6
Gut gelaunt verließ Jack Russo die Bücherei. Sich mit Miss Daisy zu beharken war ausgesprochen unterhaltsam; sie ging sofort in die Luft, sie wurde sogar rot, aber sie gab keinen Fingerbreit nach. Sie erinnerte ihn stark an seine Großtante Bessie, bei der er viele Sommer hier in Hillsboro verbracht hatte. Tante Bessie war eine eherne alte Südstaatenlady wie aus dem Bilderbuch gewesen, aber erstaunlich tolerant, wenn man bedachte, dass sie jeden Sommer mindestens zwei Monate lang einen lebhaften Lausbuben beherbergt hatte.
Obwohl er anfangs entsetzt gewesen war über die Aussicht, im Busch festzusitzen - als was er Hillsboro damals betrachtet hatte -, hatte er im Lauf der Zeit seine Großtante und die hier verbrachten Sommer zu lieben gelernt. Seine Eltern waren der Auffassung gewesen, dass es ihm nicht schaden könne, aus Chicago herauszukommen und zu sehen, dass da draußen noch eine andere Welt existierte, und sie hatten Recht gehabt.
Anfangs hatte er sich zu Tode gelangweilt; er war zehn Jahre alt und weit weg von Eltern, Freunden und seinen Spielsachen. Tante Bessie konnte ganze vier - vier! - Fernsehsender empfangen, und sie beschäftigte sich mit Dingen wie Häkeln, wenn sie jeden Nachmittag vor der Glotze hockte und ihre »Geschichten« anschaute. Sonntags ging sie gleich zweimal in die Kirche, montags wusch sie Bettwäsche, dienstags wurde gewischt und donnerstags eingekauft, weil man donnerstags gleich zwei Sonderangebots-Coupons einlösen durfte. Er brauchte keine Uhr, um zu wissen, wie spät es war; er brauchte nur nachzusehen, was Tante Bessie gerade tat.
Und es war elend heiß gewesen. O Mann, war es heiß da unten. Natürlich besaß Tante Bessie keine Klimaanlage; sie hielt nichts von diesem neumodischen Unfug. Sie hatte in jedem Zimmer einen Fensterventilator und dazu noch einen tragbaren, den sie je nach Bedarf im Haus herumschleppte und der ihr vollauf genügte. Ihre Fenster waren hinter den Fliegengittern immer weit geöffnet, damit auch der leiseste Windhauch durch das Haus wehen konnte.
Aber nachdem er Heimweh und Langeweile überwunden hatte, entdeckte er allmählich, wie schön es war, im süß duftenden Gras zu liegen und die Glühwürmchen - oder »Blinkerkäfer«, wie Tante Bessie sie nannte - zu beobachten. Er half ihr in ihrem kleinen Gärtchen, das sie allsommerlich neu bepflanzte, und lernte dabei, den Geschmack von frischem Gemüse zu schätzen wie auch die Arbeit zu würdigen, die nötig war, um es auf den Tisch zu bringen. Im Lauf der Zeit hatte er sich mit den Jungen aus der Nachbarschaft angefreundet und viele lange, heiße Nachmittage beim Fußball- oder Baseballspielen zugebracht; er hatte Angeln und Jagen gelernt, und zwar vom Vater eines seiner neuen Freunde. Schließlich waren diese sechs Sommer, der erste mit zehn, der letzte mit fünfzehn Jahren, die schönste Zeit seines Lebens geworden.
In gewisser Hinsicht war er in Hillsboro nie wirklich heimisch geworden; weil er immer nur im Sommer kam, lernte er nie andere Kinder kennen, außer den Jungen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Seit er wieder in Hillsboro wohnte, war er erst einem einzigen Menschen begegnet, der sich an ihn erinnern konnte. Es waren halt doch schon über zwanzig Jahre vergangen, seit er Tante Bessie das letzte Mal besucht hatte, abgesehen von einigen Blitzbesuchen während der Ferienzeit. Aber in den Ferien war jeder mit seiner eigenen Familie zugange, und er hatte nie die Zeit gefunden, bei einem seiner alten Kumpel vorbeizuschauen.
Tante Bessie hatte es schließlich auf stolze einundneunzig Jahre gebracht. Als sie vor drei Jahren gestorben war, hatte man ihm zu seiner Verblüffung und Rührung eröffnet, dass sie ihr altes Haus ihm hinterlassen hatte. Praktisch unverzüglich hatte er beschlossen, von New York City nach Hillsboro zu ziehen; er war damals frisch geschieden und hatte, obwohl er innerhalb des New Yorker Polizeidepartments auf der Karriereleiter stetig weiter nach oben kletterte, den Stress und Ärger in seinem Job gründlich satt. Die Arbeit im Sondereinsatzkommando war zwar abwechslungsreich, doch die damit verbundenen Gefahren waren mit ein Grund für seine Scheidung gewesen. Nicht der entscheidende Grund, aber ein Grund unter mehreren. Und was diesen einen Grund anging, hatte seine Exfrau wahrscheinlich nicht ganz falsch gelegen; die Frau eines Polizisten zu sein, der dauernd dann gerufen wurde, wenn die Lage besonders brenzlig wurde, erforderte Nerven wie Drahtseile. Außerdem war er inzwischen sechsunddreißig Jahre alt; mit einundzwanzig war er in Chicago zur Polizei gegangen und später nach New York gezogen. Es war Zeit für einen Wechsel, Zeit, sich nach einem weniger aufreibenden Job umzuschauen.
Er war ein paar Mal nach Hillsboro gefahren, hatte sich das alte viktorianische Haus angeschaut, eine Liste der anstehenden Reparaturen erstellt und gleichzeitig die Fühler nach einem neuen Job ausgestreckt. Ehe er sich’s versah, fand er sich in einem Vorstellungsgespräch für den Posten des Polizeichefs wieder, und danach war alles klar. Er reichte seine Kündigung ein - unter freundlichen Frotzeleien wegen seiner Beförderung zum Polizeichef eines Hinterwäldlerkuhdorfs -, packte sein Zeug zusammen und zog in Richtung Süden. Er verfügte hier über einen Stab von dreißig Mann, ein Witz, verglichen mit der Polizeieinheit, die er eben verlassen hatte. Aber Jack hatte das Gefühl, endlich seine Nische gefunden zu haben.
Na gut, es war nicht viel los hier, aber es gefiel ihm, die von ihm adoptierte Stadt zu beschützen. Verdammt, ihm gefielen sogar die Stadtratssitzungen; vor allem die letzte, als die Hälfte der Bevölkerung beinahe eine Revolution angezettelt hatte, nur weil der Stadtrat dafür gestimmt hatte, rund um den Stadtplatz Ampeln aufzustellen. Es war lächerlich, dass es in einem Ort von neuntausend Einwohnern nur eine einzige Ampel gab, aber wenn man die Leute hier reden hörte, hätte man meinen können, alle verfassungsmäßigen Rechte und sämtliche Menschenrechte dazu seien mit Füßen getreten worden. Wenn es nach Jack gegangen wäre, hätte man überall im Ortszentrum Ampeln aufgestellt und vor sämtlichen Schulen obendrein. Hillsboro hinkte seiner Zeit hinterher - er hatte keine Witze gemacht, als er von den Waltons gesprochen hatte. Der Verkehr nahm ständig zu, weil immer mehr Menschen in die malerische kleine Stadt zogen, und er wollte vermeiden, dass erst ein Schulkind überfahren werden musste, ehe die Bürger aufwachten und beschlossen, dass sie möglicherweise doch mehr Ampeln brauchten.
Eva Fay Storie, seine Sekretärin, telefonierte gerade, als er in sein Büro trat, hob aber einen Finger, um ihn aufzuhalten, und reichte ihm dann eine Tasse Kaffee sowie einen Stapel von rosafarbenen Zetteln mit Kurznachrichten. »Danke«, sagte er und setzte Kaffee nippend den Weg in sein Büro fort. Er wusste nicht, wie Eva Fay das fertig brachte, aber immer, wenn er ins Büro trat, wartete eine Tasse mit heißem, frisch aufgebrühtem Kaffee auf ihn. Vielleicht hatte sie ja seinen Parkplatz verkabeln lassen, und unter ihrem Schreibtisch brummte ein Summer, sobald er seinen Wagen abstellte. Irgendwann würde er mal auf der Straße parken, um auszuprobieren, ob er sie nicht doch überraschen konnte. Er hatte Eva Fay von seinem Vorgänger übernommen, und sie waren beide zufrieden mit dem Status quo.
Ein Anruf stammte von einem Detective in Marshall County, mit dem er sich halbwegs angefreundet hatte, seit er nach Hillsboro gezogen war. Jack legte die übrigen Nachrichten beiseite und wählte die Nummer auf dem Zettel.
»Petersen?«
»Was gibt’s denn?« Jack wusste, dass er sich nicht mit Namen zu melden brauchte. Selbst wenn Petersens Telefon keine Anruferkennung hatte, würde sich Jack durch seinen Akzent verraten.
»Hallo, Jack. Pass auf, wir haben hier eine unidentifizierte Leiche, jung, weiblich, wahrscheinlich Mexikanerin. Ein paar Jugendliche haben sie gestern Abend gefunden.«
Jack lehnte sich zurück. In Hillsboro war niemand als vermisst gemeldet, auf den diese Beschreibung zutraf; es gab hier sowieso nicht viele Hispano-Amerikaner, und während der vergangenen Monate war keine einzige Vermisstenmeldung eingegangen. »Und?«
»Also, wir haben nicht das kleinste Fitzelchen von einem Hinweis. Der Regen hat alle Spuren weggewaschen, und es gibt keine offensichtliche Todesursache. Keine Wunden, keine Würgemale, keine Beulen am Kopf, nichts.«
»Überdosis.«
»Ja, genau das vermute ich auch. Was mir dabei Sorgen macht, sind die Fälle von GHB-Missbrauch, die in Huntsville, in Birmingham, eigentlich überall, von Tag zu Tag zunehmen.«
»Du glaubst, sie wurde vergewaltigt?«
»Mit Sicherheit können wir das erst sagen, wenn wir den Autopsiebericht aus Montgomery vorliegen haben; aber der Verdacht liegt nahe. Sie hatte ein Kleid an, aber keine Unterwäsche. Jedenfalls musste ich an einen Fall denken, der sich vor ein paar Monaten in Huntsville zugetragen hat -«
»Ja, ich weiß schon. Damals sah die Sache ganz ähnlich aus.«
Beide schwiegen. Wenn ein Typ durchgeknallt genug war, einer Frau GHB unterzuschieben, damit er sie vergewaltigen konnte, dann war es dumm anzunehmen, dass er beim zweiten Mal Gewissensbisse bekommen würde. Das Problem dabei war, dass GHB so weit verbreitet und so leicht zu beschaffen war; es war schlicht ein Lacklösemittel, verdammt noch mal. Und auch Männer nahmen es; es machte einen high, und Bodybuilder dopten sich damit. Die Chancen, den Täter zu finden, standen nicht allzu gut, weil mittlerweile verdammt viele Frauen aufwachten, die sich nicht mehr erinnern konnten, wo und mit wem sie die Nacht verbracht hatten, aber an ihrem Körper Hinweise auf einen Geschlechtsverkehr entdeckten. Was die Suche nach diesen Ekelbatzen zusätzlich erschwerte, war die Tatsache, dass nur die wenigsten Frauen diese Vorfälle bei der Polizei meldeten.
»Wie kann ich dir dabei helfen?«, fragte er, weil Petersen bestimmt irgendwas im Sinn hatte und ihn nicht nur angerufen hatte, um ihm von dem Todesfall zu erzählen. Davon hätte Jack auch aus den Berichten erfahren.
»Ich habe mich gefragt, ob ihr in Hillsboro schon Fälle von GHB gehabt habt.«
»Nicht dass ich wüsste, aber unsere Gemeinde ist trocken.« Der Missbrauch von GHB war eng an die Barszene gekoppelt, weil der Alkohol den salzigen Geschmack der Droge überdeckte. Nachdem es in Hillsboro keine Bars gab, war es nicht verwunderlich, dass es hier keine Vergewaltigungen unter GHB oder k.-o.-Tropfen gegeben hatte - noch nicht. Früher oder später würde irgendein Jugendlicher aus dem Ort an dem Zeug sterben, oder sie würden einen Bodybuilder damit erwischen, aber bis dato war die kleine Stadt davon verschont geblieben. Das hieß nicht, dass niemand in Hillsboro GHB nahm; es bedeutete nur, dass sie bis jetzt Glück gehabt hatten und niemand daran gestorben war.
»Ich weiß immer noch nicht, worauf du hinauswillst«, sagte er.
»Gehst du öfter in die Bars hier in der Gegend? Nach Dienstschluss natürlich.«
»Scheiße, dazu bin ich zu beschäftigt und zu alt.«
»Man ist nie zu alt für so was, Kumpel; geh mal in eine rein und zähl die grauen Köpfe. Na egal, ich habe mir Folgendes gedacht: Du bist einigermaßen neu in der Gegend. Wenn du auf der Suche nach ein bisschen Unterhaltung nach Scottsboro oder rüber ins Madison County fahren würdest, dann würde dich doch außerhalb von Hillsboro kaum jemand erkennen, oder? Also könntest du vielleicht ein bisschen durch die Clubs und Bars ziehen, die Ohren aufsperren und dich umsehen, ob nicht irgendwer den Frauen diesen Dreck in die Drinks kippt. Als verdeckter Ermittler oder so.«
»Natürlich ohne offiziellen Auftrag und auf eigene Kappe«, ergänzte Jack trocken.
»Scheiße, mein Freund, es ist besser so. Nichts Offizielles. Du bist ein Single mit aktivem Sozialleben, da ist so was doch ganz natürlich. Und wenn du bei deinen nächtlichen Ausflügen irgendwas bemerkst oder zufällig irgendwas mitbekommst, dann könnte uns das weiterhelfen. Was hältst du davon?«
»Das ist doch mit der Stange im Nebel stochern.«
»Zugegeben. Aber verdammt, ich kann es gar nicht leiden, wenn in meinem County Mädchenleichen abgeladen werden. Natürlich kann ich meine üblichen Quellen anzapfen und ein paar Typen wegen Drogenbesitz einbuchten. Das wird aber diese Scheißkerle, die hier durch die Bars ziehen, nicht aufhalten. Wir brauchen irgendwas, wo wir ansetzen können. Und ich glaube, du könntest unsere schärfste Waffe sein.«
»Wir wollen uns doch nicht mit der Drogenbehörde anlegen oder denen am Ende in einen groß angelegten Einsatz pfuschen.«
»Scheiß drauf«, erwiderte Petersen fröhlich.
Jack musste lachen, weil es tatsächlich ein ziemlich guter Plan war. Falls er irgendwem damit auf die Zehen trat, dann rein zufällig. Im Übrigen konnte es nicht schaden, mal wieder ein bisschen durch die Clubs zu ziehen. Natürlich war er eher auf Sondereinsätze als auf Drogen spezialisiert, aber er kannte sich gut genug aus, um zu wissen, wonach er Ausschau halten musste. »Wer weiß sonst noch davon?«
»Wovon?«, fragte Petersen, mit plötzlichem Gedächtnisverlust geschlagen.
»Du kannst mir nicht zufällig verraten, was hier in der Gegend die angesagten Clubs sind, oder?«
»Nicht aus persönlicher Erfahrung, nein. Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass es im Hot Wing in Scottsboro ziemlich heiß hergehen soll. Vielleicht wäre auch der Buffalo Club im Madison County was für dich oder der Sawdust Palace in Huntsville. Falls du dich noch weiter umtun willst, fallen mir bestimmt noch ein paar Namen ein.«
»Schick mir eine Liste«, sagte Jack und legte auf.
Wieder lehnte er sich zurück und ging, die Augen halb geschlossen, im Geist sein Vorhaben noch einmal durch. Regeln gab es dabei keine, er war ganz auf sich gestellt. Scheiße, es gab nicht mal einen richtigen Plan, es handelte sich einfach um Nachforschungen ins Blaue hinein. Falls er tatsächlich irgendwas aufschnappte, würde er ganz spontan entscheiden müssen. Zum Glück hatte er in seiner Ausbildung gelernt, in jeder Situation die Initiative zu behalten.
Er spürte den altgewohnten Adrenalinschub in den Adern, die Anspannung. Vielleicht fehlte ihm die Action doch mehr, als ihm bewusst gewesen war. Dies war etwas ganz anderes als eine Geiselnahme oder ein bewaffneter Überfall, aber es war nicht weniger wichtig. Frauen wurden unter GHB vergewaltigt und starben sogar daran; wenn er auch nur einen dieser Typen zu fassen bekäme, der das Zeug in irgendwelche Drinks kippte, dann würde er diesem Schwein mit größtem Vergnügen die Eier an die Wand tackern.
 
An jenem Abend klopfte Daisy zaghaft an Todd Lawrences elegant verzierte Bleiglastür. Die Tür war ein wahres Kunstwerk und in einem Blau lackiert, das genau zu den Fensterläden passte, während die einzelnen Facetten mit fichtengrünen Nadelstreifen umrandet waren; angesichts der zahllosen Topfpflanzen auf der breiten Veranda lag die Assoziation zu einem Wald ohnehin nahe. Das Bleiglas glänzte wie frisch mit Essig geputzt. Zwei antike Bronzelampen rahmten die Tür ein und verstreuten ein warmes Licht, das den Eingang gemütlich und einladend wirken ließ.
Hinter dem Glas sah sie eine verschwommene Gestalt näher kommen; dann ging die Tür auf, und Todd Lawrence persönlich lächelte sie an. »Hallo, Daisy, wie geht es dir? Komm doch rein.« Er trat einen Schritt zurück und winkte sie herein. »Dich habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich schaffe es einfach nicht mehr so oft in die Bücherei, wie ich sollte. Seit ich den Laden in Huntsville eröffnet habe, wird meine gesamte Freizeit davon aufgefressen.«
Todd vermittelte durch seine Art seinen Mitmenschen stets das Gefühl, eng mit ihnen befreundet zu sein. Daisy hatte bis heute nur wenig Kontakt mit ihm gehabt, doch seine lockere Begrüßung linderte ihre Nervosität erheblich. Er war ein schlanker, korrekt gekleideter Mann in braunen Chinos und einem Chambrayhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Todd war vielleicht einen Meter achtzig groß, hatte braunes Haar, braune Augen und ein angenehmes Lächeln, das unwillkürlich zum Zurücklächeln animierte.
»Das ist bei erfolgreichen Geschäften meist so«, sagte sie, während sie ihm in den Salon folgte und sich auf dem angebotenen Platz auf der plüschigen Blümchencouch niederließ.
»Wie wahr, wie wahr.« Er lächelte melancholisch. »Den größten Teil meiner Freizeit verbringe ich auf Auktionen. An vielen Abenden wird nur Schrott und nachgebautes Zeug angeboten, aber ab und zu fördert man einen richtigen Schatz zu Tage. Erst neulich habe ich für nicht einmal dreihundert Dollar eine handbemalte orientalische Trennwand erstanden, die ich am nächsten Tag für dreitausend weiterverkaufen konnte. Zufällig hatte ich einen Kunden, der genau nach so einem Objekt gesucht hat.«
»Man braucht bestimmt ein scharfes Auge, um echte Antiquitäten von Reproduktionen zu unterscheiden«, stimmte sie ihm zu. »Und jahrelange Erfahrung vermutlich.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir hier und da ein bisschen was angeeignet. Ich habe eine Schwäche für alte Möbel, da war es ganz natürlich, dass ich bei diesen Themen aufgepasst habe.« Er stemmte die Hände in die Hüften und studierte sie mit zur Seite gelegtem Kopf. Normalerweise hätte sie eine solche Musterung verlegen gemacht, aber Todd hatte ein Funkeln in den Augen, das ihr vermittelte: Keine Angst, wir wollen uns einfach amüsieren. »Und du möchtest dir ein neues Gesicht zulegen?«
»Und zwar von Kopf bis Fuß«, gestand Daisy ehrlich. »Ich bin eine einzige Katastrophe, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Ich habe mir Make-up gekauft und mich geschminkt, aber offenbar ist ein Trick bei der Sache, denn bei mir hat es einfach schrecklich ausgesehen.«
Er lachte. »Um genau zu sein, sind mehrere Tricks dabei.«
»Hab ich’s doch gewusst«, grummelte sie entrüstet. Hätten sich die Kosmetikhersteller nicht die Mühe machen können, die richtige Anwendungsweise auf ihre Produkte zu drucken?
»Hauptsächlich erfordert es jedoch Übung und die Erfahrung, nicht zu viel aufzutragen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schminken ist keine Kunst. Das kann ich dir in nicht mal einer Stunde beibringen. Was hast du sonst noch vor?«
Die Aufforderung, ihre Fehler aufzulisten, brachte ihre Wangen spürbar zum Glühen. Herr im Himmel, konnte er ihr das nicht ansehen? »Also, meine Haare. Ich überlege, ob ich mir von Wilma nicht ein paar Strähnchen -«
»Ach du meine Güte, nein!«, fiel er ihr entsetzt ins Wort.
Daisy seufzte. »Genauso haben auch meine Mutter und Tante Jo reagiert.«
»Du solltest auf sie hören«, riet er ihr. »Sie wissen, wovon sie reden. Wilma hat keine Ahnung von irgendwelchen Trends oder den neuesten Produkt-Entwicklungen. Ich glaube, sie war auf keiner Messe mehr, seit sie vor vierzig Jahren ihren Laden aufgemacht hat. Es gibt in Huntsville oder Chattanooga ein paar ganz gute Stylistinnen, die dir das Haar nicht gleich bis zur Kopfhaut abschmoren.«
Daisy schauderte, als sie sich im Geist kahlköpfig dasitzen sah. Todd hob eine Strähne ihres Haares hoch und betastete sie. »Dein Haar ist gar nicht so schlecht«, urteilte er. »Es hat zwar keinen erkennbaren Schnitt, aber es ist gesund.«
»Es hat überhaupt keinen Körper.« Nachdem sie schon einmal angefangen hatte, würde sie nicht den kleinsten Makel unerwähnt lassen.
»Das ist kein Problem. Es wird schon helfen, wenn du es etwas kürzen lässt. Es gibt inzwischen ein paar ganz fantastische Mittel, die dem Haar mehr Körper verleihen und es auch leichter frisierbar machen. Außerdem bekommt es von selbst mehr Körper, wenn du es aufhellen lässt.« Er musterte sie erneut. »Vergiss die Strähnchen. Ich finde, du solltest blond werden.«
»B-blond?«, quiekte sie. Sie konnte sich nicht im Traum als Blondine sehen. Sie konnte sich schon kaum vorstellen, wie sie mit ein paar blonden Strähnen aussehen würde.
»Nicht platinblond«, beschwichtigte er. »Wir lassen von der Stylistin verschiedene Schattierungen auftragen, damit es natürlicher aussieht.«
Für Daisy, die bis zu diesem Tag nicht einmal eine Tönung an ihr Haar gelassen hatte, erschien das Färben in verschiedenen Blondtönen so kompliziert wie eine Mondlandung. »W-wie lange dauert so was?«
»Ach, ein paar Stunden, nehme ich an. Du wirst zwei Behandlungen brauchen.«
»Wieso das denn?«
»Erst muss dein eigenes Pigment ausgebleicht werden, dann wird Strähne für Strähne als Ersatz blondes Pigment aufgetragen.«
Also, das klang zumindest logisch. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie je die Nerven zu einem so drastischen Schritt aufbringen würde, aber es war zumindest eine Möglichkeit, die erwägenswert schien. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie zweifelnd.
»Denk gut darüber nach«, riet er. »Was noch?«
Sie seufzte. »Meine Kleidung. Ich habe überhaupt keinen Stil.«
Er betrachtete ihren Rock und die Bluse. Sobald sie nach Hause gekommen war, hatte sie ihre Hose ausgezogen, weil sie sich nicht eine Minute länger den Kopf darüber zerbrechen wollte, ob ihr jemand auf den Hintern starrte. »O doch, den hast du«, antwortete er gedehnt. »Leider ist es ein ganz schrecklicher Stil.«
Ihre Wangen erglühten, und er lachte. »Keine Angst«, beruhigte er sie freundlich und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Du hast nur nie gelernt, das Beste aus deinem Typ zu machen. Du hast jede Menge Potenzial.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Er ließ gemächlich den Zeigefinger kreisen. »Dreh dich mal um. Langsam.«
Verlegen kam sie seiner Aufforderung nach.
»Du hast eine hübsche Figur«, sagte er. »Du solltest sie herzeigen, statt sie in diesen Altweiberklamotten zu verstecken. Deine Haut ist makellos, du hast schöne Zähne, und mir gefallen ganz besonders deine ungewöhnlichen Augen. Ich wette, dir waren deine Augen immer peinlich, habe ich Recht?«
Sie wäre am liebsten im Boden versunken, weil sie sich als Kind ganz schrecklich für ihre unterschiedlich getönten Augen geschämt und stets versucht hatte, sich im Hintergrund zu halten, wo niemand sie bemerkte. »Herr im Himmel, die sind dein Kapital«, versicherte ihr Todd. »Sie sind ungewöhnlich, etwas Besonderes. Es ist ja nicht so, als hättest du ein braunes und ein blaues Auge, was wirklich seltsam aussehen würde, außerdem weiß ich nicht, ob so was genetisch überhaupt möglich ist. Du wirst wahrscheinlich nie zu einer Männer mordenden Schönheit mutieren, aber du kannst ganz eindeutig sehr, sehr attraktiv sein.«
»Mehr will ich sowieso nicht«, bekannte sie. »Ich glaube, Männer mordend wäre mir zu viel.«
»Ich habe gehört, es soll ganz schön belastend sein.« Er lächelte sie an. »In meinem Bad ist das beste Licht. Also tritt in mein Boudoir, so du es wagst, und lass uns mit der Metamorphose beginnen.«
Daisy zog einen kleinen Beutel aus ihrer Tasche. »Ich habe meine Schminksachen mitgebracht.«
»Mal sehen, was du so hast.« Er nahm ihr den Beutel ab und öffnete ihn. Er zischte nicht abfällig zwischen den Zähnen, aber sie hatte das Gefühl, dass er sich das nur mit Mühe verkniff. »Für den Anfang gar nicht schlecht«, bestätigte er mit freundlicher Nachsicht.
Er führte sie durch sein Schlafzimmer ins Bad. Falls Daisy je Zweifel an Todds sexueller Orientierung gehegt hatte, so waren die beim Anblick seines Schlafzimmers ausgeräumt. Es war in teuerstem Chippendale möbliert und mit einem riesigen Himmelbett ausgestattet, das mit eleganten Gardinen verhüllt war, während im übrigen Zimmer kunstvoll arrangierte Topfpflanzen aufgestellt waren. Sie wünschte, ihr Schlafzimmer würde nur halb so gut aussehen.
Wow - sogar das Bad hatte er dekoriert. In Grün und Weiß, mit einem Hauch von Pfirsich und Rauchblau. Sie war noch nie im Bad eines Mannes gewesen, schoss es ihr durch den Kopf. Irgendwie war sie enttäuscht, eine ganz gewöhnliche Toilette zu sehen, obwohl es natürlich keinen Grund gab, sich ein Urinal an die Wand zu hängen. Außerdem hätte es nicht zum Dekor gepasst.
»Ich habe leider keinen Schminkstuhl«, bekannte er mit einem Lächeln. »Männer rasieren sich nicht im Sitzen.«
Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, aber er hatte natürlich Recht; auch zum Rasieren mussten sich Männer nicht hinsetzen.
»Also gut, erst einmal müssen wir das Gesicht frei machen. Hast du ein Haarband oder so?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann schiebst du es hinter deine Ohren und kämmst es aus der Stirn.«
Sie tat wie geheißen. Das schreckliche Unsicherheitsgefühl war wieder da; ihre Finger fühlten sich an wie dicke Würste, die sich schon bei der simplen Aufgabe, die Haare hinter den Ohren festzustecken, verhedderten. Sie vermutete, dass sie beim ersten Schritt über ihre Füße gestolpert wäre, wenn sie in dieser Minute irgendwohin hätte gehen müssen.
Er zog eine Schublade in dem eingebauten Frisiertisch auf und holte eine etwa zwanzig Zentimeter breite und zehn Zentimeter hohe Kiste heraus. Er ließ das Schloss aufschnellen, hob den Deckel an, und mehrere kleine Laden schoben sich heraus - Fächer voller Pinsel und Lippenstifte, ganze Farbpaletten für Augen und Wangen, allesamt in kleinen Behältern aufgereiht. »Meine Güte«, entfuhr es ihr, »du hast mehr Make-up als der Wal-Mart.«
Er lachte. »Nicht ganz. Aber diese Kiste steckt für mich voller Erinnerungen. Ich habe eine Zeit lang am Broadway gespielt, und wenn man im Scheinwerferlicht nicht wie ein Gespenst aussehen will, muss man sich die Schminke zentimeterdick ins Gesicht schmieren.«
»Das hört sich lustig an. Ich war noch nie in New York. Ich war überhaupt noch nirgendwo.«
»Es war lustig.«
»Warum bist du zurückgekommen?«
»Ich war dort nicht zu Hause«, sagte er schlicht. »Außerdem brauchte Mutter jemanden, der sich um sie kümmert. So läuft es eben: Sie kümmern sich um dich, solange du jung bist, und du kümmerst dich um sie, wenn sie alt werden.«
»Familienbande«, bestätigte sie lächelnd, weil es bei ihr nicht anders war.
»Ganz genau. So«, wurde er plötzlich wieder ernst, »jetzt geht’s los.«
Nicht einmal eine Stunde später starrte Daisy wie hypnotisiert in den Spiegel. Ihre Lippen teilten sich in fassungslosem Staunen. O, sie war keine Männer mordende Schönheit, aber die Frau im Spiegel war durchaus attraktiv, und sie wirkte selbstbewusst und lebendig. Sie brauchte nicht im Hintergrund zu verschwinden. Und was noch wichtiger war, die Männer würden sie nicht länger übersehen!
Es war kein schmerzloser Prozess gewesen. Erst hatte Todd darauf bestanden, dass sie sich die Brauen zupfte. »Du willst schließlich keine Brauen wie Joan Crawford, Schätzchen. Sie hatte ein einzelnes braunes Haar, das irgendwann fünf Zentimeter lang war und das sie Oscar nannte oder so.« Zum Glück wollte er auch nicht, dass sie Augen wie Bette Davis bekam, darum beschränkte sich das Zupfen auf ein paar vereinzelt wuchernde Ausreißer.
Dann hatte er ihr Schritt für Schritt demonstriert, wie man Make-up auflegt, was, zu ihrer Erleichterung, gar nicht so kompliziert war. Das Wichtigste war, nicht zu viel des Guten zu tun und stets ein Taschentuch sowie ein Wattebällchen zur Hand zu haben, damit jeder Fehler sofort ausgebügelt und die überschüssige Schminke weggewischt werden konnte. Nicht einmal das Mascara war problematisch, nachdem sie erst einmal den Unterschied zwischen einen klumpenden schlechten und einem gut zu verteilenden guten, nämlich Todds, erkannt hatte.
»Ich hab’s geschafft«, stellte sie wie betäubt fest und starrte dabei ihr Spiegelbild an. Ihr Gesicht sah glatt und hell aus, die Wangen waren zart gerötet, die Augen größer und geheimnisvoller, die Lippen voll und üppig. Und es war nicht einmal schwierig gewesen.
»Natürlich hast du’s geschafft, Schätzchen. Es ist überhaupt nichts dabei; alles reine Übungssache. Und halt dich bei den Farben zurück. So, und nun überlegen wir uns was zu deinem Stil. Was würde dir am ehesten liegen: Mädchen vom Land, altes Geld oder Sexgöttin?«
 
Todd stand in seiner offenen Haustür und winkte Daisy zum Abschied fröhlich nach. Er musste einfach lächeln. Dies war das erste Mal, dass er länger mit ihr zusammen gewesen war, obwohl er sie natürlich schon lange kannte, und er fand sie wirklich sympathisch. Sie war für eine Frau ihres Alters rührend naiv, aber sie war auch frisch und klug und ehrlich, und kein bisschen abgestumpft. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie sie das Beste aus ihrem Typ machen sollte, aber die hatte Gott sei Dank er. Wenn er mit ihr fertig wäre, würden ihr die Männer reihenweise zu Füßen liegen.
Er ging ans Telefon und wählte. Sobald am anderen Ende der Hörer abgenommen wurde, sagte er: »Ich habe jemanden gefunden. Daisy Minor.«