Kapitel 10 Löschung

Nach wie vor waren die Dinge nicht geklärt. Warum blieben die Dinge zwischen ihr und Greg immer ungeklärt?

»Also, ganz offensichtlich hat er es ihr noch nicht gesagt«, flüsterte Kate quer über den Tisch. »Ich meine, guck sie dir doch an.«

»Lieber nicht«, erwiderte Angie und schaute woandershin. Natürlich hatte sie Kate sofort erzählt, dass deren Vorhersage richtig gewesen war und es nur der leisesten Ermunterung bedurft hatte, um Greg zurückzuerobern. Doch drei Tage später aß Greg noch immer mit Liv zu Mittag und warf Angie nur hin und wieder einen Seitenblick zu, als wolle er ihr dadurch zu verstehen geben, dass er die Sache mit Liv noch nicht offiziell beendet hatte. Mist. Warum musste es so kompliziert sein?

»Es rückt in bedrohliche Nähe«, sagte Kate.

»Was denn, ihre Knie unterm Tisch?«

»Nein, du eifersüchtige Spannerin. Der Herbstball. Ich meine, Greg muss sie doch langsam mal ausladen, wenn er mit dir hingehen will, oder? Ab morgen verkaufen wir die Eintrittskarten.«

Bis zu diesem Augenblick hatte Angie keinen einzigen Gedanken an den Ball verschwendet.

»Gehst du denn hin?«

»Ich muss. Bin doch Mitglied des Schülerrats und so. Noblesse oblige.«

»Und das bedeutet was?«, fragte Angie.

»Meine Position verpflichtet mich mehr oder weniger dazu. Außerdem hat Ali mich gefragt. Ich kann doch dem Schulsprecher keinen Korb geben!«

Nur eine Verpflichtung? Kates Grübchen ließ vermuten, dass mehr dahintersteckte. Angie folgte ihrem Blick bis zu dem Tisch, wo Ali und sein Zwillingsbruder Abraim üblicherweise zusammen zu Mittag aßen. Sie waren die einzigen Muslime in der Oberstufe, glichen sich wie ein Ei dem anderen, waren beide gutaussehend und adrett – geradezu perfekt für Kate. »Du magst ihn doch auch ein bisschen, oder?«, neckte Angie sie.

Kate zuckte mit den Schultern, vergaß aber, sich das Lächeln zu verkneifen. »Wenigstens muss ich mir keine Sorgen machen, dass er sich betrinkt.«

Angie schnaubte. »Hast du dir schon ein Kleid gekauft?«

»Das habe ich mir für morgen vorgenommen. Komm doch mit, dann kaufen wir für dich auch gleich eins.«

Großartig. Eine weitere Ausgabe für Mom und Dad. Doch wenn sie jetzt regelmäßig babysitten würde, konnte sie zumindest etwas beisteuern. Sobald sie zu Hause war, würde sie Mrs Harris anrufen und ihr das gleich für heute Abend anbieten.

Mrs Harris war begeistert. »Das wäre einfach wundervoll. Wenn ich Sammy um sieben ins Bett bringe, könnten wir danach rasch essen gehen.«

»Ich komme um sechs«, sagte Angie entschlossen. »Und Sie haben den Abend frei. Erklären Sie mir einfach, wie Sie ihn üblicherweise ins Bett bringen, und dann kümmere ich mich um alles. Sie können essen gehen und vielleicht auch noch ins Kino. Ich bekomme das schon hin.« Je mehr Stunden, desto mehr Dollars.

»Es ist ein bisschen schwierig, ihn zu beruhigen«, warnte sie Mrs Harris, während ihr Mann draußen den Wagen anließ. Es war bereits Viertel nach sechs. Mrs Harris’ Einweisung war so gründlich gewesen, dass sie vom Windelausschlag bis zur Marslandung alle Eventualitäten abdeckte. »Hab keine Scheu anzurufen, wenn es ein Problem gibt.«

Angie hob Sam auf ihre Hüfte. Er wickelte ihre Haare um seine Finger und zog daran. Sein Atem war süß und roch nach Karotten. »Gehen Sie ruhig, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Du wirkst sehr souverän«, sagte Mrs Harris. »Arbeitest du oft als Babysitterin?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Angie. Noch nie, in Wahrheit. »Aber wir kriegen das schon hin. Wenn ich einen Rat brauche, meine Mom ist ja direkt auf der anderen Straßenseite.«

Mrs Harris entspannte sich. »Ach ja. Du hast recht. Warum mache ich mir eigentlich Sorgen? Wenn du seine große Schwester wärst, würde ich schließlich keine Sekunde zögern. Deine Mutter ist ein echter Glückspilz, dass sie dich als Hilfe hat.« Sie beugte sich vor und küsste das Baby auf den Flaum oben auf seinem Kopf. Sam griff nach ihren Haaren, aber sie waren zu einem glatten blonden Knoten hochgesteckt. »Sei brav, Sammy. Sei brav zu deiner ehrenamtlichen großen Schwester.« Mrs Harris schmunzelte.

»Ich finde, er sieht Ihnen ein bisschen ähnlich«, sagte Angie.

»Wie nett von dir, das zu sagen. Das ist natürlich nur ein Zufall. Wir sehen uns dann in ein paar Stunden.«

Angie zog Sams winzige Faust aus ihren Haaren und winkte damit. »Sag auf Wiedersehen, Sam. Auf Wiedersehen, Mom.«

»Wie-da Mo«, sagte er winkend. »Wie-da Mo.« Er krähte stolz und vergrub sein Gesicht kichernd an Angie Hals. Sie drückte ihn fest an sich und dachte zum ersten Mal, dass es vielleicht doch nicht so furchtbar für Mom war, ein Baby zu bekommen. Sam passte in ihre Arme, als ob er dorthin gehörte.

Als Kate sie am nächsten Morgen abholte, war Angie hohläugig und todmüde, ohne dass sie eine Erklärung dafür hatte. Mrs und Mr Harris waren nicht allzu spät nach Hause gekommen, und sie hatte bis nach neun geschlafen. Es gab nur einen Hinweis – ihr Zimmer war makellos sauber, und ihr Schaukelstuhl war wieder vors Fenster gerückt worden. Die Decke darauf war fein säuberlich zu einem Minischlafsack zusammengerollt. Wahrscheinlich hatte Pfadfinderin einen Putzanfall bekommen, und den Rest der Nacht hatte sie dagesessen und geschaukelt. In ihrer nächsten Therapiestunde würde sie Dr. Grant bitten, herauszufinden, ob Pfadfinderin die wilde Schauklerin war, damit sie sich »unterhalten und zu einer Einigung kommen konnten«.

»Shoppen, shoppen, shop-pen!«, sang Kate im Cha-Cha-Cha- Rhythmus. »Wir gehen shop-pen.«

»Stöhn.«

»Was ist los, Angie?«

»Ich bin von einem Schaukeldämon besessen. Wegen ihm bin ich nachts ständig auf.«

Kate legte ihre Hände auf Angies Stirn. »Hinfort. Ich vertreibe dich, Schaukeldämon«, murmelte sie mit tiefer Stimme. »Hinfort!« Sie riss die Arme auseinander. »So. Hat es funktioniert?«

Angie schenkte ihr ein verkrampftes Lächeln. »Das werden wir heute Nacht sehen.«

Die Suche nach Ballkleidern war zunächst ziemlich frustrierend. Kate wollte etwas, das in Bezug auf Alis religiöse Empfindlichkeiten nicht zu kurz, nicht zu trägermäßig und nicht zu ausgeschnitten war. Natürlich griffen Angies Hände nach allem, was Kate als unpassend beiseitegelegt hatte. Angie kapierte sofort, was los war. Es war Schlampe, die ein Partykleid wollte. Schlampe, die mit Greg eine Privatparty veranstalten wollte. Angie konnte nicht mal genau sagen, wo Schlampes Gefühle für Greg aufhörten und ihre anfingen. Vielleicht hegten sie sogar die gleichen Gefühle, aber sie war sich nicht sicher.

»Hier, probier das mal an«, sagte Kate und warf ihr ein dunkelblaues Satinkleid zu.

»Das sieht so langweilig aus«, nörgelte Angie.

Kate drückte es ihr in die Hände. »Probier es doch einfach an.«

Mit einer ganz neuen Wertschätzung für Kates Modegeschmack trat Angie aus der Umkleidekabine. »Komm mal gucken, Süße«, forderte sie Kate auf. Angie drehte sich mit dem Tellerrock vor dem dreiteiligen Spiegel, und das Kleid, das ihr bis über die Knie ging, bauschte sich mit wirbelndem Schimmer. Das Saphirblau ließ ihre Haut milchweiß, ihre Wangen rosig und ihre grauen Augen bläulich erscheinen.

Am anderen Ende der Umkleidekabinen ging eine Tür auf, und ein Mädchen in Rubinrot kam heraus – es war Livvie in einem trägerlosen Minikleid. Ihr Ausschnitt war atemberaubend. »Juwelen-Farbtöne sind wohl in«, sagte sie mit gepresstem Lachen. »Hübsches Kleid. Mit wem gehst du hin?«

Angies Mund wurde trocken. Der Ball war schon in einer Woche, und Greg hatte es noch immer nicht geklärt.

Aus einer anderen Kabine eilte ihr Kate zur Hilfe. »Das ist eine Überraschung, Liv«, sagte sie. »Jedenfalls für manche von uns.«

»Sieh an, die gute Fee aus dem Märchen!«, bemerkte Liv.

Das war nicht ganz fair. Kates Kleid war zwar ein blassblauer Tüll-Albtraum mit Puffärmeln, aber das mit der guten Fee war doch arg übertrieben.

»Ich ändere es noch«, sagte Kate spitz.

»Kannst du das denn?«, fragte Angie beeindruckt.

»Na klar. Ist doch kinderleicht«, entgegnete Kate. »Deins gefällt mir übrigens auch, Liv. Du siehst aus wie eine von diesen roten Zuckerstangen, nur mit Titten.«

»Du kannst mich mal«, sagte Liv über die Schulter hinweg und stolzierte zurück in ihre Kabine.

»Ist das ihr Geheimnis?«, flüsterte Angie kichernd.

»Schneid nicht gleich das Preisschild ab!«, rief Kate Liv hinterher.

Angie stieß sie in die Rippen. »Du bist echt fies.«

»Lächerlich«, antwortete Kate mit hoher Stimme. »Weißt du denn nicht, dass ich die gute Fee bin?«

Bis Mittwoch passierte gar nichts, und die Sache mit Greg wurde allmählich unerträglich. Er hatte weder angerufen noch sein tägliches Mittagessen mit Liv aufgegeben. Schließlich verlor Angie die Nerven und spionierte ihm nach, um ihn nach der Schule allein abzupassen. Als Greg ins Auto stieg, wartete sie auf dem Beifahrersitz. »Du schließt nie ab, was?«

»Dieser Teil der Stadt ist sicher«, erwiderte er. »Was gibt’s?«

Puh. Wie peinlich. Wieder mal. »Ich … Du hast mich nicht … Ich habe nichts von dir gehört«, sagte sie lahm.

»Was meinst du damit? Ich sehe dich doch jeden Tag. Ich habe von dir auch nichts gehört.«

Angie runzelte die Stirn. »Ich meine, ich … du … Hast du schon mit Livvie gesprochen?«

Eine Spur von Verdrossenheit huschte über sein Gesicht. »Es ist doch erst ein paar Tage her. Ich mache es schon noch. Nerv mich nicht damit.«

Angie sank im Sitz zusammen. »Es ist ja nur, ich dachte, weil doch bald der Ball stattfindet und …« Sie verstummte.

Er spannte die Kiefermuskeln an und atmete hörbar aus. Angie hielt die Luft an.

»Der Ball. Ach ja.« Er wandte sich ihr zu und legte ihr die Hand auf den Arm. »Also, Liv und ich hatten uns bereits für den Ball verabredet. Ich habe schon vor langer Zeit einen Tisch reserviert. Und sie hat sich ein teures Kleid und den ganzen Rest gekauft.« Er lächelte entschuldigend. »Das verstehst du doch sicher.«

»Ich habe auch …«, fing Angie an, bremste sich dann jedoch.

»Aber gleich danach werde ich es ihr sagen, das schwöre ich. Im Moment ist einfach kein guter Zeitpunkt dafür, das ist alles.« Er umfasste ihr Gesicht mit den Händen. »Ich bin noch immer … Du bist mir noch immer sehr wichtig. Herrje, schau mich doch nicht so an. Das macht mich ganz scharf.«

Er spähte aus dem Fenster und senkte seinen Mund dann auf ihren – wie eine Biene, die kopfüber in eine Blume eintauchte.

Du hast deinen Mund geöffnet und ihm noch mehr angeboten. Hinter deinen Augenlidern tanzten glitzernde Muster. Oh ja, er wollte dich. Du konntest es schmecken, riechen. Seine Begierde ließ dich zittern. Und das war gut, oder? Er musste dich mehr wollen als Livvie. Wir mussten gewinnen. Das war äußerst wichtig. Du hast das Klopfen seines Herzens gespürt, seinen rasenden Puls an deiner Brust gefühlt. Eine tiefe Stimme in deinem Kopf sagte: Tritt zur Seite, Hübsches Mädchen. Ich erledige das.

Du hast versucht dazubleiben, aber die Botschaften von deinen Lippen, von deiner Haut wurden schwächer und entfernten sich immer mehr. Du wurdest von ihnen fortgezogen, zurück zur alten, morschen Veranda. Ganz schwach vernahmst du noch ein paar Geräusche – Seufzen, Stöhnen, metallisches Klicken, sich öffnende Reißverschlüsse. Du hast den Kopf abgewandt. Du warst abgemeldet. Du hast im Dunkeln gesessen und gegrübelt und geschaukelt, bis …

»Dann ist jetzt alles klar zwischen uns?«, sagte Gregs Stimme.

Angie war zu Hause und stand neben dem heruntergelassenen Fenster auf der Fahrerseite seines Autos.

Er packte eine Strähne ihrer Haare, zog ihr Gesicht zu sich herunter und gab ihr einen Zungenkuss. Er schmeckte seltsam. »Nach dem Ball, ich verspreche es. Dann sag ich es ihr.«

Angie nickte benommen. Was war passiert? Und zu was hatte sie Ja gesagt? Ganz offensichtlich würde er nicht mit ihr zum Ball gehen. Er ging nach wie vor mit Liv hin.

Sie musste sofort Kate anrufen.

»Dieser feige Dreckskerl«, schimpfte Kate. »Tut mir leid, Angie. Ich nehme an, du willst ihn noch immer zurückhaben?«

Angie hob die Schultern, doch dann wurde ihr klar, dass das Telefon diese Geste nicht übermitteln würde, und sie fügte hinzu: »Ich glaube schon. Ich meine, ich kann an nichts anderes denken als daran, dass ich ihn küssen will.«

»Na toll. Da spricht doch deine Libido, nicht dein Verstand. Klar, er ist echt scharf, aber wie behandelt er dich, bitte schön?«

Mist, sie wünschte, sie könnte diese Frage aus eigener Erfahrung beantworten.

»Du schweigst?«, bemerkte Kate. »Tut mir leid, dass ich mich so einmische, aber ich sage dir jetzt mal, wie ich es sehe: Euch beide verbindet eine ziemlich harmlose Vergangenheit. Und jetzt bist du das hübsche Mädchen von nebenan, und er will dich in Reserve haben – für den Fall, dass er Livvie und ihr Verhalten satthat. Also engagiert er sich gerade so viel, dass du weiter auf ihn abfährst. Und ›auf ihn abfahren‹ meine ich im Sinne von ›ihm total hörig‹ sein.«

»Ich bin ihm nicht hörig«, widersprach Angie empört.

»Ach nein? Du bist ihm nicht hörig, aber du … hüpfst einfach in sein Auto und bläst ihm einen, ohne dass er sich richtig zu dir bekennt?«

Aus Angies Gesicht wich alle Farbe. Mit ans Ohr gepresstem Hörer ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen. »Wieso, äh, warum glaubst du …«, flüsterte sie.

»Ich habe dich gesehen, du Wahnsinnige. Ich weiß doch, wie dein Hinterkopf aussieht.«

»Oh mein Gott. Das kann nicht sein. Ich habe noch nie … Ich würde nicht mal wissen, wie das geht!«

»Angie. Ganz offensichtlich weißt du es doch.«

Oder jemand anders. Diese verdammte Schlampe. Es wurde definitiv Zeit, in diesem Teil ihres Gehirns den Stecker zu ziehen, bevor sie Angie noch weiter in Schwierigkeiten brachte.

»Kate, was soll ich denn jetzt tun?«

»Frag dich selbst, ob ein Typ, der dich so ausnutzt, es wirklich wert ist, und zieh die entsprechenden Schlüsse daraus.«

»Du nimmst kein Blatt vor den Mund, oder?«, sagte Angie, und ein kleines Stück ihrer Unschuld zerbrach. Sie wollte ihn nicht aufgeben. Er war eine Verbindung, eine Brücke zu ihrem früheren Leben.

»Das muss ich nicht mehr«, antwortete Kate. »Ich bin bereits eine Aussätzige, deshalb genieße ich die Freiheit, ehrlich zu sein.«

Angie seufzte tief. »Nein. Du bist eine Freundin. Es ist deine Pflicht, ehrlich zu sein. Mist. Du hast natürlich recht.«

»Geh mit uns zum Ball«, schlug Kate vor. »Gute Laune zu demonstrieren ist die beste Rache. Wir machen ein Doppeldate. Damit würdest du mir sogar einen Gefallen tun, denn Alis Bruder Abraim wäre sowieso mitgekommen. Er kann dein Begleiter sein. Dann haben wir gleich zwei Probleme auf einmal gelöst, und ein Kleid hast du auch schon.«

»Na gut«, sagte Angie. »Weil ich schon ein Kleid habe.« Und obwohl ihr klar war, dass sie besser nicht hingehen sollte, fragte sich ein Teil von ihr, wie eifersüchtig Greg wohl sein würde, wenn er sie auf dem Ball mit einem anderen sah. »Wir reden morgen noch mal darüber. Tschüs, Kate.«

Sie ließ sich zurück aufs Kissen fallen und experimentierte mit verschiedenen Gefühlen. Sie versuchte überschwänglich glücklich zu sein, weil sie eine Freundin wie Kate hatte. Sie versuchte wütend auf Greg zu sein. Sie versuchte zu weinen. Es kamen ein oder zwei Tränen, doch hauptsächlich war sie wie betäubt. Und verstört. Gott stehe ihr bei, wenn Livvie irgendetwas davon erfuhr. Sie würde es todsicher überall rumerzählen.

Am Freitagmorgen teilte Angie Dr. Grant mit, dass sie sich für die Löschung entschieden hatte. Sie hatte jetzt keine Zweifel mehr und war bereit für den nächsten Schritt. Dr. Grant rief Dr. Hirsch an und besprach alles Nötige für eine erste Behandlung am Montagmorgen. Den restlichen Schultag und die ganze Nacht hindurch pochte es in Angies Kopf.

Am Samstagnachmittag kam Kate mit einem Set Heizwickler zu Angie, um ihr die Haare zu machen. »Du brauchst das volle Make-up-Programm«, sagte sie. »Schon wieder das verrückte Geschaukel?«

»Das und ziemliche Kopfschmerzen«, antwortete Angie. »Ich hoffe, ich stehe den heutigen Abend durch.«

Kate lächelte. »Sobald der Ball beginnt, wirst du dich großartig fühlen. Die Jungs holen uns um sechs hier ab.« Sie fand eine Steckdose. »Und jetzt fangen wir an zu zaubern.«

Sie drehte Angies Haare ein und machte sich dann an ihren Fingernägeln und ihrem Gesicht zu schaffen. Als sie fertig war, rahmten weiche blonde Locken das Gesicht einer Porzellanpuppe mit großen grauen Augen ein. Angie starrte das schöne Mädchen im Spiegel an, das sie selbst sein sollte.

Während Kate sich zurechtmachte, riss Angie sich vom Spiegel los, um sich anzuziehen. Sie hatte sich etwas für die scheußlichen Narben überlegt und drückte sich die Daumen, dass es Kates Zustimmung finden würde.

Mit hochhackigen Stiefeletten und hauchdünnen schwarzen Nylonstrumpfhosen drehte sie sich vor ihr im Kreis. »Geht das so?«

Kate neigte den Kopf und musterte sie prüfend. »Ja. Anders, aber irgendwie sexy. Das geht wunderbar. Komm, ich führ dir meins vor.«

Sie warf T-Shirt und Jeans beiseite, zog ihr eigenes Kleid aus dem Kleidersack und schlüpfte hinein.

Verblüfft betrachtete Angie das geänderte Kleid. »Wie hast du das gemacht?«

Die Puffärmel und der Tüll waren verschwunden. Aus dem blassblauen Unterkleid war ein trägerloses, rückenfreies Satinkleid geworden. Den blauen Tüll hatte Kate zu einer Stola umgearbeitet, die ihren Rücken und ihre Schultern auf eine Art verhüllte, die zugleich geheimnisvoll und scharf aussah.

»Und jetzt halt dich fest«, sagte Kate. Sie fasste in den Kleidersack und zog einen langen silbernen Schal heraus. Sie legte ihn über ihre dunklen Haare, kreuzte die beiden Enden unter dem Kinn und warf sie dann nach hinten über die Schultern, sodass sie wie ein Paar silberner Flügel an ihrem Rücken hingen. »Glaubst du, es gefällt ihm?«

Angie kicherte. »Ganz bestimmt. Wenn dich das allerdings züchtig aussehen lassen soll, so muss ich dir sagen, dass Ali heute Abend an nichts anderes denken wird als daran, wie er dich wieder auswickeln kann.«

Kate lächelte zufrieden. »Gut.«

»Ich kann nicht fassen, dass Liv dich als prüde bezeichnet hat«, sagte Angie. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund.

»Uuups. Tut mir leid.«

Kate quietschte vor Lachen. »Livvie macht mich echt fertig. Sie ist doch diejenige, die jede Menge Kurze braucht, um so locker zu werden, dass sie einen Kerl auch nur in ihre Nähe lässt.«

Jetzt wurde Angie einiges klar. Sie lachte heiser. »Sie ist also kein heißer, turboschneller Porsche?«

»Hä?«

»Das hat Greg mal gesagt. Das erklärt natürlich eine Menge. Kein Wunder, dass er so auf meine innere Schlampe steht.«

Kate fiel die Kinnlade runter. »Du hast eine innere Schlampe?«

Angie verdrehte die Augen. »Du erinnerst dich doch bestimmt an meine seltsamen Outfits? Die schwarze Spitze? Und der ganze andere Kram?«

»Der knallrote Lippenstift? Die schwarzen Kleopatra-Augen?«

»Genau. Das ist sie«, schnaubte Angie.

»Das weiße Stretchtop ohne BH

»Oh nein. Bitte sag, dass du dir das nur ausgedacht hast«, flehte Angie.

Kates Mundwinkel sanken nach unten. »Tut mir leid. Hast du nichts davon gewusst?«

»Das ging eindeutig auf ihr Konto.« Angie seufzte. »Egal, am Montagmorgen ist sie nur noch Geschichte.«

»Moment mal, was meinst du denn damit? Haben sie etwas gefunden, um dein Problem in den Griff zu kriegen?«

Wenn es nur so einfach wäre. »Na ja, es gibt da dieses Experiment …«, fing Angie an.

»Warte. Ein Experiment? An deinem Gehirn? Aber ich mag dich so, wie du bist!«

Angie verspürte ein jähes Glücksgefühl. »Hey, keine Sorge. Ich werde …«

Da läutete es an der Tür, und Kate huschte zu ihren Schuhen. »Oh, Mann. Das musst du mir unbedingt noch erzählen …«

Ali fielen fast die Augen aus dem Kopf, als Kate in ihrem selbstgenähten Glitzer-Kopftuch die Tür öffnete. Zumindest hoffte Angie, dass es Ali war. Sie wollte nicht, dass ihr Begleiter Kate schöne Augen machte. Und natürlich wanderte Alis Blick als Nächstes zu Kates Ausschnitt. Jungs waren eben Jungs.

Angie lauerte auf Abraims Reaktion. Würde ihm sein Blind Date gefallen? Er lächelte sie schüchtern an und kam dann mit dem Blumenarmband auf sie zu. Sein Bruder hielt exakt das gleiche in der Hand. »Du siehst sehr hübsch aus, Angela«, sagte Abraim. »Danke, dass du mich davor bewahrst, das fünfte Rad am Wagen zu sein.« Er hatte einen ganz schwachen britischen Akzent. »Ich hoffe, Rosen gefallen dir?«

Ohne nachzudenken, hielt ihm Angie ihr Handgelenk hin. Sie hatte sich schon längst an die Narben gewöhnt, doch jetzt sah sie sie wieder mit Abraims erschrockenen Augen. Er zögerte eine Sekunde zu lange mit dem elastischen Bändchen des Blumengestecks.

Kate kam ihr zu Hilfe. »Kleiner Pfadfinderunfall«, improvisierte sie. »Sie ist in eine Bärenfalle geraten und musste ihre eigene Hand abnagen, um wieder freizukommen.«

Dankbar griff Angie die Erklärung auf. »Da sieht man, wo der Arzt sie wieder angenäht hat.« Sie lachte betont unbeschwert.

Vorsichtig berührte Abraim ihre Fingerspitzen und bog ihr Handgelenk vor und zurück. Er schien diese absurde Erklärung tatsächlich für bare Münze zu nehmen. »Faszinierend. Ich wusste gar nicht, dass die Mikrochirurgie schon so weit entwickelt ist.« Er streifte ihr das Gesteck mit den drei Rosen so über den Arm, dass es das Narbengewebe verdeckte. »Ich möchte nach dem College Medizin studieren.«

»Und wo wirst du dich bewerben?«, fragte Angie.

»Harvard, Yale, Stafford, Tufts und Hopkins«, beteten beide Jungs im Chor herunter, wobei sie die Universitäten an den Fingern abzählten.

Angie zog die Augenbrauen hoch. Eine beeindruckende Liste. »Und was macht ihr, wenn ihr an zwei verschiedenen Universitäten angenommen werdet?«

Die Zwillinge schauten sich an, als ob ihnen diese Möglichkeit noch nie in den Sinn gekommen wäre.

»Was ist mit dir?«, fragte Abraim Angie. »Was möchtest du machen?«

»Bis Montag durchhalten. Ich lebe von Tag zu Tag. Was ich später machen will? Keine Ahnung.«

»Ich habe Hunger«, klinkte Kate sich ein. »Sollen wir?«

Abraim fasste Angie am Ellbogen und führte sie in altmodischer, förmlicher Manier zum Auto. »Wie sieht es mit dem College aus?«

Angie zuckte die Achseln. »Das ist noch lange hin. Ich bin erst in der Neunten.«

Sofort nahm Abraim die Hand von ihrem Arm. »So jung?« Er warf Ali einen verzweifelten Blick zu.

»Sechzehn«, sagte Angie schnell. »Ich bin sechzehn.«

Es war seltsam, diese Worte aus ihrem eigenen Mund zu hören, und noch seltsamer, dass sie es zum ersten Mal auch wirklich so meinte. Sie war sechzehn. Sie machte Fortschritte. »Ich, äh, war einige Jahre im Ausland und bin dort nicht zur Schule gegangen. Jetzt muss ich alles aufholen.« Genau, das tat sie. Sie holte auf. Das ungewohnte Gefühl reiner Freude machte sie ganz schwindelig.

Das Essen war großartig, ein orientalisches All-you-can-eat-Buffet. Der Weg dorthin war weit, aber die Jungs versicherten ihnen, dass es sich lohnen würde. Und sie hatten recht. Angie ließ die unbekannten Speisen auf der Zunge zergehen und versuchte die verschiedenen Gewürze zu erraten. Hilf mir mal, dachte sie irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf. Sie stellte sich das Knarzen von Holz auf Holz vor, das Geräusch, das ein Schaukelstuhl auf einer Veranda machte.

Die Antwort kam zaghaft. Das ist Cumin. Das Kurkuma. Das Süßliche ist Kardamom. Und Knoblauch, natürlich.

»Danke«, sagte sie und speicherte den Geschmack der einzelnen Gewürze in ihrem eigenen Gedächtnis ab.

»Danke für was?«, fragte Ali.

»Oh, ähm, dass du mir das Wasser gereicht hast«, sagte Angie schnell. Dass sie mit sich selbst sprach, war »eine weitere Gefahr der dünner werdenden Wände«, wie Dr. Grant ihr erklärt hatte. Super. Wenn sie nicht aufpasste, konnte das ziemlich peinlich werden.

Auf der langen Fahrt zurück zum Schulball unterhielten sich Kate und Ali vorn im Auto laut genug, um das etwas peinliche Schweigen auf der Rückbank zu kompensieren. Angie betrachtete durchs Autofenster die Sterne, bis eine Berührung sie zusammenzucken ließ.

Abraim hielt ganz vorsichtig ihre Hand. »Hat es wehgetan? Die Operation?«, flüsterte er.

Überraschenderweise füllten sich Angies Augen mit Tränen. »Ja«, flüsterte sie zurück. »Das kann man wohl sagen.« Abraim hob ihren Arm hoch und küsste ihr Handgelenk auf der Innenseite, seine dunklen Augen blickten sie sanft und mitfühlend an. Dann – als wäre er über sich selbst erschrocken – wandte er jäh den Kopf ab und blickte gleichfalls aus dem Fenster. Aber ihre Hand ließ er nicht los.

Die Entscheidung war gefallen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Regungslos saß Angie im Operationssaal, ihr Kopf war mit gepolsterten Klemmen fixiert. Der Raum war sehr, sehr weiß, und die Lampen gaben einen hohen Summton von sich, was die Ärzte und Schwestern nicht weiter zu stören schien.

Dr. Grants Augen blickten sie über den Rand ihrer OP-Maske hinweg an. Die Falten in ihren Augenwinkeln deuteten darauf hin, dass sie lächelte. Sie hielt beide Daumen hoch.

Angie erwiderte das Lächeln ziemlich matt. Das leichte Beruhigungsmittel sorgte dafür, dass sie stillhielt, trotzdem war sie aufmerksam und wach. Die winzigen Löcher oben in ihrem Kopf waren unter ihren Haaren verborgen und mit steriler biologischer Füllmasse verschlossen worden. Indem das Virus die modifizierten Gene in die Neuronennetze von Schlampe und Engel eingeschleust hatte, war ihr Gehirn inzwischen entsprechend vorbereitet worden. Wer hätte gedacht, dass das Gen eines Archaebakteriums ihre geistige Gesundheit wiederherstellen würde?

Dr. Hirsch versicherte ihr, dass die Gene von den Zellen absorbiert worden waren und die speziellen lichtsensitiven Membranproteine produziert hatten, die Opsine genannt wurden. So weit, so gut. Jetzt waren Schlampes Neuronen der Gnade des Laserlichts ausgeliefert, das mithilfe von Glasfasern ganz, ganz vorsichtig durch Angies Gehirn geführt und an die richtigen Stellen geleitet werden würde. Gelblicht würde die absolute Finsternis im Inneren ihres Schädels durchbrechen, und die Opsine würden ihre Arbeit einstellen – wodurch die Kommunikationsfähigkeit der Teilpersönlichkeiten ausgeschaltet wurde. Schmerzlos und unverzüglich.

Angie war fast überrascht, dass Schlampe nicht gewaltsam die Kontrolle an sich gerissen hatte und abgehauen war. Sie hatte sich seltsam passiv verhalten, und das bereitete Angie Sorgen. Hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt, oder wartete sie auf den richtigen Zeitpunkt für einen dramatischen Ausbruch?

Dr. Grant hatte sie vor einer möglichen Erinnerungskaskade gewarnt. »Während einer Therapie kann es einen Punkt geben, an dem die Wände zwischen den Teilpersönlichkeiten Risse bekommen. Dann bedarf es nur eines letzten Auslösers, und die gesamte Struktur fällt in sich zusammen. Du wirst von Erinnerungen überschwemmt. Unterdrückte, vor deiner dominanten Persönlichkeit geheim gehaltene Erlebnisse werden mit brachialer Gewalt durch dein Gehirn schießen. Wenn Kleine Frau ihre gesamte Missbrauchsgeschichte auf einmal bei dir ablädt, könnte das verheerende Folgen haben. Aber falls das passiert, werde ich da sein und dir dabei helfen, damit fertigzuwerden und deine Persönlichkeit neu zu strukturieren. Das verspreche ich dir.«

»Na toll«, brummte Angie. »Dann wären Sie also mein persönliches Katastrophenteam.«

Wegen der möglichen Risiken klammerte sie sich jetzt an die Hoffnung, dass alles ohne größere Komplikationen verlaufen würde; dass Schlampe sich nicht mit einem Knall, sondern mit einem leisen Wimmern verabschieden würde; dass die schlimmsten Erlebnisse für immer in Schlampes Bewusstsein bleiben und nicht in ihr eigenes gelangen würden.

In OP-Kittel und -Handschuhen stand Dr. Hirsch direkt hinter ihr, sie konnte seinen Gesichtsausdruck also nicht sehen. Aber sie wusste, er war so aufgeregt wie sie selbst. Ein weiterer Erfolg und seine neue Behandlungsmethode würde in einer anerkannten medizinischen Zeitschrift publik gemacht werden. Unter den MTAs und Schwestern war bereits vom Nobelpreis für Medizin die Rede.

Sie spürte nur einen ganz leichten Stoß, als er die Glasfasern tief in ihren Hippocampus einführte, den Ort all ihrer Erinnerungen, der guten und schlechten. Einen kurzen Augenblick lang bekam Angie schreckliche Angst. Was, wenn die Gene noch an andere Stellen in ihrem Gehirn gelangt waren? Würde dann auch alles andere gelöscht werden? Doch da sagte Dr. Hirsch schon: »Laser einschalten.«

Angie, während du reglos in dem Operationsstuhl saßest, gelangte bernsteinfarbenes und grünes Licht durch die feinen Fasern tief in dein Gehirn. Das winzige Leuchten durchdrang die entscheidenden Regionen, die zusammengenommen nicht ein, sondern viele Bewusstseine bildeten. Die modifizierten Zellen schalteten sich eine nach der anderen aus. Du verdrehtest die Augen, und sofort warst du mit uns vor der Hütte. Du bist auf die morsche Veranda zugegangen und hast deine Aufmerksamkeit auf die Gruppe gerichtet, hast uns eine nach der anderen erkannt.

Die Hand von Kleine Frau fuhr an ihre Kehle, als Teile ihrer Erinnerung abgetrennt wurden. Sie saß wie erstarrt in ihrem Schaukelstuhl, und ihr schwarzes Spitzenleibchen flatterte im Wind. Ihr Gesicht, dein Gesicht, schmolz vor deinen Augen.

Pfadfinderin sah voller Angst zu, sie wusste, ihr stand die gleiche Hinrichtung bevor. Ihre Schärpe lag auf ihrem Schoß, und ein Haufen abgetrennter Abzeichen stapelte sich vor ihren Füßen.

Petze beobachtete das Geschehen von der Wiese aus, sie saß auf einem großen schwarzen Pferd, das am ganzen Leib zitterte und zur Flucht bereit war.

Plötzlich erschien Engel über der Hütte. Er stellte sich vor Kleine Frau und bedrohte dich mit dem Schwert. »Bist du die Zerstörerin?«, wollte er wissen. Er breitete seine riesigen Flügel aus, damit du Kleine Frau nicht mehr sehen konntest.

»Nein«, sagtest du. »Ich bin die Überlebende. Geh zur Seite, und lass mich mein eigenes Leben führen.«

Engel faltete die Flügel, steckte das Schwert in die Scheide und trat hinter den Stuhl von Kleiner Frau.

Ihre Beine waren mittlerweile verschwunden, ihr Körper wie durchscheinend. Sie streckte die Arme nach dir aus, ihr Gesicht war ein blasser Fleck.

Angie, etwas brachte dich dazu, nach vorn zu treten und ihre Hände zu nehmen. Du wappnetest dich für alles, für eine Flut, für einen Wirbelsturm. »Nimm das«, drang ihre Stimme aus dem mundlosen Gesicht.

Ein Bild. Dein Tagebuch, verborgen in der Schublade deines Schreibtischs. Darin eine letzte Nachricht.

Und das. Eine Erinnerung. Vom letzten Mal, als sie die Kontrolle übernommen hatte. Du schmecktest die Süße des Augenblicks in deinem Mund:

Während eines langsamen Lieds hielt Abraim dich auf der Tanzfläche an sich gedrückt. Sie nahm deinen Platz ein und schmiegte sich noch enger in seine Arme. Dort fühlte sie sich sicher und geborgen. Er küsste ihre Stirn. Sie küsste seinen Hals. Später am Abend, als der Ball vorbei war, fuhr Ali mit euch allen hoch auf die Hügel, um den Sonnenaufgang anzuschauen. Zu Kates Überraschung holte er eine Handvoll Decken aus dem Kofferraum, und sie zündeten in einem Kreis aus Steinen ein Feuer an. Kate und Ali saßen dicht bei der Glut und wickelten sich im wahrsten Sinne des Wortes fest ineinander.

Der heiße Luftstrom des Feuers ließ Funken wie Sterne nach oben steigen. Es sah schön aus, aber diese ungezügelten Flämmchen machten uns nervös.

Abraim brachte dich zurück in das warme Auto, und ihr saht einander mit scheuen Blicken an. Das Feuer spiegelte sich in den Scheiben und in seinen Augen. Kleine Frau las seine Gedanken und seine Wünsche. Sie verstand viel von Männern.

Sie bewegte deine Hände zu deinem Reißverschluss und zog ihn auf. Dein Kleid fiel über die Schultern herab, und Abraim hielt die Luft an. Er war sprachlos, er verstand ihr Angebot. Dann streichelte er dir zweimal über die Arme, küsste dich oberhalb des Herzens und schob die Träger ihres Kleides wieder nach oben. Er zog den Reißverschluss am Rücken zu und nahm sie/dich in seine Arme. »Ich will dich einfach nur halten«, sagte er. Seine Arme zitterten, und sein Herz raste, doch es war ein sicherer Ort. Ein Hafen für deine schiffbrüchige Seele. Sie/du kuscheltest dich an seine Schulter und schliefst ganz tief, bis der Himmel sich rot färbte.

Sie schenkte dir die Erinnerung an Liebe, an Frieden, an Ruhe, an Trost. Und dann war sie verschwunden.

»Wir sind fertig«, sagte Dr. Hirsch. »Der Effekt sollte unmittelbar eintreten und von Dauer sein.«

Angie suchte in ihrem Kopf nach einer Regung von … von Kleine Frau. Auf einmal schämte sie sich ganz furchtbar. Wie hatte sie nur so schlecht von diesem einsamen, gebrochenen Mädchen denken können? Sie durchforstete ihr Hirn nach irgendeinem Zeichen, irgendeinem Hinweis auf Kleine Frau.

Doch sie war fort.

Sobald Angie zu Hause war, durchwühlte sie die Schublade ihres Schreibtischs. Unter einem Haufen Theaterprogramme fand sie es – das Tagebuch, das Kleine Frau ein weiteres Mal versteckt hatte. Sie schlug den neuen Eintrag auf, der vom vergangenen Freitag stammte – dem Tag, an dem Angie ihr Todesurteil unterzeichnet hatte. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Genau das war es, wenn man es ehrlich betrachtete. Ein Todesurteil. Denn trotz all ihrer Probleme hatte Angie Kleine Frau im allerletzten Augenblick zwar als Teil von sich selbst, aber auch als eigenständigen Menschen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen, mit einer eigenen Vergangenheit und Gegenwart wahrgenommen. Wenn auch ohne eigene Zukunft. Das war ihr erst in diesem letzten Augenblick klar geworden.

Ihre Kehle verengte sich schmerzhaft, und sie überlegte, den Brief ungelesen zu verbrennen. Was hatte die zum Tode Verurteilte ihr noch mitteilen wollen?

Angie drehte den Silberring von Kleiner Frau an ihrem Finger. Jetzt konnte sie ihn ablegen, und sie wollte es auch gerade tun – doch dann hielt sie etwas davon ab. Vielleicht einfach nur ihr Schuldgefühl.

Das Tagebuch forderte ihre Aufmerksamkeit. Sie brachte es kaum über sich, es zu lesen, tat es aber dennoch.

Ange,

diese Lynn ist wirklich beharrlich, und Geduld hat sie auch. Das muss man ihr lassen. Sie hat sich sehr viel Mühe gegeben, damit ich ihre Fragen beantworte, aber obwohl sie echt raffiniert ist, habe ich es geschafft, sie mir vom Leib zu halten. Du musst es von mir selbst hören. Denn nur ich kann beurteilen, was du wissen solltest und was nicht. Da gibt es Dinge, die du kapieren musst. Über den Mann. Und über mich.

Zuerst einmal: Nein, ich kenne seinen Namen nicht. Ich kannte ihn nie, und das ist die Wahrheit. Wie ich ihn genannt habe? Das hat sie mich schon hundertmal gefragt, als wäre sie eine verdammte Polizistin oder so was. Ich habe ihn »Ehemann« genannt. Er wollte es so, und deshalb habe ich ihn so genannt. Ich habe alles gemacht, was er wollte. Nur deshalb ist dir nichts passiert.

Der Ring war meine Idee, schon ganz am Anfang. Er hat die Sache mit ihm irgendwie »richtiger« gemacht. Weißt du, was ich meine? Der Mann hat das ganz groß aufgezogen, als er ihn mir gegeben hat, ist sogar vor mir auf die Knie gefallen. Und damals habe ich ihn auch davon überzeugt, dass er mich nicht ans Bett fesseln musste, wenn er mit mir zugange war – nicht, wenn ich seine Kleine Frau war. Ich meine, wenn ich die Hände frei hatte, konnte ich es ihm besser besorgen. Meine Freiheit zu seinem Preis.

Doch weiter hat er mir nicht getraut. Zum Schlafen hat er mich immer noch angebunden. Allerdings hab ich – auf dem Rücken liegend und mit ihm schnarchend halb auf mir drauf – nicht gerade viel geschlafen.

Ob ich jemals ein Stück Papier mit seinem Namen gefunden habe, hat sie mich gefragt. Nein. Habe ich jemals danach gesucht? Ja. Hab ich. Er hat eine Aktentasche mit nach Hause gebracht, aber sie war nie im gleichen Raum wie ich. Da hat er immer aufgepasst, egal, wie sehr er mir am Ende vertraut hat. Es gab mehrere Bücher im Schlafzimmer: »Grashalme«, ein paar Westernromane, ein paar von Shakespeare und eine Bibel. In keinem der Bücher stand ein Name. Ich habe sie eingesteckt, wenn er nicht hingesehen hat, damit Pfadfinderin sie tagsüber lesen konnte. Dann hatte sie was zu tun und konnte mir nicht ins Gehege kommen. Nicht dass sie es gewollt hätte, zumindest nicht damals.

Alles, was ich war, alles, was ich wusste, alles, was ich fühlte, spielte sich zwischen diesen vier Wänden ab. Es gab nur einen schmalen Durchgang von meiner Welt zu ihrer. Doch mit der Zeit lernten wir, auch mal ein Wort zu wechseln, wenn wir die Schwelle überschritten und die Plätze tauschten. Mehr nicht. Abends sagte sie zum Beispiel: »Du bist dran, Schlampe.« Und am Morgen sagte ich dann: »Du bist dran, Küchenzicke.« Nicht gerade die beste Beziehung zwischen zwei Menschen, die komplett voneinander abhängig sind.

Sie musste nichts weiter tun als das vordere Zimmer sauber halten und ein ordentliches Essen auf den Tisch bringen. Stinklangweilig. Trotzdem besaß sie die Frechheit, auf mich herabzublicken.

Sie hatte doch keine Ahnung, das Schlafzimmer war der Himmel für mich. Der Mann brachte mir wunderschöne Dinge mit, die ich für ihn tragen sollte. Spitze und Satin. Er zog mich an, streichelte und bewunderte mich. Ich fühlte mich umwerfend. Als Spiegel hatte ich nur seine Augen. Er liebte mich. Er war der einzige Mensch, den ich überhaupt kannte. Und zwar für sehr lange Zeit.

Aber das Schlafzimmer war auch die Hölle für mich. Der Mann sagte, ich dürfte ihn nie verlassen. Zum Schlafen band er mich fest. Er schüchterte mich ein. Und ja, Ange, ich hatte Angst vor ihm. Und ich hasste ihn auch. Vor allen Dingen hasste ich ihn zu der Zeit, als ich anfing, fett zu werden. Es war bestimmt die Schuld von Pfadfinderin, denn ich selbst habe nie gegessen. Er schob mich beiseite und hatte keine Verwendung mehr für mich. Ich weiß nicht, was ich getan habe, dass er so wütend auf mich war. Monatelang war ich ganz allein, furchtbar einsam, und sie hat meinen Platz eingenommen. Von unserer Veranda aus konnte ich sie zwar nicht sehen, aber ich hörte sie weinen. Sie heulte ziemlich viel – wegen etwas, wegen jemandem. Sie ging ihm auf die Nerven. Schließlich rief er mich zurück, und alles ging weiter wie früher. Ich war wieder dünn und wieder froh.

Was danach passiert ist, war nur ihre Schuld. Sie ist diejenige, die Engel hereingelassen hat, während ich schlief. Denk immer dran, Ange: Es war alles ihre Schuld. Sie muss es gewesen sein. Ich hätte meinem Ehemann nie wehtun können. Und ja, Ange. Ich habe ihn geliebt.

Ich bin so müde. Ich weiß, du hasst mich jetzt auch. Deshalb ist es mir egal, wenn ich verschwinde. Ich wünschte nur, ich würde vor meinem Ende noch ein bisschen Liebe spüren.

Angie klappte das Tagebuch zu.

Sie fing an zu weinen. Die ganze Traurigkeit, der ganze Kummer und der ganze Schmerz von drei Jahren brach mit herzzerreißenden Schluchzern und markerschütterndem Heulen aus ihr heraus.

Was hatte sie nur getan?