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Gut gelaunt verließ Jack Russo die Bücherei. Sich
mit Miss Daisy zu beharken war ausgesprochen unterhaltsam; sie ging
sofort in die Luft, sie wurde sogar rot, aber sie gab keinen
Fingerbreit nach. Sie erinnerte ihn stark an seine Großtante
Bessie, bei der er viele Sommer hier in Hillsboro verbracht hatte.
Tante Bessie war eine eherne alte Südstaatenlady wie aus dem
Bilderbuch gewesen, aber erstaunlich tolerant, wenn man bedachte,
dass sie jeden Sommer mindestens zwei Monate lang einen lebhaften
Lausbuben beherbergt hatte.
Obwohl er anfangs entsetzt gewesen war über die
Aussicht, im Busch festzusitzen - als was er Hillsboro damals
betrachtet hatte -, hatte er im Lauf der Zeit seine Großtante und
die hier verbrachten Sommer zu lieben gelernt. Seine Eltern waren
der Auffassung gewesen, dass es ihm nicht schaden könne, aus
Chicago herauszukommen und zu sehen, dass da draußen noch eine
andere Welt existierte, und sie hatten Recht gehabt.
Anfangs hatte er sich zu Tode gelangweilt; er war
zehn Jahre alt und weit weg von Eltern, Freunden und seinen
Spielsachen. Tante Bessie konnte ganze vier - vier! - Fernsehsender
empfangen, und sie beschäftigte sich mit Dingen wie Häkeln, wenn
sie jeden Nachmittag vor der Glotze hockte und ihre »Geschichten«
anschaute. Sonntags ging sie gleich zweimal in die Kirche, montags
wusch sie Bettwäsche, dienstags wurde gewischt und donnerstags
eingekauft, weil man donnerstags gleich zwei Sonderangebots-Coupons
einlösen durfte. Er brauchte keine Uhr, um zu wissen, wie spät es
war; er brauchte nur nachzusehen, was Tante Bessie gerade
tat.
Und es war elend heiß gewesen. O Mann, war es heiß
da unten. Natürlich besaß Tante Bessie keine Klimaanlage; sie hielt
nichts von diesem neumodischen Unfug. Sie hatte in jedem Zimmer
einen Fensterventilator und dazu noch einen tragbaren, den sie je
nach Bedarf im Haus herumschleppte und der ihr vollauf genügte.
Ihre Fenster waren hinter den Fliegengittern immer weit geöffnet,
damit auch der leiseste Windhauch durch das Haus wehen
konnte.
Aber nachdem er Heimweh und Langeweile überwunden
hatte, entdeckte er allmählich, wie schön es war, im süß duftenden
Gras zu liegen und die Glühwürmchen - oder »Blinkerkäfer«, wie
Tante Bessie sie nannte - zu beobachten. Er half ihr in ihrem
kleinen Gärtchen, das sie allsommerlich neu bepflanzte, und lernte
dabei, den Geschmack von frischem Gemüse
zu schätzen wie auch die Arbeit zu würdigen, die nötig war, um es
auf den Tisch zu bringen. Im Lauf der Zeit hatte er sich mit den
Jungen aus der Nachbarschaft angefreundet und viele lange, heiße
Nachmittage beim Fußball- oder Baseballspielen zugebracht; er hatte
Angeln und Jagen gelernt, und zwar vom Vater eines seiner neuen
Freunde. Schließlich waren diese sechs Sommer, der erste mit zehn,
der letzte mit fünfzehn Jahren, die schönste Zeit seines Lebens
geworden.
In gewisser Hinsicht war er in Hillsboro nie
wirklich heimisch geworden; weil er immer nur im Sommer kam, lernte
er nie andere Kinder kennen, außer den Jungen in der unmittelbaren
Nachbarschaft. Seit er wieder in Hillsboro wohnte, war er erst
einem einzigen Menschen begegnet, der sich an ihn erinnern konnte.
Es waren halt doch schon über zwanzig Jahre vergangen, seit er
Tante Bessie das letzte Mal besucht hatte, abgesehen von einigen
Blitzbesuchen während der Ferienzeit. Aber in den Ferien war jeder
mit seiner eigenen Familie zugange, und er hatte nie die Zeit
gefunden, bei einem seiner alten Kumpel vorbeizuschauen.
Tante Bessie hatte es schließlich auf stolze
einundneunzig Jahre gebracht. Als sie vor drei Jahren gestorben
war, hatte man ihm zu seiner Verblüffung und Rührung eröffnet, dass
sie ihr altes Haus ihm hinterlassen hatte. Praktisch unverzüglich
hatte er beschlossen, von New York City nach Hillsboro zu ziehen;
er war damals frisch geschieden und hatte, obwohl er innerhalb des
New Yorker Polizeidepartments auf der Karriereleiter stetig weiter
nach oben kletterte, den Stress und Ärger in seinem Job gründlich
satt. Die Arbeit im Sondereinsatzkommando war zwar
abwechslungsreich, doch die damit verbundenen Gefahren waren mit
ein Grund für seine Scheidung gewesen. Nicht der entscheidende
Grund, aber ein Grund unter mehreren. Und was diesen einen Grund
anging, hatte seine Exfrau wahrscheinlich nicht ganz falsch
gelegen; die Frau eines Polizisten zu sein, der dauernd dann
gerufen wurde, wenn
die Lage besonders brenzlig wurde, erforderte Nerven wie
Drahtseile. Außerdem war er inzwischen sechsunddreißig Jahre alt;
mit einundzwanzig war er in Chicago zur Polizei gegangen und später
nach New York gezogen. Es war Zeit für einen Wechsel, Zeit, sich
nach einem weniger aufreibenden Job umzuschauen.
Er war ein paar Mal nach Hillsboro gefahren, hatte
sich das alte viktorianische Haus angeschaut, eine Liste der
anstehenden Reparaturen erstellt und gleichzeitig die Fühler nach
einem neuen Job ausgestreckt. Ehe er sich’s versah, fand er sich in
einem Vorstellungsgespräch für den Posten des Polizeichefs wieder,
und danach war alles klar. Er reichte seine Kündigung ein - unter
freundlichen Frotzeleien wegen seiner Beförderung zum Polizeichef
eines Hinterwäldlerkuhdorfs -, packte sein Zeug zusammen und zog in
Richtung Süden. Er verfügte hier über einen Stab von dreißig Mann,
ein Witz, verglichen mit der Polizeieinheit, die er eben verlassen
hatte. Aber Jack hatte das Gefühl, endlich seine Nische gefunden zu
haben.
Na gut, es war nicht viel los hier, aber es gefiel
ihm, die von ihm adoptierte Stadt zu beschützen. Verdammt, ihm
gefielen sogar die Stadtratssitzungen; vor allem die letzte, als
die Hälfte der Bevölkerung beinahe eine Revolution angezettelt
hatte, nur weil der Stadtrat dafür gestimmt hatte, rund um den
Stadtplatz Ampeln aufzustellen. Es war lächerlich, dass es in einem
Ort von neuntausend Einwohnern nur eine einzige Ampel gab, aber
wenn man die Leute hier reden hörte, hätte man meinen können, alle
verfassungsmäßigen Rechte und sämtliche Menschenrechte dazu seien
mit Füßen getreten worden. Wenn es nach Jack gegangen wäre, hätte
man überall im Ortszentrum Ampeln aufgestellt und vor sämtlichen
Schulen obendrein. Hillsboro hinkte seiner Zeit hinterher - er
hatte keine Witze gemacht, als er von den Waltons gesprochen hatte.
Der Verkehr nahm ständig zu, weil immer mehr Menschen in die
malerische kleine Stadt zogen, und er wollte vermeiden, dass erst
ein Schulkind überfahren werden musste, ehe die Bürger aufwachten
und beschlossen, dass sie möglicherweise doch mehr Ampeln
brauchten.
Eva Fay Storie, seine Sekretärin, telefonierte
gerade, als er in sein Büro trat, hob aber einen Finger, um ihn
aufzuhalten, und reichte ihm dann eine Tasse Kaffee sowie einen
Stapel von rosafarbenen Zetteln mit Kurznachrichten. »Danke«, sagte
er und setzte Kaffee nippend den Weg in sein Büro fort. Er wusste
nicht, wie Eva Fay das fertig brachte, aber immer, wenn er ins Büro
trat, wartete eine Tasse mit heißem, frisch aufgebrühtem Kaffee auf
ihn. Vielleicht hatte sie ja seinen Parkplatz verkabeln lassen, und
unter ihrem Schreibtisch brummte ein Summer, sobald er seinen Wagen
abstellte. Irgendwann würde er mal auf der Straße parken, um
auszuprobieren, ob er sie nicht doch überraschen konnte. Er hatte
Eva Fay von seinem Vorgänger übernommen, und sie waren beide
zufrieden mit dem Status quo.
Ein Anruf stammte von einem Detective in Marshall
County, mit dem er sich halbwegs angefreundet hatte, seit er nach
Hillsboro gezogen war. Jack legte die übrigen Nachrichten beiseite
und wählte die Nummer auf dem Zettel.
»Petersen?«
»Was gibt’s denn?« Jack wusste, dass er sich nicht
mit Namen zu melden brauchte. Selbst wenn Petersens Telefon keine
Anruferkennung hatte, würde sich Jack durch seinen Akzent
verraten.
»Hallo, Jack. Pass auf, wir haben hier eine
unidentifizierte Leiche, jung, weiblich, wahrscheinlich
Mexikanerin. Ein paar Jugendliche haben sie gestern Abend
gefunden.«
Jack lehnte sich zurück. In Hillsboro war niemand
als vermisst gemeldet, auf den diese Beschreibung zutraf; es gab
hier sowieso nicht viele Hispano-Amerikaner, und während der
vergangenen Monate war keine einzige Vermisstenmeldung eingegangen.
»Und?«
»Also, wir haben nicht das kleinste Fitzelchen von
einem Hinweis. Der Regen hat alle Spuren weggewaschen, und es gibt
keine offensichtliche Todesursache. Keine Wunden, keine Würgemale,
keine Beulen am Kopf, nichts.«
»Überdosis.«
»Ja, genau das vermute ich auch. Was mir dabei
Sorgen macht, sind die Fälle von GHB-Missbrauch, die in Huntsville,
in Birmingham, eigentlich überall, von Tag zu Tag zunehmen.«
»Du glaubst, sie wurde vergewaltigt?«
»Mit Sicherheit können wir das erst sagen, wenn wir
den Autopsiebericht aus Montgomery vorliegen haben; aber der
Verdacht liegt nahe. Sie hatte ein Kleid an, aber keine
Unterwäsche. Jedenfalls musste ich an einen Fall denken, der sich
vor ein paar Monaten in Huntsville zugetragen hat -«
»Ja, ich weiß schon. Damals sah die Sache ganz
ähnlich aus.«
Beide schwiegen. Wenn ein Typ durchgeknallt genug
war, einer Frau GHB unterzuschieben, damit er sie vergewaltigen
konnte, dann war es dumm anzunehmen, dass er beim zweiten Mal
Gewissensbisse bekommen würde. Das Problem dabei war, dass GHB so
weit verbreitet und so leicht zu beschaffen war; es war schlicht
ein Lacklösemittel, verdammt noch mal. Und auch Männer nahmen es;
es machte einen high, und Bodybuilder dopten sich damit. Die
Chancen, den Täter zu finden, standen nicht allzu gut, weil
mittlerweile verdammt viele Frauen aufwachten, die sich nicht mehr
erinnern konnten, wo und mit wem sie die Nacht verbracht hatten,
aber an ihrem Körper Hinweise auf einen Geschlechtsverkehr
entdeckten. Was die Suche nach diesen Ekelbatzen zusätzlich
erschwerte, war die Tatsache, dass nur die wenigsten Frauen diese
Vorfälle bei der Polizei meldeten.
»Wie kann ich dir dabei helfen?«, fragte er, weil
Petersen bestimmt irgendwas im Sinn hatte und ihn nicht nur
angerufen hatte, um ihm von dem Todesfall zu erzählen. Davon hätte
Jack auch aus den Berichten erfahren.
»Ich habe mich gefragt, ob ihr in Hillsboro schon
Fälle von GHB gehabt habt.«
»Nicht dass ich wüsste, aber unsere Gemeinde ist
trocken.« Der Missbrauch von GHB war eng an die Barszene gekoppelt,
weil der Alkohol den salzigen Geschmack der Droge überdeckte.
Nachdem es in Hillsboro keine Bars gab, war es nicht verwunderlich,
dass es hier keine Vergewaltigungen unter GHB oder k.-o.-Tropfen
gegeben hatte - noch nicht. Früher oder später würde irgendein
Jugendlicher aus dem Ort an dem Zeug sterben, oder sie würden einen
Bodybuilder damit erwischen, aber bis dato war die kleine Stadt
davon verschont geblieben. Das hieß nicht, dass niemand in
Hillsboro GHB nahm; es bedeutete nur, dass sie bis jetzt Glück
gehabt hatten und niemand daran gestorben war.
»Ich weiß immer noch nicht, worauf du
hinauswillst«, sagte er.
»Gehst du öfter in die Bars hier in der Gegend?
Nach Dienstschluss natürlich.«
»Scheiße, dazu bin ich zu beschäftigt und zu
alt.«
»Man ist nie zu alt für so was, Kumpel; geh mal in
eine rein und zähl die grauen Köpfe. Na egal, ich habe mir
Folgendes gedacht: Du bist einigermaßen neu in der Gegend. Wenn du
auf der Suche nach ein bisschen Unterhaltung nach Scottsboro oder
rüber ins Madison County fahren würdest, dann würde dich doch
außerhalb von Hillsboro kaum jemand erkennen, oder? Also könntest
du vielleicht ein bisschen durch die Clubs und Bars ziehen, die
Ohren aufsperren und dich umsehen, ob nicht irgendwer den Frauen
diesen Dreck in die Drinks kippt. Als verdeckter Ermittler oder
so.«
»Natürlich ohne offiziellen Auftrag und auf eigene
Kappe«, ergänzte Jack trocken.
»Scheiße, mein Freund, es ist besser so. Nichts
Offizielles. Du bist ein Single mit aktivem Sozialleben, da ist so
was doch ganz natürlich. Und wenn du bei deinen nächtlichen
Ausflügen
irgendwas bemerkst oder zufällig irgendwas mitbekommst, dann
könnte uns das weiterhelfen. Was hältst du davon?«
»Das ist doch mit der Stange im Nebel
stochern.«
»Zugegeben. Aber verdammt, ich kann es gar nicht
leiden, wenn in meinem County Mädchenleichen abgeladen werden.
Natürlich kann ich meine üblichen Quellen anzapfen und ein paar
Typen wegen Drogenbesitz einbuchten. Das wird aber diese
Scheißkerle, die hier durch die Bars ziehen, nicht aufhalten. Wir
brauchen irgendwas, wo wir ansetzen können. Und ich glaube, du
könntest unsere schärfste Waffe sein.«
»Wir wollen uns doch nicht mit der Drogenbehörde
anlegen oder denen am Ende in einen groß angelegten Einsatz
pfuschen.«
»Scheiß drauf«, erwiderte Petersen fröhlich.
Jack musste lachen, weil es tatsächlich ein
ziemlich guter Plan war. Falls er irgendwem damit auf die Zehen
trat, dann rein zufällig. Im Übrigen konnte es nicht schaden, mal
wieder ein bisschen durch die Clubs zu ziehen. Natürlich war er
eher auf Sondereinsätze als auf Drogen spezialisiert, aber er
kannte sich gut genug aus, um zu wissen, wonach er Ausschau halten
musste. »Wer weiß sonst noch davon?«
»Wovon?«, fragte Petersen, mit plötzlichem
Gedächtnisverlust geschlagen.
»Du kannst mir nicht zufällig verraten, was hier in
der Gegend die angesagten Clubs sind, oder?«
»Nicht aus persönlicher Erfahrung, nein. Aber mir
ist zu Ohren gekommen, dass es im Hot Wing in Scottsboro ziemlich
heiß hergehen soll. Vielleicht wäre auch der Buffalo Club im
Madison County was für dich oder der Sawdust Palace in Huntsville.
Falls du dich noch weiter umtun willst, fallen mir bestimmt noch
ein paar Namen ein.«
»Schick mir eine Liste«, sagte Jack und legte
auf.
Wieder lehnte er sich zurück und ging, die Augen
halb geschlossen, im Geist sein Vorhaben noch einmal durch. Regeln
gab es dabei keine, er war ganz auf sich gestellt. Scheiße, es gab
nicht mal einen richtigen Plan, es handelte sich einfach um
Nachforschungen ins Blaue hinein. Falls er tatsächlich irgendwas
aufschnappte, würde er ganz spontan entscheiden müssen. Zum Glück
hatte er in seiner Ausbildung gelernt, in jeder Situation die
Initiative zu behalten.
Er spürte den altgewohnten Adrenalinschub in den
Adern, die Anspannung. Vielleicht fehlte ihm die Action doch mehr,
als ihm bewusst gewesen war. Dies war etwas ganz anderes als eine
Geiselnahme oder ein bewaffneter Überfall, aber es war nicht
weniger wichtig. Frauen wurden unter GHB vergewaltigt und starben
sogar daran; wenn er auch nur einen dieser Typen zu fassen bekäme,
der das Zeug in irgendwelche Drinks kippte, dann würde er diesem
Schwein mit größtem Vergnügen die Eier an die Wand tackern.
An jenem Abend klopfte Daisy zaghaft an Todd
Lawrences elegant verzierte Bleiglastür. Die Tür war ein wahres
Kunstwerk und in einem Blau lackiert, das genau zu den Fensterläden
passte, während die einzelnen Facetten mit fichtengrünen
Nadelstreifen umrandet waren; angesichts der zahllosen Topfpflanzen
auf der breiten Veranda lag die Assoziation zu einem Wald ohnehin
nahe. Das Bleiglas glänzte wie frisch mit Essig geputzt. Zwei
antike Bronzelampen rahmten die Tür ein und verstreuten ein warmes
Licht, das den Eingang gemütlich und einladend wirken ließ.
Hinter dem Glas sah sie eine verschwommene Gestalt
näher kommen; dann ging die Tür auf, und Todd Lawrence persönlich
lächelte sie an. »Hallo, Daisy, wie geht es dir? Komm doch rein.«
Er trat einen Schritt zurück und winkte sie herein. »Dich habe ich
schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich schaffe es einfach nicht
mehr so oft in die Bücherei, wie ich sollte. Seit ich den Laden in
Huntsville eröffnet habe, wird meine gesamte Freizeit davon
aufgefressen.«
Todd vermittelte durch seine Art seinen Mitmenschen
stets das Gefühl, eng mit ihnen befreundet zu sein. Daisy hatte bis
heute nur wenig Kontakt mit ihm gehabt, doch seine lockere
Begrüßung linderte ihre Nervosität erheblich. Er war ein schlanker,
korrekt gekleideter Mann in braunen Chinos und einem Chambrayhemd
mit aufgekrempelten Ärmeln. Todd war vielleicht einen Meter achtzig
groß, hatte braunes Haar, braune Augen und ein angenehmes Lächeln,
das unwillkürlich zum Zurücklächeln animierte.
»Das ist bei erfolgreichen Geschäften meist so«,
sagte sie, während sie ihm in den Salon folgte und sich auf dem
angebotenen Platz auf der plüschigen Blümchencouch
niederließ.
»Wie wahr, wie wahr.« Er lächelte melancholisch.
»Den größten Teil meiner Freizeit verbringe ich auf Auktionen. An
vielen Abenden wird nur Schrott und nachgebautes Zeug angeboten,
aber ab und zu fördert man einen richtigen Schatz zu Tage. Erst
neulich habe ich für nicht einmal dreihundert Dollar eine
handbemalte orientalische Trennwand erstanden, die ich am nächsten
Tag für dreitausend weiterverkaufen konnte. Zufällig hatte ich
einen Kunden, der genau nach so einem Objekt gesucht hat.«
»Man braucht bestimmt ein scharfes Auge, um echte
Antiquitäten von Reproduktionen zu unterscheiden«, stimmte sie ihm
zu. »Und jahrelange Erfahrung vermutlich.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir hier und
da ein bisschen was angeeignet. Ich habe eine Schwäche für alte
Möbel, da war es ganz natürlich, dass ich bei diesen Themen
aufgepasst habe.« Er stemmte die Hände in die Hüften und studierte
sie mit zur Seite gelegtem Kopf. Normalerweise hätte sie eine
solche Musterung verlegen gemacht, aber Todd hatte ein Funkeln in
den Augen, das ihr vermittelte: Keine Angst, wir wollen uns
einfach amüsieren. »Und du möchtest dir ein neues Gesicht
zulegen?«
»Und zwar von Kopf bis Fuß«, gestand Daisy ehrlich.
»Ich
bin eine einzige Katastrophe, und ich weiß nicht, was ich dagegen
tun kann. Ich habe mir Make-up gekauft und mich geschminkt, aber
offenbar ist ein Trick bei der Sache, denn bei mir hat es einfach
schrecklich ausgesehen.«
Er lachte. »Um genau zu sein, sind mehrere Tricks
dabei.«
»Hab ich’s doch gewusst«, grummelte sie entrüstet.
Hätten sich die Kosmetikhersteller nicht die Mühe machen können,
die richtige Anwendungsweise auf ihre Produkte zu
drucken?
»Hauptsächlich erfordert es jedoch Übung und die
Erfahrung, nicht zu viel aufzutragen.« Er machte eine wegwerfende
Handbewegung. »Schminken ist keine Kunst. Das kann ich dir in nicht
mal einer Stunde beibringen. Was hast du sonst noch vor?«
Die Aufforderung, ihre Fehler aufzulisten, brachte
ihre Wangen spürbar zum Glühen. Herr im Himmel, konnte er ihr das
nicht ansehen? »Also, meine Haare. Ich überlege, ob ich mir von
Wilma nicht ein paar Strähnchen -«
»Ach du meine Güte, nein!«, fiel er ihr entsetzt
ins Wort.
Daisy seufzte. »Genauso haben auch meine Mutter und
Tante Jo reagiert.«
»Du solltest auf sie hören«, riet er ihr. »Sie
wissen, wovon sie reden. Wilma hat keine Ahnung von irgendwelchen
Trends oder den neuesten Produkt-Entwicklungen. Ich glaube, sie war
auf keiner Messe mehr, seit sie vor vierzig Jahren ihren Laden
aufgemacht hat. Es gibt in Huntsville oder Chattanooga ein paar
ganz gute Stylistinnen, die dir das Haar nicht gleich bis zur
Kopfhaut abschmoren.«
Daisy schauderte, als sie sich im Geist kahlköpfig
dasitzen sah. Todd hob eine Strähne ihres Haares hoch und betastete
sie. »Dein Haar ist gar nicht so schlecht«, urteilte er. »Es hat
zwar keinen erkennbaren Schnitt, aber es ist gesund.«
»Es hat überhaupt keinen Körper.« Nachdem sie schon
einmal angefangen hatte, würde sie nicht den kleinsten Makel
unerwähnt lassen.
»Das ist kein Problem. Es wird schon helfen, wenn
du es etwas kürzen lässt. Es gibt inzwischen ein paar ganz
fantastische Mittel, die dem Haar mehr Körper verleihen und es auch
leichter frisierbar machen. Außerdem bekommt es von selbst mehr
Körper, wenn du es aufhellen lässt.« Er musterte sie erneut.
»Vergiss die Strähnchen. Ich finde, du solltest blond
werden.«
»B-blond?«, quiekte sie. Sie konnte sich nicht im
Traum als Blondine sehen. Sie konnte sich schon kaum vorstellen,
wie sie mit ein paar blonden Strähnen aussehen würde.
»Nicht platinblond«, beschwichtigte er. »Wir lassen
von der Stylistin verschiedene Schattierungen auftragen, damit es
natürlicher aussieht.«
Für Daisy, die bis zu diesem Tag nicht einmal eine
Tönung an ihr Haar gelassen hatte, erschien das Färben in
verschiedenen Blondtönen so kompliziert wie eine Mondlandung.
»W-wie lange dauert so was?«
»Ach, ein paar Stunden, nehme ich an. Du wirst zwei
Behandlungen brauchen.«
»Wieso das denn?«
»Erst muss dein eigenes Pigment ausgebleicht
werden, dann wird Strähne für Strähne als Ersatz blondes Pigment
aufgetragen.«
Also, das klang zumindest logisch. Sie vermochte
nicht zu sagen, ob sie je die Nerven zu einem so drastischen
Schritt aufbringen würde, aber es war zumindest eine Möglichkeit,
die erwägenswert schien. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie
zweifelnd.
»Denk gut darüber nach«, riet er. »Was noch?«
Sie seufzte. »Meine Kleidung. Ich habe überhaupt
keinen Stil.«
Er betrachtete ihren Rock und die Bluse. Sobald sie
nach Hause gekommen war, hatte sie ihre Hose ausgezogen, weil sie
sich nicht eine Minute länger den Kopf darüber zerbrechen wollte,
ob ihr jemand auf den Hintern starrte. »O doch, den
hast du«, antwortete er gedehnt. »Leider ist es ein ganz
schrecklicher Stil.«
Ihre Wangen erglühten, und er lachte. »Keine
Angst«, beruhigte er sie freundlich und reichte ihr die Hand, um
ihr aufzuhelfen. »Du hast nur nie gelernt, das Beste aus deinem Typ
zu machen. Du hast jede Menge Potenzial.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Er ließ gemächlich den Zeigefinger
kreisen. »Dreh dich mal um. Langsam.«
Verlegen kam sie seiner Aufforderung nach.
»Du hast eine hübsche Figur«, sagte er. »Du
solltest sie herzeigen, statt sie in diesen Altweiberklamotten zu
verstecken. Deine Haut ist makellos, du hast schöne Zähne, und mir
gefallen ganz besonders deine ungewöhnlichen Augen. Ich wette, dir
waren deine Augen immer peinlich, habe ich Recht?«
Sie wäre am liebsten im Boden versunken, weil sie
sich als Kind ganz schrecklich für ihre unterschiedlich getönten
Augen geschämt und stets versucht hatte, sich im Hintergrund zu
halten, wo niemand sie bemerkte. »Herr im Himmel, die sind dein
Kapital«, versicherte ihr Todd. »Sie sind ungewöhnlich, etwas
Besonderes. Es ist ja nicht so, als hättest du ein braunes und ein
blaues Auge, was wirklich seltsam aussehen würde, außerdem weiß ich
nicht, ob so was genetisch überhaupt möglich ist. Du wirst
wahrscheinlich nie zu einer Männer mordenden Schönheit mutieren,
aber du kannst ganz eindeutig sehr, sehr attraktiv sein.«
»Mehr will ich sowieso nicht«, bekannte sie. »Ich
glaube, Männer mordend wäre mir zu viel.«
»Ich habe gehört, es soll ganz schön belastend
sein.« Er lächelte sie an. »In meinem Bad ist das beste Licht. Also
tritt in mein Boudoir, so du es wagst, und lass uns mit der
Metamorphose beginnen.«
Daisy zog einen kleinen Beutel aus ihrer Tasche.
»Ich habe meine Schminksachen mitgebracht.«
»Mal sehen, was du so hast.« Er nahm ihr den Beutel
ab und öffnete ihn. Er zischte nicht abfällig zwischen den Zähnen,
aber sie hatte das Gefühl, dass er sich das nur mit Mühe verkniff.
»Für den Anfang gar nicht schlecht«, bestätigte er mit freundlicher
Nachsicht.
Er führte sie durch sein Schlafzimmer ins Bad.
Falls Daisy je Zweifel an Todds sexueller Orientierung gehegt
hatte, so waren die beim Anblick seines Schlafzimmers ausgeräumt.
Es war in teuerstem Chippendale möbliert und mit einem riesigen
Himmelbett ausgestattet, das mit eleganten Gardinen verhüllt war,
während im übrigen Zimmer kunstvoll arrangierte Topfpflanzen
aufgestellt waren. Sie wünschte, ihr Schlafzimmer würde nur halb so
gut aussehen.
Wow - sogar das Bad hatte er dekoriert. In Grün und
Weiß, mit einem Hauch von Pfirsich und Rauchblau. Sie war noch nie
im Bad eines Mannes gewesen, schoss es ihr durch den Kopf.
Irgendwie war sie enttäuscht, eine ganz gewöhnliche Toilette zu
sehen, obwohl es natürlich keinen Grund gab, sich ein Urinal an die
Wand zu hängen. Außerdem hätte es nicht zum Dekor gepasst.
»Ich habe leider keinen Schminkstuhl«, bekannte er
mit einem Lächeln. »Männer rasieren sich nicht im Sitzen.«
Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht,
aber er hatte natürlich Recht; auch zum Rasieren mussten sich
Männer nicht hinsetzen.
»Also gut, erst einmal müssen wir das Gesicht frei
machen. Hast du ein Haarband oder so?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann schiebst du es hinter deine Ohren und kämmst
es aus der Stirn.«
Sie tat wie geheißen. Das schreckliche
Unsicherheitsgefühl war wieder da; ihre Finger fühlten sich an wie
dicke Würste, die sich schon bei der simplen Aufgabe, die Haare
hinter den Ohren festzustecken, verhedderten. Sie vermutete, dass
sie
beim ersten Schritt über ihre Füße gestolpert wäre, wenn sie in
dieser Minute irgendwohin hätte gehen müssen.
Er zog eine Schublade in dem eingebauten
Frisiertisch auf und holte eine etwa zwanzig Zentimeter breite und
zehn Zentimeter hohe Kiste heraus. Er ließ das Schloss
aufschnellen, hob den Deckel an, und mehrere kleine Laden schoben
sich heraus - Fächer voller Pinsel und Lippenstifte, ganze
Farbpaletten für Augen und Wangen, allesamt in kleinen Behältern
aufgereiht. »Meine Güte«, entfuhr es ihr, »du hast mehr Make-up als
der Wal-Mart.«
Er lachte. »Nicht ganz. Aber diese Kiste steckt für
mich voller Erinnerungen. Ich habe eine Zeit lang am Broadway
gespielt, und wenn man im Scheinwerferlicht nicht wie ein Gespenst
aussehen will, muss man sich die Schminke zentimeterdick ins
Gesicht schmieren.«
»Das hört sich lustig an. Ich war noch nie in New
York. Ich war überhaupt noch nirgendwo.«
»Es war lustig.«
»Warum bist du zurückgekommen?«
»Ich war dort nicht zu Hause«, sagte er schlicht.
»Außerdem brauchte Mutter jemanden, der sich um sie kümmert. So
läuft es eben: Sie kümmern sich um dich, solange du jung bist, und
du kümmerst dich um sie, wenn sie alt werden.«
»Familienbande«, bestätigte sie lächelnd, weil es
bei ihr nicht anders war.
»Ganz genau. So«, wurde er plötzlich wieder ernst,
»jetzt geht’s los.«
Nicht einmal eine Stunde später starrte Daisy wie
hypnotisiert in den Spiegel. Ihre Lippen teilten sich in
fassungslosem Staunen. O, sie war keine Männer mordende Schönheit,
aber die Frau im Spiegel war durchaus attraktiv, und sie wirkte
selbstbewusst und lebendig. Sie brauchte nicht im Hintergrund zu
verschwinden. Und was noch wichtiger war, die Männer würden sie
nicht länger übersehen!
Es war kein schmerzloser Prozess gewesen. Erst
hatte Todd darauf bestanden, dass sie sich die Brauen zupfte. »Du
willst schließlich keine Brauen wie Joan Crawford, Schätzchen. Sie
hatte ein einzelnes braunes Haar, das irgendwann fünf Zentimeter
lang war und das sie Oscar nannte oder so.« Zum Glück wollte er
auch nicht, dass sie Augen wie Bette Davis bekam, darum beschränkte
sich das Zupfen auf ein paar vereinzelt wuchernde Ausreißer.
Dann hatte er ihr Schritt für Schritt demonstriert,
wie man Make-up auflegt, was, zu ihrer Erleichterung, gar nicht so
kompliziert war. Das Wichtigste war, nicht zu viel des Guten zu tun
und stets ein Taschentuch sowie ein Wattebällchen zur Hand zu
haben, damit jeder Fehler sofort ausgebügelt und die überschüssige
Schminke weggewischt werden konnte. Nicht einmal das Mascara war
problematisch, nachdem sie erst einmal den Unterschied zwischen
einen klumpenden schlechten und einem gut zu verteilenden guten,
nämlich Todds, erkannt hatte.
»Ich hab’s geschafft«, stellte sie wie betäubt fest
und starrte dabei ihr Spiegelbild an. Ihr Gesicht sah glatt und
hell aus, die Wangen waren zart gerötet, die Augen größer und
geheimnisvoller, die Lippen voll und üppig. Und es war nicht einmal
schwierig gewesen.
»Natürlich hast du’s geschafft, Schätzchen. Es ist
überhaupt nichts dabei; alles reine Übungssache. Und halt dich bei
den Farben zurück. So, und nun überlegen wir uns was zu deinem
Stil. Was würde dir am ehesten liegen: Mädchen vom Land, altes Geld
oder Sexgöttin?«
Todd stand in seiner offenen Haustür und winkte
Daisy zum Abschied fröhlich nach. Er musste einfach lächeln. Dies
war das erste Mal, dass er länger mit ihr zusammen gewesen war,
obwohl er sie natürlich schon lange kannte, und er fand sie
wirklich sympathisch. Sie war für eine Frau ihres Alters rührend
naiv, aber sie war auch frisch und klug und ehrlich, und kein
bisschen abgestumpft. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie sie das
Beste aus ihrem Typ machen sollte, aber die hatte Gott sei Dank er.
Wenn er mit ihr fertig wäre, würden ihr die Männer reihenweise zu
Füßen liegen.
Er ging ans Telefon und wählte. Sobald am anderen
Ende der Hörer abgenommen wurde, sagte er: »Ich habe jemanden
gefunden. Daisy Minor.«