Kapitel 7 Vorschlag
»Ich bin Viele«, deklamierte Ms Strang im Englischunterricht.
Angies Herz machte einen Satz.
»Weiß jemand, was Walt Whitman damit sagen wollte?«, fuhr die Lehrerin fort. »Die Zeile ist Teil der abschließenden Strophen von ›Gesang von mir selbst‹, das ihr bis heute alle lesen solltet. Und?«
Angie hatte es gelesen, und es hatte ihr sehr gefallen – die Sprache, die Bilder, sogar die Strophen, die sie nicht verstanden hatte, die ihr aber dennoch im Kopf herumgegangen waren. Sie spürte, wie ihre Hand sich wie von selbst hob, und zog sie hastig zurück. »Er meint es im übertragenen Sinne«, flüsterte sie vor sich hin. »Es ist nur eine Metapher.«
»Entschuldige, Angela. Könntest du bitte laut und deutlich sprechen?« Ms Strang musste das Gehör einer Fledermaus haben.
Angies Fanclub starrte sie an und wartete auf ihre Antwort.
Sie ordnete ihre Gedanken. Ihre eigenen Gedanken. »Ich glaube, Whitman meint damit, dass er alle Ahnen, die vor ihm gelebt haben, in sich trägt – wie ein riesiger Familienstammbaum, der in ihm mündet. Und außerdem enthält er auch die ganze, ihn umgebende Welt, die ganze Schöpfung, denn er ist Teil davon und damit verbunden und so.« Fünfzig aufgerissene Augen wandten sich wieder der Lehrerin zu, um zu sehen, ob Angie richtiglag.
»Es ist NICHT wie bei einer multiplen Persönlichkeit«, fügte sie hinzu. »Es ist eine Metapher.« Warum war sie damit herausgeplatzt?
Aber ich bin Viele, dachte Angie. Im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht würde Whitman ihre Variante auch ziemlich cool finden. Vielleicht würde sie ihren eigenen »Gesang von mir selbst« verfassen, sobald sie ihre »Selbste« besser kennengelernt hatte.
Leider gab es in dieser Hinsicht keinen Fortschritt. Nach zwei Wochen sinnlosen Geschwafels hatte Angie ihr Tagebuch zur Sitzung mitgebracht – in der Hoffnung, es würde eine Hilfe sein. »Bitte sagen Sie meiner Mutter nichts davon«, verlangte sie, als sie Dr. Grant das Tagebuch gab. »Sie würde ausrasten.«
Dr. Grant las ein paar Minuten lang schweigend, ohne dass sich ihr gelassener Gesichtsausdruck veränderte. »Aha«, sagte sie leise. »Die Entführungshypothese stimmt also.«
Angie war unglaublich dankbar über Dr. Grants Nichtreaktion. Es war so viel einfacher, ohne große Emotionen mit der Sache fertigzuwerden. »Ja. Aber ich selbst kann mich noch immer nicht daran erinnern.«
»Das ist völlig in Ordnung.«
»Fußeisen. Selbstmord. Ganz schön heftig«, sagte Angie gepresst. »Ich möchte nicht, dass Mom jedes Mal, wenn sie mich sieht, daran denken muss. Verstehen Sie?«
»Natürlich verstehe ich das«, sagte Dr. Grant. »Aber was ist mit Detective Brogan? Die Aussage einer Augenzeugin ist sehr wertvoll für die Ermittlungen.«
Angie überlegte. »Aber es gibt doch nicht viel her. Keine genaueren Beschreibungen oder etwas in der Art.«
»Trotzdem«, erwiderte Dr. Grant. »Immerhin ließe sich wahrscheinlich verhindern, dass Brogan die falschen Fährten verfolgt oder irrige Vermutungen anstellt.«
Sie hatte recht. Angie zuckte mit den Achseln. »Okay, machen Sie ruhig eine Kopie davon. Aber das Original möchte ich behalten.«
»Selbstverständlich. Was denkst du denn überhaupt über die Geschichte von Pfadfinderin? Über ihre Erlebnisse?«
Angie verdrehte die Augen. »Das ist echt mies. Ganz klar. Doch irgendwie bewundere ich ihren Mut.«
Die Psychologin gestattete sich ein Lächeln. »So etwas zu überstehen ist sehr bewundernswert, oder?«
Die Eifersucht versetzte Angie einen Stich. An manchen Tagen verwendete Dr. Grant den meisten Teil der Stunde darauf, Angie in Hypnose zu versetzen. Aber was nützte ihr selbst das eigentlich?
»Also … Worüber reden Sie mit ihr? Ich meine, wenn ich ›nicht da‹ bin?« Mit gekrümmten Fingern malte sie Gänsefüßchen in die Luft.
»Worüber immer Pfadfinderin reden möchte. Sie hat ihre eigenen Probleme.«
»Na großartig.« Ihre Probleme hatten Probleme. Toll. »Was ist mit dieser ›Kleinen Frau‹, die sie erwähnt hat? Wissen Sie, von wem sie redet? Hat die auch Probleme?« Abwesend kratzte sich Angie an der linken Hand, dabei fiel ihr Blick auf den Silberring. Irgendetwas war damit. Ihr Brustkorb verengte sich schmerzhaft.
»Ich habe sie noch nicht kennengelernt«, sagte Dr. Grant. »Und die Anderen auch nicht.«
»Verdammt noch mal! Ist das irgendein verrücktes Versteckspiel? Ich meine, wie soll es mir jemals besser gehen, wenn Sie diese bescheuerten Teilpersönlichkeiten noch nicht einmal zu fassen kriegen?« Angie sprang von der Couch auf und marschierte zum Fenster. Dort zog sie die Vorhänge beiseite und presste ihre Stirn gegen das kühle Glas. Kreisförmiger Nebel setzte sich auf der Scheibe ab, als sie einen tiefen Seufzer ausstieß.
Hinter ihr im Zimmer breitete sich Schweigen aus. Sie drehte sich wieder zu Dr. Grant, wobei sie die Tränen wegblinzelte, die in ihr hochstiegen. »Also!?«
Nur eine ganz schwache Bewegung ihrer Brust verriet, dass auch Dr. Grant seufzen musste. »Angie, bei einer DIS ist die Therapie sehr langwierig. Die vollständige Integration aller Teilpersönlichkeiten – wenn es das ist, was du willst – verlangt sehr viel Arbeit und Engagement, und zwar von uns beiden.«
Angie saß jetzt wieder auf dem Schreibtisch und baumelte erregt mit den Beinen. »Was meinen Sie mit ›wenn es das ist, was ich will‹? Was ist denn die Alternative? So weitermachen? Ich will nur noch eine Person sein. Nämlich ich selbst.«
»Das verstehe ich ja«, entgegnete die Psychologin. »Aber du solltest wissen, dass die besprochene Integration der verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu einem ›Persönlichkeits-Plus‹ führen wird.«
»Plus was?«
»Erinnerungen, Gefühle, spezielle Eigenschaften der Teilpersönlichkeiten. Das gehört dann alles auch zu dir.«
Angie schwieg und versuchte, diesen Gedanken zu verarbeiten. Ihre Absätze traten gegen das Holz.
Dr. Grant lächelte sanft. »Wie ich schon sagte, geht dieser Prozess nur schrittweise voran. Alle Anteile werden sich aufeinander zuentwickeln. Auf lange Sicht wirst du dich wieder wie du selbst fühlen, wie ein einziges Ich.«
»Was bedeutet ›auf lange Sicht‹? Wir haben schon fast einen ganzen Monat hinter uns! Wann werde ich wieder ein Ich sein? In sechs Monaten? In einem Jahr oder so?«
»Angie, wir sprechen über ein paar Jahre. Möglicherweise sogar länger, das hängt davon ab, wie kooperativ die einzelnen Teilpersönlichkeiten sind.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst.« Angie kickte ein bisschen zu fest gegen den Schreibtisch, denn eine neue Sorge drängte sich in den Vordergrund. Die Krankenversicherung, die Dad für sie abgeschlossen hatte, deckte eine Psychotherapie nicht ab. Rein zufällig hatte sie die Rechnung für die ersten drei Wochen gesehen. Für neun Sitzungen – jeweils montags, mittwochs und freitags – waren mehr als tausenddreihundert Dollar fällig gewesen. Auf keinen Fall würden Mom und Dad sich das lange leisten können – jetzt nicht und ganz bestimmt nicht, wenn das Baby da war. »Ich kann nicht jahrelang warten. Ich muss sofort wieder ich selbst werden. Warum dauert es überhaupt so lange?«
Mit einem Achselzucken legte Dr. Grant ihren Stift zur Seite. »Hypnose, Refragmentierung und Gesprächstherapie ist das, was wir bisher machen. Das ist ein schrittweiser Prozess des Enthüllens, Erlebens und Bewältigens der Verletzungen und Misshandlungen, an die du, die dominante Persönlichkeit, dich nicht erinnern kannst. Er lässt sich nicht mit Gewalt beschleunigen. Doch nach unserer Erfahrung ist die Prognose sehr gut. Ich habe keinen Zweifel am letztendlichen Erfolg – insbesondere, da du weder Alkoholikerin bist noch irgendwelche Anzeichen einer Depression zeigst. Zusammen seid ihr eine sehr widerstandsfähige Persönlichkeit, Angie.«
»Ich bin diese Persönlichkeit. Ich bin der Boss«, sagte Angie verärgert. Sie ignorierte das Gefühl von Gelächter in ihrem Kopf. »Es ist ja nicht so, dass ich Pfadfinderin nicht bewundere und ihr nicht dankbar wäre, weil sie sich so für die Gemeinschaft engagiert hat. Doch die Gemeinschaft kann jetzt abtreten. Ich bin wieder da.«
Dr. Grant lehnte sich zurück und spielte mit ihrer Perlenkette. »Hmmm. Deine Meinung kenne ich jetzt. Doch wir kennen die Ansichten der Anderen noch nicht, oder?«
»Warum haben sie überhaupt etwas zu sagen?« Angie sah Dr. Grant an, die ihren Blick ruhig erwiderte.
»Weil es Menschen sind. Bewohner deines Körpers. Bist du denn gar nicht neugierig, Angie?«
Typisch. Warum musste Dr. Grant Fragen immer mit Gegenfragen beantworten? »Neugierig? Ist es nicht besser, wenn ich die Vergangenheit einfach hinter mir lasse? Ich meine, in der Schule läuft es gut. Und zu Hause auch. Ich knüpfe neue Freundschaften. Ich fange wieder ganz neu an. Warum sollte ich mir wünschen, diese furchtbaren Dinge vom Grund meines Bewusstseins nach oben zu holen? Warum sollte ich mich daran erinnern wollen? Warum kann es nicht einfach verschwinden und mich wieder die Alte sein lassen?«
Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Dr. Grants Gesicht verschwamm zu einem rosa Klecks.
Der Klecks bot ihr eine Schachtel Kleenex an. »Du weißt, dass es mir in erster Linie um deine Genesung geht, doch ich muss dich trotzdem fragen: Was ist mit den Ermittlungen? Willst du hinsichtlich deiner Entführung nichts zu den Ermittlungen beitragen? Es könnte noch andere Opfer geben. Oder potentielle Opfer.«
Angie stellte sich eine neue Pfadfinderin vor, gefesselt und verängstigt. Etwas in ihrem Kopf radierte das Bild schnell aus. »NEIN!« Der Schrei kam aus ihrem Mund, bevor sie ihn zurückhalten konnte. »Ich meine, nein, das wird nicht passieren.« Sie wusste, das war die Wahrheit. Sie wusste nur nicht, warum.
Bei ihrem Ausbruch waren Dr. Grants Augenbrauen in die Höhe geschossen.
Angie stieß einen langen, genervten Seufzer aus. »Na schön. Ich sehe es ja ein. Ich wünschte nur, sie würden Ihnen einfach alles erzählen, was sie wissen. Sie sind wie Gespenster, die hier herumgeistern, weil sie auf Erden noch etwas zu erledigen haben. Ich wünschte, sie würden einfach ihr Herz ausschütten und dann weiterziehen. Aus der Stadt verschwinden. Ich brauche sie nicht mehr. Ich will sie nicht mehr!« Wieder schraubte sich ihre Stimme in die Höhe.
»Angie.«
»Hört ihr mich?«, brüllte sie und schlug sich mit beiden Händen gegen den Kopf. »ICH WILL EUCH NICHT! VERSCHWINDET!«
»Angie.« Dr. Grant packte ihre Hände und hielt sie fest. »Angie. Tu dir nicht weh.« Sie legte die Stirn in Falten. Anscheinend grübelte sie über etwas nach.
»Was? Worüber denken Sie nach?«, wollte Angie wissen und drehte damit den Spieß um.
Dr. Grant sank zurück in ihren Ohrensessel. »Nun, zunächst einmal freue ich mich, dass deine Wangen mal ein bisschen Farbe bekommen haben. Ich habe dich noch nie so lebhaft gesehen.«
»Toll«, brummte Angie. »Dann werde ich mich künftig bemühen, öfters auszuflippen. Aber das ist doch nicht das, worüber Sie nachgedacht haben.«
»Ich habe einen … einen Vorschlag, über den du dir Gedanken machen kannst.« Dr. Grant klang ungewöhnlich zögerlich.
»Ich bin dabei. Um was geht’s?«
»Ich kenne einen Psychiater an der Universität von Los Angeles, der eine klinische Studie mit einer experimentellen Behandlungsmethode begonnen hat. Er hat mich schon mehrmals gefragt, ob ich Patienten hätte, die ich an ihn überweisen könnte.«
»Überweisen? Oh. Aber …« Angie kam sich blöd vor. »Ich soll mit jemand anderem noch mal von vorn anfangen? Ich habe mich aber schon an Sie gewöhnt.«
Dr. Grant legte die Hände gegeneinander, als spendete sie stummen Beifall. »Aber nein, danke, Angie. Keine Sorge. Ich wäre weiterhin beteiligt und würde dich während der ganzen Zeit begleiten. Er würde das neue Verfahren einsetzen, und ich würde ein Auge auf dich haben.«
»Verfahren?«
»Ich muss dir ganz offen sagen, dass ich mit dieser Form der Behandlung keinerlei Erfahrung habe. Sie ist sicherlich kontrovers. Es geht um … Löschung anstatt darum, die Teilpersönlichkeiten zu integrieren. Dadurch können seine Patienten die Behandlung innerhalb einiger Wochen abschließen und brauchen nicht Jahre dafür.«
Löschung? Wochen? Oh ja. Das hörte sich schon besser an. Aufgeregt beugte sich Angie vor. »Okay, das klingt interessant. Ist es sehr teuer?«
Dr. Grant lächelte. »Es läuft alles im Rahmen eines Forschungsstipendiums. Die Patienten werden behandelt, müssen sich aber natürlich des Risikos bewusst sein, dass das Ganze noch experimentellen Status hat.«
»Aber ist es teuer?«
»Es entstehen keinerlei Kosten«, erwiderte Dr. Grant.
»Dann bin ich interessiert«, sagte Angie. »Ich bin sogar sehr interessiert. Wie kann ich daran teilnehmen?«
»Wir werden mit deinen Eltern sprechen.«
Bei der nächsten Sitzung waren Mom und Dad dabei. Sie saßen auf der Sofakante und hingen an den Lippen der Psychologin. Angie ließ sich in den Sitzsack fallen.
»Das klingt ideal«, sagte Mom.
»Eine Win-win-Situation«, ergänzte Dad »So wird sie endlich diese überflüssigen sogenannten Persönlichkeiten los.«
Dr. Grant runzelte die Stirn. »Bei allem gebotenen Respekt, Mr Chapman, ich würde sie nicht überflüssig nennen. Es sind nicht integrierte Teile der Psyche ihrer Tochter, und diese Persönlichkeitsanteile haben eine entscheidende Rolle dabei gespielt, Angie lebend und geistig gesund durch dieses Martyrium zu bringen. Sie verdienen Ihren Respekt.«
Selbst diejenige, die Unterwäsche klaut?, dachte Angie.
In dem Augenblick, wo ihr dieser sarkastische Kommentar durch den Kopf schoss, strahlte plötzlich ein messerstichartiger Schmerz von ihren Schultern aus. Angie krümmte sich vor Pein. Niemand schien zu bemerken, wie sie da zusammengekauert in der Ecke des Zimmers saß. Die Stimmen der Erwachsenen wurden leiser.
Ein Bild bahnte sich gewaltsam seinen Weg bis hinter ihre Augenlider. Ein Bett, darauf ihr dreizehnjähriger Körper, kalt und entblößt, die Handgelenke rot und aufgescheuert von den rauen Seilen. Über ihr lauernd ein paar dunkle, zusammengekniffene Augen.
Einen Moment lang spürte sie sein Gewicht. Einen Moment lang hörte sie sein heftiges Atmen. Einen Moment lang roch sie seinen Schweiß. Einen Moment lang ergriff lähmende Angst jede Faser ihres Körpers.
Dann verschwand das Bild und mit ihm die Angst, nur Schockwellen blieben zurück, wie nach einem Albtraum. Doch in ihren Ohren tönten Worte, wie ein tiefes, weibliches Knurren: Wage es nicht, mir gegenüber respektlos zu sein, Hübsches Mädchen – nach dem, was ich für dich getan habe. Ich habe dein beschissenes Leben gerettet.
»Wie bitte, mein Schatz?« Mom hielt ihre zitternde Hand. Sie kauerte neben Angie auf dem Boden. »Was hast du gesagt?«
»Sie haben mir das Leben gerettet«, flüsterte sie.
Ein kehliges Lachen hallte durch ihren Kopf. Gern geschehen.
Die Stimme machte Angie Angst. Es war, als befände sich ein wilder Dämon in ihr. Sie drückte Moms Hand und sah sie flehend an. »Wann können wir anfangen? Wann können wir die neue Behandlungsmethode ausprobieren?«
Wegen des Termins bei Dr. Grant kam Angie erst zur Mittagszeit in die Schule. Das Zittern hatte aufgehört, und die Erinnerung an die schreckliche Szene war bereits so weit verblasst, dass sie fast nicht mehr wusste, was sie gesehen hatte. Einzig ein Gefühl der Verunsicherung blieb zurück.
Die Cafeteria war voller essender, Witze reißender, pöbelnder Schüler. Sie musste nichts weiter tun als sich an einen Tisch mit lauter Fremden setzen, sodass sie in Ruhe essen konnte. Was sie Dr. Grant erzählt hatte, stimmte nicht ganz. Sie knüpfte keine neuen Freundschaften. Klar, sie hatte da diesen Haufen von Anhängern, von Fans, doch sie wollte keinen von ihnen näher kennenlernen. Sie waren wie Flöhe – sie hüpften auf sie drauf, suchten die ganze Zeit Körperkontakt und saugten ihre ganze Energie aus ihr heraus.
Es war viel leichter, die Geheimnisvolle zu spielen und die anderen auf Distanz zu halten. Auf diese Weise musste Angie nichts von sich preisgeben.
Sie blickte sich noch immer mit dem Tablett im Raum um, als eine Hand gegen ihren Ellbogen stieß.
Angie brachte das Tablett wieder ins Gleichgewicht und drehte sich um. Hinter ihr stand Kate, besser gesagt eine drei Jahre ältere Version von Kate, die sich rasch bekreuzigte. »Du bist es«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. Sie berührte Angie am Arm, um zu testen, ob sie auch wirklich aus Fleisch und Blut war. »Oh wow. Ich habe dich ein paarmal von der Seite gesehen, aber ich war mir nicht sicher. Ich meine, ich habe die Gerüchte gehört, aber ich musste mich jetzt doch selbst davon überzeugen. Komm mit da rüber.« Sie nahm Angie das Tablett aus der Hand und trug es zu einem Zweiertisch.
»Setz dich.« Kate beugte sich mit dem Kopf so weit nach vorn, dass sie sich fast mit der Stirn berührten. »Ich fasse es einfach nicht. In den Nachrichten habe ich nichts darüber gehört. Wann haben sie dich gefunden? Wo bist du gewesen? Was ist passiert?«
»Offenbar habe ich mich selbst gefunden«, erwiderte Angie. »Ich bin zu Hause aufgetaucht – mit totaler Amnesie.«
Kate klappte die Kinnlade herunter. »Ach du liebe Güte. Tut mir leid. Weißt du denn, wer ich bin?«
Angie verdrehte die Augen. »Natürlich weiß ich das, Katie. Du warst eine meiner besten Freundinnen.« Sie bemerkte, dass sie automatisch die Vergangenheitsform gebrauchte. Als ob sie langsam ein Gefühl für die Zeit bekam – für ein Damals und ein Jetzt. Sie fühlte sich nicht mehr wie dreizehn. Sie fühlte sich unbestimmt.
Kate schnappte sich eine Baby-Möhre aus Angies Salat, wie sie es auch früher immer getan hatte. »Also, wahrscheinlich weißt du nicht, dass es deinen sozialen Tod bedeutet, mit mir gesehen zu werden. Ich muss dich warnen. Ich bin jetzt eine Aussätzige.« Sie sagte das dermaßen sachlich, dass Angie es für einen Scherz hielt.
»Das ist kein Witz«, fuhr Kate fort. »Wenn du also nicht möchtest …«
Angie zuckte mit den Achseln. »Wegen der Sache mit dem Bierfass?«
Katie zuckte zusammen. »Siehst du. Du bist von den Toten wiederauferstanden, und trotzdem weißt du schon davon. Wer hat es dir erzählt?«
»Greg und Livvie«, antwortete Angie.
»Und wieso bist du dann nicht bei ihnen?« Kate zog die Nase kraus. »Sie sitzen gleich da drüben.«
Angie blickte in die Richtung, in die Kate mit dem Kinn gedeutet hatte. Liv beobachtete sie mit mürrischer Miene. Aber das war auch kein Wunder. Wenn Greg ihr erzählt hatte, was passiert war, hatte sie allen Grund, Angie so anzusehen. Allein beim Gedanken daran färbten sich ihre Wangen rot.
Doch wenn er es für sich behalten hatte, dann sah es so aus, als hätte sie die beiden einfach abserviert. Sie hatte Liv an dem Nachmittag nicht angerufen, und sie hatte Livs Telefonnummer gesperrt, nachdem sie das fünfte Mal versucht hatte, Angie zu erreichen. Sie wollte ihr neues Leben nicht mit einem Zickenkrieg anfangen – wegen etwas, das sie nicht absichtlich gemacht hatte. Und es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Liv als Entschuldigung »Es war leider eine meiner Teilpersönlichkeiten« akzeptieren würde.
Und jetzt aß Angie mit dem Feind zu Mittag.
Gregs Gesichtsausdruck war schwieriger zu deuten, es lag mehr Gefühl darin. Aber was immer sein Blick ihr auch sagen sollte, ihr wurde ganz heiß und klebrig davon. »Tja, nein. Es hat sich zu viel verändert«, sagte sie.
Kate hob die Augenbrauen. »Wenn du es wolltest, könntest du ihn locker zurückerobern.«
»Das ist doch kein Wettbewerb«, protestierte Angie peinlich berührt.
»Klar ist es das«, widersprach Kate. »Alles ist ein Wettbewerb. Beliebtheit, Liebe, Noten, Erfolg. Du musst nur die Regeln kennen.«
Regeln. Das Wort brachte etwas in ihr zum Klingen. »Warum hast du die Regeln gebrochen? Warum hast du sie verpetzt?«
Erstaunlicherweise lächelte Kate. »Vielleicht habe ich den Wettbewerb ›beliebteste Schülerin‹ verloren, doch dafür habe ich bestimmt den Preis für Zivilcourage gewonnen. Wenn irgendjemand auf der kurvigen Straße, die von Kurts Haus den Berg hinunterführt, betrunken einen Unfall gebaut hätte, hätte ich mir oder Kurt nicht mehr in die Augen sehen können. Also habe ich es gesagt, und keinem ist was passiert.«
»Außer dir.«
»Außer mir. Das habe ich in Kauf genommen.«
Angie wollte Kate quer über den Tisch umarmen, doch die Salatsoße hätte ihr teures neues T-Shirt ruiniert. Also griff sie nur nach Kates Hand. »Du warst doch mit Kurt zusammen, oder?«
Kates Lächeln verrutschte. »War. Genau.«
»Und du hast ihn trotzdem verpetzt? Ich habe gehört, dass er suspendiert worden ist.«
Kate seufzte schwer. »Es war echt nicht leicht. Doch was er gemacht hat, war falsch. Damit hat er sich und alle anderen in Gefahr gebracht. Und ja. Ich habe gepetzt und damit die wichtigste Regel auf dem Spielplatz gebrochen. Freunde darf man nicht verpetzen. Doch in diesem Fall musste ich es tun. Es war ein Gebot der Selbstachtung.«
Nicht petzen. Die Worte hallten in Angie nach. Aber ich musste es tun. Was er gemacht hat, war falsch. Kates Geschichte löste ein starkes Echo in ihr aus.
»Wollen wir zusammen aussätzig sein?«, fragte sie.
Kates Grinsen war das Fröhlichste, was Angie seit Tagen gesehen hatte.
Das Beste an einem Samstagmorgen war, das Sechs-Uhr-Klingeln am Wecker einfach auszustellen und noch mal einzuschlafen. Doch heute Morgen schaltete Angies Gehirn sofort auf hellwach, weil sie wegen der bevorstehenden Behandlung so nervös war. Sie rollte sich aus dem Bett, streckte sich zur Decke und beugte sich zum Boden. Ihre Arme schwangen locker um ihre Beine, und sie bemerkte schwarze Flecken an Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand. Sie sahen aus wie Füllerspuren. Seltsam. Sie war Rechtshänderin. Sie rieb die beiden Finger aneinander, und das Schwarz verwandelte sich in Grau. Ein zerknittertes Stück Papier auf dem Schreibtisch erregte ihre Aufmerksamkeit. An vielen Stellen war Tintenkiller benutzt worden. Sie glättete das Papier und keuchte auf.
Eine kindliche Handschrift zog sich schief über das Papier und fiel am Ende jeder Zeile diagonal nach unten ab. Einige der Wörter waren mit Tintenkiller entfernt und dann noch mal ordentlicher hingeschrieben worden. Mit der typischen Linkshänderneigung. Die gelöschten Wörter waren nach wie vor sichtbar und machten die Nachricht noch unleserlicher. Der Verfasser musste sie am Ende frustriert zusammengeknüllt haben. Angie ließ sich in ihren Schaukelstuhl fallen und las:
Libe Angie,
es ist sehr schwär für miech das zu schrieben. Aber das große Medchen hat gesagt ich muss es machen. Ich hoffä du kanst meinä Schrieft lesen. Ich war das erste Medchen das du hören konntest. Manchmaal. Aber ich versteke mich vor der Frau Doktor weil ich Angst vor ihr habe. Hast du einen Kassetenrekorder? Dann hol ihn. Es geht so langsam und ist so ansträngent einen Brief zu schrieben.
Deinä Petze
Das große Medchen an der Tür sagt es ist ok. Ich muss dier alles sagen, damit keinem Körper meer wegetan wierd.
Beim Lesen des Zettels war Angie ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ungeschickt nahm sie den Füller in die linke Hand und versuchte den Brief auf ein sauberes Blatt Papier zu kopieren. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, und sie bekam eine Gänsehaut. Ganz bestimmt war das nicht ihre Handschrift. Mit links konnte sie kaum die Buchstaben richtig schreiben. Neben ihrem Gekritzel sah die Kinderhandschrift fast makellos aus.
Die Erste, die sie hören konnte? Was hatte das zu bedeuten? Und wer war das große Mädchen an der Tür? War das Pfadfinderin oder jemand anders? Vielleicht die Torwächterin?
Ihr Leben bestand aus einem Haufen Fragen, die niemand außer ihr selbst beantworten konnte. Und die Geheimnisse vervielfachten sich, anstatt sich aufzulösen. Ganz toll. Genau wie ihre Teilpersönlichkeiten. All das war in ihrem Kopf verborgen.
Was war so furchtbar, so schrecklich, so angsteinflößend, dass sie es nicht mal sich selbst erzählen konnte? Immerhin hatte sie es doch geschafft zurückzukehren.
Die Vorstellung, wie ein kleines Mädchen sich mitten in der Nacht abmühte, ihr eine Nachricht zu hinterlassen, berührte sie auf eine Weise, wie es Dr. Grants wortreiche Erklärungen niemals tun könnten. Sie war real – ein Kind mit eigenen Träumen und Ängsten. Weil ich Angst vor ihr habe. Angie lächelte.
Doch als sie an die neue Behandlung dachte, verging ihr das Lachen. Dr. Grant hatte versprochen, dass alle Teilpersönlichkeiten eine letzte Chance bekommen würden, mit ihr zu sprechen, bevor sie gelöscht würden. Die Persönlichkeiten konnten entscheiden, wie viel sie erzählen wollten. Und Angie konnte entscheiden, wie viel sie wissen wollte.
Wussten die Anderen, dass die Behandlung an diesem Nachmittag beginnen würde? Bekamen sie alles mit und konnten es verstehen? War dieser Zettel der verzweifelte Versuch eines Kindes, sich Gehör zu verschaffen, bevor sie gelöscht wurde?
Angie stellte sich Petze vor, mit wehenden blonden Haaren, verwirbelt durch einen nicht wahrnehmbaren Wind, und einem Füller in der kleinen Hand.
Sie traf eine Entscheidung. Es wurde Zeit, die Geheimnisse aus ihrem Versteck zu holen. Egal ob sie selbst oder die Anderen dazu bereit waren.