell möglicherweise wieder erkannt, möglicherweise kannte sie ihn sogar näher - und würde sich möglicherweise an viel zu viel erinnern, wenn ihr zu Ohren kam, dass man ihm die Kehle durchgeschnitten hatte.
Auch wenn er nicht gesehen hatte, aus welchem Auto sie gestiegen war, so konnte er doch das Gebiet eingrenzen. Er stieg aus, schlenderte in den entsprechenden Bereich des Parkplatzes, ging dann in die Hocke und notierte in Windeseile alle Nummernschilder. Er spielte sogar mit dem Gedanken, in den Club zu gehen und sie ausfindig zu machen. Sie hatte blonde Haare und trug ein rotes Kleid; so viel hatte er erkennen können, als die Tür aufgegangen war. Im Grunde dürfte sie nicht schwer zu finden sein.
Allerdings hatte er Jimmy erklärt, dass er heute Abend nicht weg könne, und jetzt, wo Mitchell tot war, wollte er sich lieber nicht blicken lassen, vor allem nicht an jenem Ort, an dem Mitchell das letzte Mal lebend gesehen worden war.
Sykes seufzte. Er würde hier hocken bleiben und abwarten müssen, bis die Frau heimfuhr, um ihr dann nach Hause zu folgen. Eigentlich sollte er die Beseitigung von Mitchells sterblichen Überresten überwachen, aber er konnte schließlich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Er würde sich darauf verlassen müssen, dass Buddy und sein Kumpel den Leichnam an einer geeigneten Stelle abluden. Sie steckten ja ebenfalls bis zum Hals in der Sache. Er dagegen würde sich erst einmal um die Frau kümmern müssen.
 
Der Buffalo Club war, wenn überhaupt, noch voller als vor einer Woche. Daisy blieb kurz im Eingang stehen, bis ihre Sinne sich an den ohrenbetäubenden Stimmenlärm gewöhnt hatten und an das Geschrammel der Band, deren Lied dröhnend laut davon erzählte, dass ein gewisser Earl sterben müsse, wobei ein Großteil des weiblichen Publikums den Text aus voller Kehle mitgrölte. Ein Mann, wahrscheinlich ein Kerl namens Earl, wollte sich das nicht länger anhören und schleuderte sein Bier auf die Band, was den Maschendrahtzaun rund um die Bühne erklärte. Zwei Schränke von Rausschmeißern stürzten sich auf den Bierwerfer, der zu Daisys großer Genugtuung nach drau ßen eskortiert wurde. Sie war eben erst gekommen; sie wollte wenigstens ein paar Tänze absolvieren, bevor die nächste Rauferei losging.
»Hey, Süße, erinnerst du dich noch an mich?«, fragte ein Mann, der aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war. Ein Arm umfasste ihre Taille, und gleich darauf spürte sie, wie sie auf die überfüllte Tanzfläche geschoben wurde.
Sie sah zu dem großen Blonden auf, der sich anscheinend einen Schnauzer wachsen zu lassen versuchte. »Nein«, antwortete sie.
»Ach, komm schon. Wir haben letzte Woche miteinander getanzt -«
»Nein«, widersprach sie entschieden. »Bestimmt nicht. Ich habe mit Jeff, Danny, Howard und Steven getanzt. Und Sie sind keiner davon.«
»Da hast du Recht«, gab er ihr fröhlich Recht. »Ich heiße Harley, wie das Motorrad. Also, wenn wir letzte Woche schon nicht miteinander getanzt haben, dann sollten wir unbedingt diese Woche miteinander tanzen.«
Da sie sowieso schon auf der Tanzfläche standen, schien das eine sinnvolle Idee zu sein. Earl war mittlerweile endgültig gestorben, und die Band stimmte das nächste Lied an, bei dem nicht die Hälfte des Publikums mitzujohlen brauchte. Überall um sie herum wurde gewirbelt und gekreiselt, darum fiel Daisy in das Wirbeln und Kreiseln mit ein, eine Hand in Harleys, den kessen Rock um die Knie schwingend. Als Nächstes folgte Elvis Presleys »Kentucky Rain«, wobei Harley ihre Hand fest in seiner behielt.
»Sag mal, wie heißt du eigentlich?«, fragte er, nachdem ihm endlich eingefallen war, dass er das noch nicht wusste.
»Daisy.«
»Bist du mit jemandem hier? Möchtest du was trinken?« Ach du großer Gott, war er etwa einer jener Männer, vor denen Chief Russo sie gewarnt hatte? »Ich bin mit ein paar Freunden hier.« Sie deutete unbestimmt in das Labyrinth von Tischen hinein, weil diese Lüge schwer zu widerlegen schien. Dann ergänzte sie: »Danke, aber ich möchte im Moment nichts. Erst mal wollte ich tanzen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Ich glaube, ich brauche erst mal eine Pause.« Er verschwand so unvermittelt, wie er aufgetaucht war, und Daisy sah sich um. Bis dato hatte sie, den Typen mit den geplätteten Hoden nicht mitgerechnet, sechs Männer kennen gelernt, aber kein Einziger hatte ihr wirklich gefallen. Vielleicht war sie allzu wählerisch; aber andererseits war das kaum möglich; sie hatte doch mit jedem getanzt, der sie aufgefordert hatte.
Sie entdeckte Howard auf der Tanzfläche, der ihr zuwinkte. Vielleicht würde er sie wieder um einen Tanz bitten; er war von allen der beste Tänzer gewesen.
Dann - o nein - entdeckte sie ihn: den stämmigen Kerl, der sie auf seinen Schoß gezogen hatte. Er erblickte sie im selben Moment und sah sie mit nacktem Grauen an, ehe er sich abrupt abwandte.
Am liebsten hätte sie das Gleiche gemacht, sich abgewandt und so getan, als hätte sie ihn nicht gesehen, aber ihr Gewissen ließ ihr keine Ruhe. Er hätte sie nicht festhalten dürfen, und sie hatte ihm nicht absichtlich wehgetan, aber trotz alledem hatte sie ihm arge Schmerzen zugefügt und musste sich dafür bei ihm entschuldigen.
Entschlossen drängte sie durch die Menge, um ihn auf keinen Fall aus den Augen zu verlieren. Er schien nicht minder entschlossen, auf die Toiletten zuzusteuern, beinahe als wollte er vor ihr Reißaus nehmen, obwohl dieser Eindruck bestimmt täuschte. Er war in einem Club, wahrscheinlich hatte er Bier getrunken, folglich würde er wohl sein Wasser abschlagen wollen.
Er schaffte es bis in den kurzen Durchgang vor den Toiletten, bevor sie ihn eingeholt hatte, und stürmte durch die verschrammte Tür, als seien ihm sämtliche Höllenhunde auf den Fersen. Seufzend zwängte sich Daisy durch eine Gruppe von Gästen, ohne auf deren Proteste (weiblich) oder Einladungen (männlich) zu reagieren; sie kam sich vor wie ein Lachs, der sich flussaufwärts kämpft. Endlich schaffte sie es allen Hindernissen zum Trotz bis an die Wand neben den Toiletten, wo sie, von allen Seiten gedrängelt und geschubst, ihre Füße in den Boden stemmte und wartete.
Sie schien eine Ewigkeit dort zu stehen und musste drei Aufforderungen zum Tanzen ausschlagen, bevor ihr Opfer aus dem Gang geschlichen kam.
Mit einem tiefen Atemzug machte sie einen Schritt vor und klopfte ihm von hinten auf die Schulter.
Für einen Dickwanst konnte er verflixt hoch springen.
Er wich vor ihr zurück, als sei ihm der Leibhaftige erschienen, und lief knallrot an. »Bleiben Sie mir bloß vom Leib, Lady.«
Daisy war fassungslos; der Mann schien allen Ernstes Angst vor ihr zu haben. Sie blinzelte und versuchte ihm dann Mut zu machen: »Keine Angst«, begann sie so beschwichtigend wie möglich. »Ich tue Ihnen nichts. Ich wollte mich nur entschuldigen.«
Jetzt war er an der Reihe mit Blinzeln. Er hörte auf, vor ihr zurückzuweichen. »Entschuldigen?«
»Es tut mir wirklich Leid, dass ich Ihnen so wehgetan habe. Es war ein Versehen. Ich wollte nur von Ihrem Schoß weg und bin dabei mit der Hand an der falschen Stelle gelandet. Ich wollte Ihnen wirklich nicht die …« Ach, du großer Gott, Eier wollte ihr einfach nicht über die Lippen, obwohl das der gängigste Ausdruck zu sein schien, und Dingens wollte sie auch nicht sagen, weil sie schließlich weltgewandt wirken wollte. »… Weichteile zerquetschen«, beendete sie den Satz mit mehr Inbrunst als ursprünglich beabsichtigt.
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt, weil sie zu ihrer eigenen Überraschung den Schluss des Satzes so laut gesagt hatte, dass die Menschen in ihrer Nähe sie trotz der lauten Musik verstanden hatten und nun erstaunt zu ihnen hersahen.
Sein Gesicht leuchtete wie eine Tomate. »Schon gut«, murmelte er. »Und jetzt verschwinden Sie endlich.«
Daisy fand, dass er ruhig etwas höflicher hätte reagieren können, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass er eigentlich selbst an allem schuld gewesen war; hätte er sie nicht gepackt, als wäre es das Normalste auf der Welt, fremde Frauen auf seinen Schoß zu ziehen, dann wäre das alles nicht passiert. Leicht indigniert klappte sie den Mund auf, um das klarzustellen, als aus dem Nichts eine große Gestalt an ihrer Seite auftauchte und eine tiefe Stimme sagte: »Ich passe schon auf, dass sie Ihnen nicht zu nahe kommt.«
Und dann hob Chief Russo sie einfach so, ohne weitere Umstände, hoch und trug sie davon, genau wie bei ihrem letzten Besuch, diesmal allerdings nicht nach draußen, sondern auf die Tanzfläche.
»Sie sind wie Herpes«, bemerkte sie ärgerlich, als er sie endlich absetzte.
Eine Braue hob sich fragend: »So lästig?« Er nahm ihre rechte Hand in seine, platzierte ihre Linke auf seiner Schulter und legte den Arm um ihre Taille. »Tanzen Sie.«
»Sie tauchen wie üblich im ungünstigsten Moment auf.« Automatisch folgte sie seiner Führung zu den langsamen Takten eines weiteren Elvis-Songs. Die Band hatte sich heute Abend ganz auf Elvis eingestellt, vermutlich war es aber auch nicht dieselbe Band wie vorige Woche.
»Irgendwer muss Ihnen schließlich aus der Klemme helfen.«
»Aus der Klemme helfen? Aus der Klemme helfen?« Sie legte den Kopf in den Nacken und funkelte ihn zornig an. Obwohl sie hohe Absätze trug, musste sie noch zu ihm aufsehen. Wie Todd so treffend bemerkt hatte, war Chief Russo ein ziemlicher Brocken. »Danke, dass Sie mich letzte Woche hier rausgeholt haben, aber abgesehen davon haben Sie mich pausenlos nur in die Klemme gebracht
»Ich kann nichts dafür. Schließlich habe nicht ich eine Jahresration Gummis gekauft. Haben Sie eigentlich schon welche verbraucht?«
Ihr fehlten die Worte. Oder genauer gesagt höfliche Worte. Ihr kam schon einiges in den Sinn, was sie gern gesagt hätte, wenn sie nicht befürchtet hätte, dass Gott sie dann tot umfallen lassen würde.
Er grinste. »Wenn Sie jetzt Ihr Gesicht sehen könnten …« Sein rechter Arm schloss sich fester um sie, dann drehte er sie so schwungvoll herum, dass sie sich an seiner Schulter einkrallen musste. Irgendwie tanzte sie nach dieser Drehung viel enger mit ihm, enger, als sie mit irgendeinem ihrer anderen Partner getanzt hatte. Ihre Brüste strichen über sein Hemd, sie spürte das Schaukeln seiner Hüfte und seine Beine, die sich an ihren vorbeischoben. Sie waren - ach du Schreck, eines seiner Beine war genau zwischen ihren.
Ganz unvorbereitet wurde sie von einer Hitzewelle überlaufen. Sie fühlte sich, als würde sie innerlich schmelzen, weich werden, als würden ihre Knochen die Substanz und ihre Muskeln jede Spannung verlieren. Es war ein höchst merkwürdiges Gefühl und ausgesprochen betörend.
»Chief …«
»Jack.« Sein Arm fasste sie etwas fester, als wollte er bekräftigen, dass sie ihn endlich duzen sollte.
»Jack.« Sie schmolz wahrhaftig. Inzwischen hing sie praktisch in seinem Griff. Zwar bewegten sich ihre Füße noch und ließen sich von ihm führen, doch er trug fast ihr ganzes Gewicht. »Du hältst mich zu fest.«
Er neigte den Kopf, sodass sein Atem über ihr Ohr strich, und antwortete: »Ich glaube, ich halte dich gerade richtig.«
Gut möglich, vorausgesetzt, er mochte zerfließende Frauen. Könne auch sein, dass sie eher pro forma als aufrichtig protestiert hatte, denn sie unternahm keinerlei Anstrengungen, sich aus seinem Griff zu lösen. Es war viel zu schön, sich so an ihn zu schmiegen, ihren weichen Körper mit seiner festen Gestalt verschmelzen zu lassen. Ihre Brüste drückten sacht gegen seine Rippen, was ihr gut gefiel. Unglaublich gut gefiel. Zu ihrer eigenen Überraschung entdeckte sie, wie bewusst sie den harten Muskeln in der Schulter unter ihrer linken Hand nachspürte, dem warmen Arm, der ihre Taille fasste. Warm … O Gott, ja, er war warm. Seine Wärme und der moschusartige Duft hüllten sie ein und weckten in ihr den Wunsch, ihre Nase an seinem Hals zu reiben.
Sie wollte ihre Nase an Jack Russo reiben?
Der Schreck über diesen Gedanken verlieh ihr die Kraft, den Kopf zu heben. Er betrachtete sie mit eigenartig eindringlicher Miene; er sah zwar nicht streng aus, aber er lächelte auch nicht.
»Was ist denn los?«, fragte sie unverhältnismäßig leise.
Er schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«
»Aber du siehst …«
»Daisy. Halt den Mund und tanz.«
Sie hielt den Mund und tanzte. Durch kein Gespräch mehr abgelenkt, begann sie wieder mit ihm zu verschmelzen. Allerdings schien ihn das nicht zu stören. Wenn überhaupt, dann hielt er sie noch fester, so fest, dass sie sogar seine Gürtelschnalle an ihrem Bauch spürte.
Und nicht nur die.
Sie war immer noch damit beschäftigt, die Erkenntnis zu verarbeiten, dass sie den Penis des Polizeichefs spüren konnte, als der Tanz endete und die Band zu einer fröhlichen Nummer überging, deren Text davon handelte, wie Bubba auf die Jukebox schoss. Jack schnitt eine Grimasse und zog sie von der Tanzfläche, um sie dann mit fester Hand durch das Gedränge an eine Stelle an der Rückwand zu führen, wo sie beinahe hinter der Band standen, weswegen es hier auch ein paar freie Sessel gab. Er schubste sie in einen davon, hielt nach einer der herumeilenden Kellnerinnen Ausschau und sagte schließlich: »Du bleibst hier. Ich hole dir was zu trinken. Was möchtest du?«
»Ginger Ale mit Zitrone, bitte.«
Er grinste kopfschüttelnd und ließ sie dann allein zurück, während er in dem Getümmel um die Bar herum untertauchte.
Daisy harrte aus, in einer Art Schockzustand gefangen. Womöglich war sie noch naiver, als sie gemutmaßt hatte, denn er benahm sich keineswegs so, als sei es ungewöhnlich, dass ein Mann seine Partnerin während des Tanzes seinen Penis spüren ließ. Eventuell tanzten die Menschen vor allem deswegen miteinander. Dennoch hatte sie während ihrer verschiedenen Tänze keinen einzigen anderen Penis gespürt, nur den von Jack.
Nie wieder wäre er für sie der Polizeichef.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange er verschwunden war, so versunken war sie in ihre Gedanken. Wie es der Zufall wollte, wurde sie erst wieder zum Tanzen aufgefordert, als sie Jack mit einem Bier in der einen und einem Glas sprudelndem Ginger Ale in der anderen Hand zurückkommen sah.
»Willst du tanzen?«
Die Frage kam von einem Mann, der sich von links über sie beugte. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »Sexgott«, weshalb sie ohnehin abgelehnt hätte, doch dazu bekam sie gar keine Gelegenheit mehr. Jack stellte das Ginger Ale auf dem Tisch ab und erklärte: »Sie gehört zu mir.«
»Okay.« Sofort wandte sich der Mann einer anderen Frau zu. »Willst du tanzen?«
Jack ließ sich in den Sessel neben ihrem fallen und setzte die Bierflasche an die Lippen. Sie sah den Adamsapfel in seinem kräftigen Hals hüpfen und spürte, wie ihr wieder warm wurde. Dankbar griff sie nach ihrem kalten Ginger Ale.
Dann fiel ihr auf, dass sein Blick ständig über die Anwesenden wanderte und nur ab und zu kurz innehielt, um jemanden genauer ins Auge zu fassen, bevor er wieder weiterhuschte. Plötzlich durchzuckte sie eine Erkenntnis ganz anderer Art. »Du arbeitest, habe ich Recht?«
Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, aus glitzernden graugrünen Augen. »Mein Zuständigkeitsbereich beschränkt sich auf Hillsboro.«
»Ich weiß, aber du beobachtest trotzdem die Gäste.«
Er zuckte mit den Achseln. »Reine Gewohnheit.«
»Kannst du dich überhaupt je entspannen?« Auf einmal sah sie alle Polizisten in einem ganz neuen Licht. Waren sie ewig so angespannt, so aufmerksam, so misstrauisch? War ständige Wachsamkeit, sogar in der Freizeit, der Preis, den sie für ihren Job zahlen mussten?
»Klar.« Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, sodass der rechte Knöchel auf dem linken Knie zu liegen kam. »Zu Hause.«
Sie wusste nicht, wo er wohnte, konnte sich sein Zuhause nicht vorstellen. Hillsboro war zwar ein kleines Nest, aber zumindest so groß, dass man unmöglich jeden kennen oder alle Straßen wissen konnte. »Wo wohnst du eigentlich?«
Wieder ein kurzer Seitenblick. »Nicht weit von deiner Mutter weg. In Elmwood.«
Elmwood war nur vier Straßen entfernt. Es war ein Viertel mit teils gut erhaltenen, teils heruntergekommenen viktorianischen Häusern. Sie hatte ihn in ihrer Fantasie keinesfalls in einer viktorianischen Villa gesehen und sagte das auch.
»Ich habe das Haus von meiner Großtante geerbt. Tante Bessie, von der ich dir erzählt habe.«
Sie setzte sich auf. Sie hatte eine Bessie aus Elmwood gekannt. »Miss Bessie Childress?«
»Genau die.« Er hob sein Bier zu einem Toast auf seine tote Großtante.
»Du bist ein Neffe von Miss Bessie?«
»Ihr Großneffe. Als Kind habe ich bei ihr die schönsten Sommer meines Lebens verbracht.«
»Sie hat uns einen Kokoskuchen gebracht, als mein Vater starb.« Daisy war baff. Das war fast, wie nach Europa zu reisen und dort auf einen Nachbarn zu treffen. Sie hatte Jack für einen absoluten Außenseiter gehalten, stattdessen hatte er als Junge nur vier Straßen von ihr entfernt den Sommer verbracht.
»Tante Bessie machte den besten Kokoskuchen der Welt.« Lächelnd dachte er an die Kokoskuchen zurück, die er verschlungen hatte.
»Warum bin ich dir damals nie begegnet?«
»Zum einen war ich immer nur im Sommer da, während der Schulferien. Zum anderen bin ich älter als du; wir haben nicht mit denselben Kindern gespielt. Du hast wahrscheinlich mit Barbies gespielt, während ich Baseball gespielt habe. Und Tante Bessie ist in eine andere Kirche gegangen.«
Damit hatte er Recht. Miss Bessie Childress war eine standfeste Methodistin gewesen, während die Minors presbyterianisch waren. Darum war es nur folgerichtig, dass sie als Kinder einander nie begegnet waren, aber trotzdem traf es sie wie ein Schlag, dass er … na ja, fast einer von ihnen war.
Plötzlich gab es auf der Tanzfläche einen Tumult. Auf dem Boden lag rücklings ein Mann, um den sich sofort ein großer Ring bildete. Eine Frau kreischte: »Danny, nein!« Ihre schrille Stimme durchschnitt die laute Musik, die in einem dissonanten Akkord erstarb. Der Mann, der gestolpert - oder geschubst worden - war, sprang auf, senkte den Kopf und hechtete auf einen anderen Mann, der geschickt seitlich auswich und dabei mit einer Frau zusammenprallte, die ihrerseits auf dem Rücken landete. Ihr Partner rächte sich postwendend, und in der nächsten Sekunde war auf der Tanzfläche die Hölle los.
»Ach du Scheiße.« Jack seufzte schwer, packte Daisy am Handgelenk und zerrte sie hoch. »Geht das schon wieder los? Komm schon, wir verschwinden hintenrum.«
Sie mischten sich unter die Menschen, die das Gleiche vorhatten, aber auch diesmal setzte Jack seine Größe und seine Kraft ein, und gleich darauf standen sie in der feuchten Nachtluft, wo sie ungefährdet dem Brüllen und Klirren von drinnen lauschen konnten.
»Du bringst einfach alles in Wallung«, sagte er kopfschüttelnd.
»Ich kann überhaupt nichts dafür!«, protestierte sie entrüstet. »Ich war nicht einmal in der Nähe. Ich war bei dir
»Schon, aber allein dass du da bist, reicht, um alles aus dem Takt zu bringen. Ob du’s glaubst oder nicht, an den meisten Abenden passiert hier überhaupt nichts. Wo steht dein Auto?«
Sie führte ihn um das Gebäude herum zu ihrem Wagen. Auch aus dem Vordereingang strömten Gäste. Es sah aus, als sollten die Ereignisse der letzten Woche noch einmal nachgestellt werden.
Sie seufzte. Diesmal hatte sie nur dreimal getanzt. Wenn das so weiterging, konnte sie sich nächstes Mal glücklich schätzen, wenn sie überhaupt zum Tanzen kam, bevor gerauft wurde.
Als sie den Autoschlüssel hervorgekramt hatte, nahm er ihn aus ihrer Hand, entriegelte die Fahrertür und hielt sie auf, um Daisy anschließend den Schlüssel zurückzugeben. Mit verschlossener Miene beobachtete er, wie sie den Gurt anlegte und die Hand nach dem Griff ausstreckte, um die Tür zuzuziehen.
Er stand im Spalt und runzelte die Stirn. »Ich fahre dir nach.«
»Warum?« Sie war aufrichtig überrascht.
Er zuckte mit den Achseln. »Weil ich so ein Kribbeln zwischen den Schultern spüre. Weil mir zu Ohren gekommen ist, dass du umgezogen bist, und weil mir die Gegend nicht gefällt. Einfach so.«
»Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich habe das Licht auf der Veranda angelassen.«
Er bleckte die Zähne zu einem Lächeln, das kein Lächeln war. »Bitte«, sagte er, ohne dass es wie eine Bitte geklungen hätte.