Kapitel 2 Untersuchung
»Schaffst du das auch, Angie?«, fragte Mom zum dritten Mal innerhalb von drei Minuten. Ihre Wangen waren knallrot, als ob ihr die Hektik, die ihre Ankunft in der Notaufnahme ausgelöst hatte, peinlich wäre.
»Ich möchte es nur hinter mich bringen«, entgegnete Angie. In ihrem Hinterkopf pochte es dumpf. Sie war zu müde, um irgendwelche stärkeren Gefühle zu empfinden. Moms Angst reichte sowieso für sie beide. »Es ist ja nicht so, dass ich die Wahl hätte, oder?«
Beim Klang ihrer Stimme wandte sich Detective Brogan um. »Genau genommen hast du die schon. Wir brauchen dein Einverständnis. Aber ich kann nicht genug betonen, wie wichtig diese Untersuchung für unsere Ermittlungen ist.«
Eine Schwester mit einem Klemmbrett und weißen Turnschuhen näherte sich auf leisen Sohlen. Sie blickte zwischen ihren Formularen und Angie hin und her, und ihr Gesicht bekam einen mitfühlenden Ausdruck. »Ich bringe dich jetzt zu einem Untersuchungsraum, und wir gehen das hier durch.«
Dad sah aus, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen zupfte er nur an seinen Daumennägeln. »Ich werde, äh, ich werde hier einfach mit Phil warten.«
Der Raum, in dem Angie untersucht werden sollte, war schockierend weiß – bis auf die Wolkenlandschaft, die an die blassblaue Decke gemalt war. Die Liege war so kurz, dass Angie sich gar nicht ganz ausstrecken konnte, und sie fragte sich, wie sie es schaffen sollte, nicht hinunterzufallen. Als die Schwester die Prozedur mit dem Spurensicherungsset erklärte, hörte sie ihr unbeteiligt und wie betäubt zu. Das hier war nicht real.
Die Schwester hielt ihr einen Kugelschreiber hin. »Angela, hier musst du unterschreiben, okay?«
Ganz langsam und mit ihrer schönsten Schrift schrieb sie »Angela Gracie Chapman«, wobei sie sich wünschte, sie hätte noch mehr Vornamen, damit es länger dauerte. Die Frage in der Zeile daneben konnte sie dagegen nicht beantworten. »Mom, welcher Tag ist heute?«
»Der 18. September«, erwiderte ihre Mutter.
Angie blinzelte heftig, während sie das Datum hinschrieb. Dann reichte sie Mom den Stift, damit sie als »Elternteil/Vormund einer Minderjährigen« unterschrieb.
Wortlos strich Mom die Jahreszahl durch und korrigierte sie.
Angie schluckte die aufsteigende Magensäure erneut hinunter. Drei Jahre. Ausgelöscht mit einem Schwung des Kugelschreibers. Wie konnte das sein?
Moms Hand verharrte noch immer über dem Formular. »Sie war bisher noch nie beim Gynäkologen.«
»Möchten Sie im Raum bleiben?«, fragte die Schwester.
Angie bemerkte den aufgelösten Blick ihrer Mutter. Sie schüttelte den Kopf. »Das käme mir komisch vor«, sagte sie. »Meine Mutter sollte draußen warten. Zusammen mit meinem Dad.«
Die Schwester berührte Mom an der Schulter. »Mrs Chapman, ich werde während der gesamten Untersuchung dabei sein. Ich bin mit dieser Art von Fall sehr vertraut. Möchten Sie mir vielleicht Angelas Wechselkleidung geben?«
In Moms Gesicht spiegelten sich Schuldbewusstsein und Erleichterung. Sie unterschrieb das Formular und küsste Angie auf die Wange. »Ich warte im Flur, Schatz. Ich bin ganz nah bei dir.«
Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sich Angie plötzlich sehr viel jünger als sechzehn, sogar jünger als dreizehn. Eher wie sieben. Sie wollte ihre Mom wieder hereinrufen, damit sie ihr die Hand hielt und ihr sagte, dass bald alles wieder gut sein würde. Sie wollte, dass ihre Mutter sie daran erinnerte, sich auf dem Weg nach draußen einen Sticker geben zu lassen. Oder dass sie Angie fragte, wo sie sich zwei Kugeln Eis holen wollte, wenn sie hier fertig waren. Bisher hatte sie Arztbesuche, die Peinlichkeit, sich auszuziehen, die Kälte des Raums, die schreckliche Angst vor der Nadel immer auf diese Weise überstanden.
»Okay, Angela. Du schaffst das schon.« Die Schwester breitete eine Plane auf dem Boden aus. »Stell dich bitte in die Mitte der Unterlage, und leg alle deine Kleider darauf ab, ohne dass sie mit dem Boden in Kontakt kommen.«
»Warum?«, fragte Angie, während sie ihr geblümtes Oberteil aufknöpfte. Mit ungeschickten, zitternden Fingern nestelte sie daran herum.
»An deinen Kleidern könnten sich beweisträchtige Haare oder Fasern befinden. Die Schuhe auch.«
»Oh.« Verlegen öffnete sie den Reißverschluss der Hose, die sie trug. Sie konnte sie nicht ihre Hose nennen – denn sie hatte sie nie zuvor gesehen. Angie ließ sie zu Boden fallen und streifte die Schuhe ab. Im sterilen Licht schimmerte ihre Haut weiß und zog sich über den Muskeln zusammen. Angie bekam eine Gänsehaut. Als Nächstes schälte sie sich aus den Strümpfen.
»Woher hast du die Narben?«, fragte die Schwester und zeigte auf Angies Füße.
Als sie dem Finger der Schwester mit den Augen folgte, drehte sich ihr wieder der Magen um. Saure Flüssigkeit brannte sich einen Weg hoch zu ihrer Kehle.
Um jeden ihrer Knöchel lief ein fünf Zentimeter breites Band, ein dicker, unebener Striemen aus Narbengewebe. Angie presste sich eine Hand auf den Mund, sie wollte sich nicht übergeben. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie zwischen den Fingern hindurch. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln.
Oh mein Gott. Was war passiert? Ihre Füße waren schrecklich! Ekelhaft! Sie würde niemals wieder Sandalen tragen.
Mit vor der nackten Brust verschränkten Armen, die Hände in die Achselhöhlen geklemmt, stand sie zitternd in der Unterhose da. Der Slip war zu klein und total ausgeblichen, und doch war er vertraut inmitten all der Fremdheit. Es war tatsächlich ihre Unterhose. Blasse Schmetterlinge jagten über ihre Hüften. Sie konzentrierte sich darauf und versuchte aus dem Einzigen, was einen Sinn ergab, Trost zu schöpfen.
Die Schwester blickte von ihrem Klemmbrett auf. »Du musst alles ausziehen, Angela, und dich dann auf die Untersuchungsliege setzen. Da liegt ein Patientenhemd.« Sie drückte auf die Sprechanlage und verständigte den Arzt.
Angie ließ die Schmetterlinge fallen und hechtete zur Liege. Das steife Einwegnachthemd kratzte, aber wenigstens war sie nicht mehr nackt. Ihre Beine baumelten über die Kante der Liege, ihre Knie waren blau und knubbelig. Sie sah zu, wie die Schwester ihre Kleider in eine Plastiktüte steckte und sorgfältig kennzeichnete.
»Jetzt eine schnelle Maniküre«, sagte sie, schabte vorsichtig den Dreck unter Angies Fingernägeln hervor und gab ihn in ein kleines Döschen. »Bitte entschuldige.« Sie spähte unter Angies Patientenhemd. »Nicht genug Haare, um sie auszukämmen«, bemerkte sie und ließ das Nachthemd wieder über Angies Schoß fallen. Angie presste die Fußknöchel noch enger zusammen.
»Jetzt mach bitte den Mund auf.« Automatisch öffnete Angie den Mund für den Wattetupfer. Ihr Würgereflex setzte ein, und sie atmete heftig durch die Nase, um sich nicht zu übergeben. Ihre Wangeninnenseiten und ihre Zunge wurden sorgfältig abgerieben, dann landete der Wattetupfer in einem langen Glasröhrchen.
Die Schwester nahm ihren Kugelschreiber und das Klemmbrett. »Wann war deine letzte Periode?«
Angie wurde rot. »Ich habe meine Tage noch nicht. Ich bin eine Spätentwicklerin.«
In diesem Moment ertönte ein lautes Klopfen, und der Arzt trat ein. Angie stockte der Atem. Es war ein Mann. Oh Gott. Sie war noch nie von einem Mann untersucht worden. Zitternd und mit zusammengepressten Knien musterte sie ihn. Er sah alt aus, in seinen Bart mischten sich weiße Haare, und er hatte ein faltiges, freundliches Gesicht. Das war zumindest ein bisschen weniger peinlich als ein gutaussehender, junger Arzt. Sie löste ihre ineinander verschlungenen Finger und schüttelte die dargebotene Hand. Ihre war verschwitzt, seine warm und trocken.
»Hallo, Angela, ich bin Dr. Cranleigh. Hast du Fragen, bevor ich dich untersuche?«
Sie überlegte. »Wird es wehtun?«
»Es könnte ungefähr dreißig Sekunden lang unangenehm oder schmerzhaft sein. Das ist alles. Okay?«
Angie nickte. Keine falschen Versprechungen. Das gefiel ihr. »Selbst wenn ich noch Jungfrau bin?«, fragte sie.
»Selbst wenn du noch Jungfrau bist«, erwiderte er. »Soweit ich verstanden habe, leidest du möglicherweise an einer traumatisch bedingten Amnesie. Ist das richtig?«
Wieder nickte sie.
»Was dir passiert ist, tut mir sehr leid.« Er ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu säubern.
Was war die richtige Antwort darauf? »Äh, danke.«
Die Schwester hielt sich jetzt als stumme Beobachterin im Hintergrund. Angie fragte sich, was sie dachte und wie viele andere junge Mädchen oder Frauen sie wohl schon in dieser Situation erlebt hatte. Vielleicht war es anders, wenn man tatsächlich vergewaltigt worden war, wenn man voller Wut war, wenn man sich nach Rache sehnte.
Aber nichts von alldem traf auf sie zu.
Dr. Cranleigh streifte ein Paar Latexhandschuhe über. »Wir haben es also mit einem Rätsel zu tun. Deshalb suchen wir nach Hinweisen – um klären zu können, was mit dir passiert ist und wo du die ganze Zeit warst. Stell dir einfach vor, dass wir ein Team sind. Ich verspreche dir, dich so schnell und vorsichtig wie möglich zu untersuchen. Und du versprichst mir, sofort zu sagen, wenn dir etwas wehtut. Wenn du nicht mehr kannst und eine Pause brauchst, dann ist das kein Problem. Und was auch sehr wichtig ist, Angela: Bitte sag mir, ob irgendetwas während der Untersuchung eine Erinnerung in dir wachruft – egal, was es ist. Okay?«
Angie war sich nicht sicher, ob sie irgendwelche Erinnerungen wachrufen wollte. Mit ihren Füßen war etwas Schreckliches geschehen. Wie sie da von der Untersuchungsliege herabbaumelten, konnte sie es nicht einmal ertragen, sie anzusehen. Und dann waren da auch noch die dunklen Furchen an ihren Handgelenken. Es musste einen wirklich guten Grund geben, warum sie sich nicht erinnern konnte.
Ein Gefühl von Unmut stieg in ihr auf. Sie musste nicht hier sein. Sie hätte sich alldem verweigern können. Vielleicht konnte sie das noch immer. War es denn überhaupt so wichtig, alles herauszufinden? Konnten sich denn nicht einfach alle freuen, dass sie wieder zu Hause war, und sie in Ruhe lassen? Sie war in Sicherheit. Sie war am Leben. Das reichte doch.
»Dann wollen wir mal, Angela«, sagte Dr. Cranleigh. »Ich werde mir jetzt deine äußerlichen Verletzungen und Narben ansehen.«
Sachlich und schnell hob er ihr Nachthemd an und begutachtete jeden Zentimeter ihrer Haut. Angie fixierte die Lampe über ihr, die leicht flackerte. Eine der beiden fluoreszierenden Glühbirnen war gelblicher als die andere, und sie konzentrierte sich auf den Blinkrhythmus der Lampe.
Dr. Cranleigh verweilte ziemlich lange bei ihren Füßen und Handgelenken, dann unterbrach er die Untersuchung, um sich ein paar Notizen zu machen und alles zu fotografieren. Sie sah zu, wie die Zeiger der Uhr vorwärtskrochen, und atmete im Takt des Uhrtickens, wobei sie versuchte, nicht auf das übelkeiterregende, gummiartige Gefühl zu achten, wenn er ihre Narben berührte.
»Was glauben Sie … Ich meine, woher habe ich die?«, zwang sie sich zu fragen.
»Diese Art Narben sind typisch für das wiederholte Wundscheuern durch Fesseln, und zwar sehr wahrscheinlich Fesseln aus Metall und nicht aus Leder«, antwortete er offen. »Vor allem die Handgelenke lassen auf mehr als eine bloße Fixierung durch Seile oder Schnüre schließen. Was wir hier sehen, kann nicht von Selbstverletzungen herrühren. Fällt dir dazu etwas ein?«
»Nein«, antwortete sie benommen. Man hatte sie fixiert? Gefesselt? Auf der Suche nach einem Erinnerungsfetzen ließ sie das Wort in ihrem Kopf kreisen. Doch ihr Verstand wehrte sich und reagierte mit schwarzer Leere. »Ich habe keine Ahnung.«
»In Ordnung, Angela. Jetzt leg dich bitte hin, und stell deine Füße in diese Stützen, die Knie nach oben und auseinandergespreizt, damit wir dich auf innere Verletzungen untersuchen können.«
Unvermittelt schnürte sich Angies Brust so zusammen, dass sie keine Luft mehr bekam. Versteck dich!, rief eine leise Stimme. Ein jäher Schmerz jagte durch ihren Schädel, und sie bedeckte die Augen mit den Händen.
Weit entfernt hörte sie die Stimme des Arztes. »Jetzt spürst du vielleicht einen leichten Druck …«
Doch sie spürte nichts. Der Schmerz in ihrem Kopf verschwand so schnell, wie er gekommen war, und sie öffnete überrascht die Augen. Die Schwester streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. »Schon vorbei«, sagte sie. »Danke, dass du so gut mitgemacht hast. Du kannst dich anziehen.«
Schon vorbei? Das war die Untersuchung? Wo war der Arzt? Er konnte doch in den zwei Sekunden, in denen sie ihre Augen geschlossen hatte, nicht hinausgegangen sein, oder?
Ihr Herz machte einen Satz. Es waren doch nur zwei Sekunden gewesen, oder nicht? Sie war doch nicht etwa ohnmächtig geworden?
Angies Augen wanderten von der Schwester zur Uhr. Seit sie das letzte Mal draufgeschaut hatte, waren nur ein paar Minuten vergangen, und einen Teil davon hatte sie sich mit Dr. Cranleigh unterhalten. Ihre Brust weitete sich vor Erleichterung. Wahrscheinlich war der Arzt einfach sehr flink auf den Beinen.
Wie dem auch sei, Gott sei Dank war nun alles vorbei. Jetzt konnte sie nach Hause fahren und alles vergessen. Angie lächelte kurz über ihre unbewusste Wortwahl. Konnte man das Vergessen vergessen? Vielleicht.
Trotz aller Zeichen, sogar Beweise, hatte sie nicht das Gefühl, als fehlten ihr drei Jahre. Wenn sie ihre Eltern davon überzeugen konnte, sich zu entspannen, könnte sie ihr Leben vielleicht einfach so fortführen – ihre Freunde anrufen, wieder zur Schule gehen, da weitermachen, wo sie aufgehört hatte. Warum nicht? Sie zog den weichen Pullover an, den Mom für sie mitgenommen hatte, und schlang die Arme um ihren Körper. Man konnte sich darauf verlassen, dass Mom an ihren übergroßen flauschigen blauen Lieblingspullover dachte.
Sie streifte eine braune Cordhose über ihre schlanken Beine und fühlte sich schon fast wieder normal – bis sie sich aufrichtete und bemerkte, dass die Hose bestimmt zehn Zentimeter zu kurz war. Und alles kehrte zurück. Wieder ein Beweis. Wem wollte sie etwas vormachen? Sie konnte ihr Leben nicht einfach so fortführen. Ihr Leben passte ihr nicht mehr.
Die Schwester führte Angie über den Flur bis zu einem Zimmer, an dem »Privat« stand. »Dr. Cranleigh spricht gerade mit deinen Eltern. Geh einfach rein, Angela. Und alles Gute.«
Toll. Alles Gute. Wie sollte ein 13-jähriges Mädchen das Leben einer 16-Jährigen führen?
Angie legte die Hand auf den Türknauf und drehte ihn langsam herum. Die Stimme des Arztes drang durch die Tür, und sie hielt inne, um zu hören, was er zu Mom und Dad sagte. Sie verstand »ernste Risswunden … ungewöhnliche innere Vernarbungen … kein Zweifel an wiederholten Vergewaltigungen … die Knöchel … nicht typisch für Selbstverstümmelung … die Handgelenke … Suizid … gute körperliche Verfassung … nicht schwanger … psychiatrische …«
Angie zog sich auf die Toilette zurück, schob den Riegel vor und lehnte sich mit weichen Knien von innen gegen die verschlossene Tür. Wiederholte Vergewaltigungen. Innere Vernarbungen. Die Worte wirbelten in ihrem Kopf umher. Oh Gott. Das war doch nichts, was einem wirklich passierte! So was geschah nur im Fernsehen.
Sie war als ganz normales Mädchen ins Zeltlager gefahren, sie war wie jemand gewesen, der in eine Sitcom oder in ein Familiendrama gepasst hätte. Doch auf einmal war sie der unfreiwillige Star in ihrer ganz persönlichen Folge einer Krimiserie über außergewöhnliche Verbrechen. Jemand schrieb das Drehbuch ihres Lebens neu. Und zwar ohne ihre Erlaubnis.
Angie bemerkte gar nicht, dass sie weinte, bis ihr eine Träne übers Kinn rollte und auf den kalten Fliesenboden tropfte. Was machte sie hier? Was passierte hier? Wenn man ihren Eltern glauben durfte, dann waren ihr mehr als tausend Tage gestohlen worden. Und egal, was der Kalender in ihrem Kopf sagte, die verflossene Zeit und irgendein grausames Experiment hatten ihre Spuren auf ihr hinterlassen. Genau dort. An ihren Armen und ihren Beinen und in ihrem Gesicht.
Salzige Tränen gruben brennende Spuren in ihre Wangen. Angie wischte sie mit dem Handrücken weg.
Dann trat sie zum Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Da war sie wieder. Diese Fremde im Spiegel. Mit diesen Augen, die alt und müde aussahen, voller Wissen, das sie nicht teilen wollten. Bedauernd, bekümmert.
Angie schleuderte dem Gesicht eine Handvoll Wasser entgegen. »Ich will mein Leben zurück, du Miststück«, zischte sie ihrem Spiegelbild zu.
Ach, Angie, du warst so wütend auf uns. Du wusstest ja nicht, wie wir dein Leben gerettet haben – wie ich dich mithilfe der Mädchen und des Tors rein und verborgen gehalten habe. Und unberührt, unser Hübsches Mädchen 13. So haben wir dich genannt. Nur an den Narben konnten wir leider nichts ändern.
»Sie kann noch nicht zur Schule gehen«, sagte Dad. »Nicht bevor wir ein ausführliches psychologisches Gutachten vorliegen haben. Wir wissen doch nicht mal, in welche Klasse wir sie geben sollen.«
Er und Mom »diskutierten« vorn im Auto ihr Leben, als ob Angie gar nicht hinter ihnen sitzen würde und auch nicht soeben im Krankenhaus eine gynäkologische Untersuchung hinter sich gebracht hätte. Sie fühlte sich wund und klebrig, obwohl sie sich an keinen Moment der kurzen Prozedur erinnern konnte.
Auf dem ganzen Weg durchs Krankenhaus und bis zum Auto hatte Dad sie kein einziges Mal angeschaut. Als Angie versucht hatte, ihn an der Hand zu fassen, hatte er ein Niesen vorgetäuscht und die Hand weggezogen, um ein Taschentuch hervorzuholen. War sie mit sechzehn zu alt, um öffentlich Zärtlichkeit zur Schau zu stellen? Die Zurückweisung verletzte sie dennoch.
»In die Achte«, sagte Angie und beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn. »Ich sollte jetzt in der achten Klasse sein. Ich habe bereits drei Wochen Schule verpasst. Ich muss sofort wieder hingehen.« Die zwei Eiskugeln mit Minzstückchen schmolzen in dem Pappbecher auf ihrem Schoß vor sich hin. Auch daran hatte Mom gedacht.
Ihre Mutter probierte drei verschiedene Mienen durch, bevor sie den passenden Gesichtsausdruck gefunden hatte – höfliche Ablehnung. »Es sind doch nur drei Wochen. Und die Schule wird uns bei der Nachhilfe unterstützen, damit du alles aufholst, darauf werde ich bestehen. Du musst jetzt mit deinen Freunden zusammen sein, mein Schatz. Du brauchst ihre emotionale Unterstützung.«
»Meine Freunde sind doch in der achten Klasse«, bekräftigte Angie.
»Angie, deine Freunde sind jetzt alle in der Elften – Livvie, Katie, Greg.«
»Greg?«
Meine Güte. Sie hatte nicht mehr an ihn gedacht seit … Tja, ob es nun drei Jahre waren oder zwei Tage, die Erinnerung an Greg war ein Sonnenstrahl, der diesen seltsamen, düsteren Tag erhellte.
Ende Juli waren sie mit einer ganzen Gruppe von Freunden in den Soak-City-Wasserpark gefahren, das letzte große Sommerevent. Eigentlich war das Ganze gar nicht als Date geplant gewesen, doch dann ließen die anderen Angie und Greg im Strömungskanal allein. Der Witz war, dass sie es nicht einmal merkten.
Sie teilten sich ein Floß und trieben wie Seehunde auf ihren Bäuchen dahin. Ihre Füße schleiften durchs schnell fließende, warme Wasser, und die Sonne schien ihnen auf den Rücken. Schon bald berührten sich ihre Beine, und Angie war froh gewesen, dass sie sich gerade frisch rasiert hatte. Sie drehten eine weitere Runde durch den Strömungskanal, ihre Füße kreuzten sich, und als Greg seinen heißen gebräunten Arm über ihren Rücken legte, war es das Natürlichste auf der Welt, den Kopf zu drehen, in seine leuchtenden Augen zu blicken und seinem Kuss auf halbem Weg entgegenzukommen. Er schmeckte nach Chlor und Cola. Sie waren gegen eine Wand geprallt, ihre Zähne schlugen gegeneinander, sie lachten ausgelassen und tauschten noch mehr Küsse aus – bis der jugendliche Bademeister in seine Pfeife blies und »Passt auf, wo ihr hintreibt, oder ich schmeiß euch raus!« schrie.
»Was für ein Poser«, hatte Greg gesagt. »Gebt ihnen eine Pfeife, und sie fühlen sich wie die Größten.«
Angie musste kichern. »Also tu, was er sagt, und behalt diesmal die Augen offen!«
Sie trieben noch eine weitere Runde durch den Kanal, Lippen und Augen ineinander versenkt, blind für alle anderen im Wasser. Am Abend gingen sie offiziell miteinander. Doch dann hatten sie sich gar nicht mehr allein getroffen, bevor Angie ins Zeltlager gefahren war.
Greg. Wow. Er war jetzt in der Oberstufe – Wahnsinn. Wie konnte jemand aus der Oberstufe mit einer aus der Achten zusammen sein? Moment mal. Sie war ja keine richtige Achtklässlerin mehr. Doch was war, wenn Greg mittlerweile mit einer anderen ging? Das war durchaus möglich, sogar recht wahrscheinlich.
Bei dem Gedanken daran, ihn wiederzusehen, fing ihr Herz an zu klopfen, doch ihr war nicht klar, was das für Gefühle waren – war es Vorfreude, oder hatte sie Angst? Sie konnte noch immer seine Küsse schmecken, als ob es gestern gewesen wäre.
»Mom, auf keinen Fall werde ich in der elften Klasse weitermachen. Auf keinen Fall. Überleg doch mal. Ich bin darauf überhaupt nicht vorbereitet. So schnell kann ich den Stoff nicht aufholen.«
»Deshalb habe ich ja auch vorgeschlagen, dass wir bei der Entscheidung die Meinung eines Psychologen berücksichtigen sollten«, mischte sich Dad ein. »Vor allem, weil Angie diese vorübergehende mentale Blockade hat. Wer weiß, auf welche Bereiche sie sich sonst noch erstreckt – Rechtschreibung, Mathematik –, woher sollen wir das wissen?«
»Sie braucht ihren normalen Alltag«, widersprach Mom. »Und ihre Freunde.«
Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr Angie. Vielleicht waren sie gar nicht mehr ihre besten Freunde. Vielleicht hatten sie gar keine Gemeinsamkeiten mehr. Die alten Insiderwitze würden schon lange out sein. Sie würde die Lieder und Shows und Websites, über die die anderen sprachen, nicht kennen. Und sie würde ein komischer Vogel sein, eine Berühmtheit, das Mädchen, das drei Jahre lang verschwunden war.
»Dad hat recht«, platzte sie heraus. »Vielleicht möchte ich ja doch lieber auf eine andere Schule gehen.«
»Nun, wir müssen abwarten«, sagte Mom und gestand auf diese Weise ihre Niederlage ein. »Detective Brogan hat freundlicherweise für morgen Nachmittag einen Termin bei der Psychologin vereinbart. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden musst du nichts weiter tun als essen und dich ausruhen und alles andere aus deinen Gedanken verbannen.«
»Es ist ja schon alles weg«, erwiderte Angie mit einem Hauch von Bitterkeit.
Dad fuhr das Auto in die Garage und stellte den Motor ab. Sogar von der Rückbank aus konnte Angie sehen, wie seine Schultern sich verhärteten. »Angela, nach dem, was Dr. Cranleigh uns erzählt hat, bin ich mir nicht sicher, ob du dich überhaupt an etwas erinnern willst. Verdrängung ist eine natürliche Abwehrreaktion. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was er vermutet, stimmt … dann, ach, vergiss es.« Er drehte den Kopf zur Seite, doch Angie hatte den verstörten Ausdruck in seinem Gesicht und die Tränen in seinen Augen bereits gesehen.
»Hör bloß auf damit«, zischte Mom ihm zu und kniff sich in den Nasenrücken. »Jetzt feiern wir Angies wunderbare Rückkehr, egal, wie es dazu gekommen ist.« Sie schlug die Autotür zu. »Ich mach schon mal das Abendessen, während du duschen gehst, Liebes«, sagte sie. »Dein Lieblingsessen, ja? Käsemakkaroni?«
Sie benahmen sich so seltsam. So emotional. Angies Magen schmerzte. Sie konnte nur nicken und so tun, als ob das ein guter Vorschlag wäre.
»Willkommen zu Hause, Angie«, sagte Mom. »Denk dran, wir lieben dich von ganzem Herzen, komme, was da wolle.« Sie zog Angie in eine unangenehm feste Umarmung.
Komme, was da wolle? Was sollte das bedeuten? Eine Minute lang verharrte Angie in Moms Armen, dann riss sie sich los.
Sie rannte nach oben und öffnete ihre Zimmertür, als würde sie die Luke zu einer Zeitmaschine öffnen. Alles war aufgeräumt und an seinem Platz – genau wie sie es vor dem Zeltlager verlassen hatte. Ihre kuschelige Decke lag quadratisch gefaltet auf dem Schaukelstuhl. Die Gitarre lehnte in ihrer üblichen Ecke neben dem Fenster.
Oben auf der Kommode standen vier Schmuckkästchen, die sie aus Frischkäseschachteln gebastelt und mit bunten Perlen verziert hatte – Ringe, Halsketten, Armbänder und Ohrringe lagen darin, ordentlich voneinander getrennt. Ein Palomino-Pferd aus Plastik, das sie aus einer Abfalltonne gerettet hatte, galoppierte auf ein Foto von ihr, Livvie und Katie zu, die sich Wange an Wange in einer riesigen Disneyland-Teetasse aneinanderschmiegten. Angie fuhr mit dem Finger durch die dicke Staubschicht, die über allem lag.
Er verweilte auf dem Sockel der kleinen Engelsstatue, die Grandma ihr vor ein paar Monaten zur Konfirmation geschenkt hatte. Zumindest fühlte es sich so an, als sei es vor ein paar Monaten gewesen. Sie hob sie hoch und streichelte die reinen weißen Porzellanflügel, wobei sie ein kleines Spinnennetz wegwischte, das zwischen ihnen aufgespannt war. Eine seltsame Wahl, dachte sie wieder. Kein kitschig-süßer Hallmark-Engel, sondern ein kräftiger, geschlechtsloser, androgyner Engel mit schmalen Lippen und strahlenden Augen. Er hatte einen entschlossenen, fast finsteren Gesichtsausdruck, wie die Engel des Alten Testaments, die die Sterblichen mit ihren Flammenschwertern in Angst und Schrecken versetzten. Sorgfältig stellte sie ihn zurück an seinen staubfreien Platz.
Der breite Silberring, der in einer der Schmuckschachteln lag, erregte ihre Aufmerksamkeit. Oh. Sie hatte ihn doch im Badezimmer gelassen, irgendwie war er anscheinend zurück in ihr Zimmer gewandert. Sie nahm ihn heraus, um ihn sich genauer anzuschauen. Ein einzelner Zweig, an dem sechs winzige Blätter hingen, zog sich als Gravur einmal um den ganzen Ring. Er kam ihr vertraut und gleichzeitig fremd vor. Vielleicht hätte sie ihn als Beweismittel der Polizei übergeben sollen. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster und brach sich an einem unregelmäßigen Muster auf der Innenseite des Rings. Was war das? Eine Inschrift? Sie kniff die Augen zusammen, um sie zu entziffern: MEINER LIEBSTEN ANGELA. MEINER KLEINEN FRAU. Die Worte prallten an einer Mauer in ihrer Erinnerung ab, doch ein panischer Gedanke blieb zurück: Das darf keiner sehen.
Der Ring glitt auf ihren Mittelfinger und schmiegte sich in seine Kuhle, als gehöre er dorthin. Sie musste ihn lange Zeit getragen haben, denn ihr Finger hatte sich der Form angepasst. Angie drehte und zog an dem Ring, bis er wieder zurück über ihren Fingerknöchel rutschte, widerwillig, weil er seinen angestammten Platz nicht verlassen wollte. Ohne ihn sah ihre Hand blass und nackt aus.
Sie steckte ihn wieder an und hatte ihn bereits vergessen.
Das Bett war ordentlich gemacht, obenauf lag Grandmas Sommer-Patchworkdecke. Auf dem Nachttisch entdeckte sie ein Taschenbuch mit Lesezeichen. Animal Farm – das hatte sie vor der Abfahrt ins Zeltlager gelesen. Darunter befand sich ihr Tagebuch. Das Schloss war aufgebrochen, und das Tagebuch klappte von selbst ungefähr in der Mitte der siebten Klasse auf. Ihre vertraute Handschrift zog sich über die Seiten, Tag für Tag, bis zum letzten Eintrag am 2. August. Das hatte sie im Zelt im Licht der Taschenlampe geschrieben. Letzte Nacht. Nein, nicht letzte Nacht. Vor mehr als drei Jahren.
Während sie ihre eigenen Worte las, versuchte sie sich ihre naive Begeisterung von damals vorzustellen. »Autsch. Es war eine lange Wanderung. Mir tut alles weh, aber der Eintopf war großartig und die Marshmallows noch besser. Morgen werden wir hoch zum Gipfel gehen. Cool. Ich kann es kaum erwarten.«
Vor diesem Eintrag waren alle Seiten vollgeschrieben. Danach waren alle Seiten leer. Angie schauderte.
»Als sie das vom Zeltlager zurückbrachten, war es alles, was ich von dir noch hatte«, erklang Moms Stimme von der Türschwelle.
Angie senkte den Blick. »Du hast das Schloss aufgebrochen«, flüsterte sie. »Du hast es gelesen, oder? Mein ganz privates Tagebuch.« Nicht dass sie irgendwelche großen Geheimnisse hatte, aber es standen eine Menge sehr persönlicher Bemerkungen über Greg drin. Über seinen Körper, seine Arme, seine Lippen. Ihr schoss das Blut in die Wangen.
Mom schlich hinter sie und legte ihr die Arme um die Taille. Sie schmiegte ihr Kinn an Angies Schulter. »Es tut mir leid, Angie. Wegen der Ermittlungen mussten wir es tun. Jeder Hinweis …«
»Oh Gott. Er hat es auch gelesen.«
»Dad? Nein, nein. Ich habe ihm gesagt, dass nichts drinsteht, was er wissen müsste. Nur Mädchenkram.«
»Ich meinte Detective Brogan.« Angie machte sich ganz klein vor Scham. Natürlich hatte er es gelesen. Das war sein Job.
Sie spürte Moms Nicken neben ihrem Kopf. »Egal.« Moms Stimme schwang sich zu gezwungener Fröhlichkeit auf, sie gab sich Mühe, ganz normal zu klingen. »Ich habe hier drin nichts verändert. Ich wollte, dass alles wie immer ist, wenn du gefunden würdest.«
Angie wandte sich um und umarmte sie wie einen Rettungsring in diesem wahnsinnigen, sturmgepeitschten Meer. Sie merkte, wie Mom in ihren Armen bebte und einmal heftig aufschluchzte. »Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben«, sagte sie. »Glaub mir.«
Angie vergrub ihr Gesicht an Moms Schulter. »Glaubst du, dass ich mich jemals erinnern werde?«
Mom schwieg eine ganze Weile. Angie lehnte sich zurück und sah ihren gequälten Gesichtsausdruck, die Trauer in ihren Augen. Doch gleich darauf hatte sich Mom schon wieder in der Gewalt.
»Drei Jahre lang wollte ich nichts weiter als wissen, was mit dir passiert ist«, antwortete sie schließlich. »Und jetzt … Ich weiß ehrlich nicht, ob ich mir wünsche, dass du dich erinnerst.«
In diesem Punkt mussten wir ihr recht geben.