Kapitel 17 Besessen

Erst gestern hatten Dr. Grant und ich darüber gesprochen, dass ich künftig nur noch einmal die Woche zu ihr kommen sollte, weil wir beide dachten, die meiste Arbeit sei bereits getan. Doch da hatten wir uns offenbar geirrt. Und zwar gewaltig. Ich brauchte Dr. Grant jetzt.

Die Tatsache, dass die wilde Schauklerin meinen Körper aufwecken und die Kontrolle übernehmen konnte, obwohl ich völlig erschöpft war und zweifellos sehr tief geschlafen hatte, ließ mir das Herz bis zum Hals schlagen. Das konnte ich nicht hinnehmen.

»Bist du jetzt endlich aufgestanden?«, rief Mom vom oberen Treppenabsatz.

»Ja. Bin in einer Minute unten«, stöhnte ich.

»Das hast du vorhin auch schon gesagt.«

»Ich bin aufgestanden!«, brüllte ich.

»Dein Vater ist draußen im Garten und schneidet die Rosen zurück. Vielleicht könntest du ihm helfen.« Als ob mich diese Aussicht aus dem Bett locken könnte. »Es ist ein wunderschöner Tag«, fügte Mom mit ihrer Singsangstimme hinzu.

Vielleicht für sie. Wegen gestern war sie noch immer in Hochstimmung. Doch für mich war es kein guter Tag – über Nacht war alles in sich zusammengestürzt. Ich musste mich mit Dr. Grant beraten, und zwar irgendwo, wo Mom es nicht hören konnte. Sie hatte mit Dad, dem Baby und Weihnachten schon genug am Hals. Auf keinen Fall würde ich ihr erzählen, dass es mir doch nicht so gut ging, wie wir gedacht hatten. Jedenfalls nicht im Moment.

Als sie in der Küche verschwunden war, schnappte ich mir das Telefon aus Dads Arbeitszimmer. Ich verschloss sorgfältig die Tür und wählte Dr. Grants Notfallnummer.

Sie ging sofort ran. »Bist du das, Angie?« Ach ja, die Rufnummernerkennung.

»Hallo, Dr. Grant. Es gibt Neuigkeiten.« Meine Stimme klang leise und angespannt. »Erinnern Sie sich noch an die Probleme, die ich mit der wilden Schauklerin hatte?« Es war nur eine rhetorische Frage, trotzdem wartete ich ihre Antwort ab.

»Natürlich, Angie. Selbstverständlich erinnere ich mich daran.«

»Und erinnern Sie sich auch, dass keine der Teilpersönlichkeiten zugegeben hat, geschaukelt zu haben, obwohl wir beide ziemlich sicher waren, dass Pfadfinderin dahintersteckte? Und jetzt raten Sie mal!«

»Sie war es nicht«, erwiderte Dr. Grant. »Natürlich war sie es nicht.«

»Bingo. Denn es war jemand anders. Gestern Abend hatte ich wieder eine Erinnerungslücke. Während ich wach war, habe ich fast zwei Stunden verloren. Und danach hat sie mir mit ihrer Schaukelei den ganzen Nachtschlaf geraubt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Dr. Grants besänftigende Stimme wirkte auch übers Telefon. »Das kriegen wir schon hin. Es wird alles gut, Angie. Jetzt nur keine Panik. Möchtest du einen Termin haben? Könnte deine Mom dich herfahren? Heute? Die Uhrzeit ist völlig egal. Ich hatte nur Weihnachtseinkäufe geplant, und die können warten.«

»Ich frage sie mal. Können Sie kurz dranbleiben?«

Während ich nach unten lief, versuchte ich mir eine plausible Erklärung auszudenken, warum ich eine Notfallsitzung brauchte. Auf dem Treppenabsatz kam mir eine Idee, und als ich die Küche betrat, sprudelte ich gleich los: »Mom, könntest du mich bitte zu Dr. Grant fahren? Ich hatte letzte Nacht einen furchtbaren Albtraum. Deswegen habe ich auch so schlecht geschlafen. Er hat mich ziemlich aufgewühlt, und ich konnte nicht wieder einschlafen.«

»Du Ärmste«, sagte Mom. »Natürlich kann ich dich fahren.«

Eine halbe Stunde später stiegen wir ins Auto, meine Haare waren noch nass vom Duschen. Ich merkte, dass Mom gern mehr über den Traum erfahren hätte, deshalb log ich ihr vor, ich hätte geträumt, ich sei in einem Kokon gefangen gewesen, in dem der Sauerstoff allmählich knapp wurde. Vor lauter Anspannung war meine Brust tatsächlich ganz eng, und ich bekam schlecht Luft. So weit stimmte das also.

»Es ist, als würde ich heimgesucht!«, erklärte ich Dr. Grant. »So fühle ich mich jedenfalls. Ich bin wie ein altes Haus, auf dessen Dachboden noch immer ein Geist herumspukt.«

Sie lächelte mich freundlich und mitfühlend an, eine ihrer Spezialitäten. »Hast du irgendeine Idee, was dahinterstecken könnte?«

Ich zermarterte mir das Hirn. Jetzt spuck’s schon aus, befahl ich mir selber. Keine Geheimnisse mehr. Doch die Erinnerungen, die ich von Pfadfinderin und Petze übernommen hatte, nützten mir hier nichts. Wenn es eine weitere Person in mir gab, dann kannten die beiden sie nicht. Und wegen der Gespräche, die Pfadfinderin und Kleine Frau auf der Türschwelle geführt hatten, war ich überzeugt, dass auch Kleine Frau nichts von ihr wusste. Aber hatte sie nicht erwähnt, sie sei weggeschickt und für einige Zeit ersetzt worden? Vielleicht war das eine Spur. Sogar eine verdammt heiße Spur, denn mittlerweile wusste ich mit Sicherheit, dass Pfadfinderin sie nicht ersetzt hatte. Woher ich das wusste? Weil ich keinerlei Erinnerung an diesen Zeitraum hatte.

Und dann Engel – er hatte doch auch so etwas Merkwürdiges gesagt. Was war es noch gewesen? Eine der Teilpersönlichkeiten hätte ihn ins Leben gerufen, nachdem der Mann etwas absolut Unverzeihliches getan hatte. Ich fragte mich, was noch unverzeihlicher sein konnte als das, was ich bereits wusste.

Ich rieb mir die Augen, bis ich wirbelnde Muster hinter meinen Lidern sah. Ich erkundete mein Inneres, während Dr. Grant geduldig wartete. Schließlich hatte ich eine vage Vorstellung. »Die Einsame Seele – mehr weiß ich nicht über sie. Engel meinte, er sei von der Einsamen Seele erschaffen worden. Und ich habe nicht verstanden, dass das ein Name sein sollte. Ich dachte, er meinte damit eine der anderen Persönlichkeiten. Nämlich Kleine Frau, da sie sich ja beklagt hatte, der Mann habe sie eine Zeit lang vernachlässigt.«

Ich stellte mir Engels wunderschönes Gesicht und seine strahlend weiße Herrlichkeit vor, und plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Dort, wo ich früher seine Gegenwart gespürt hatte, war jetzt nur noch Stille. Die Leere schnürte mir den Magen zusammen. »Es ist zu spät, Dr. Grant. Wir können ihn nicht mehr fragen. Er ist weg.«

Ich sackte zusammen und schlang die Arme um meine Knie. Ohne Engel fühlte ich mich klein und schwach. »Wir haben es vermasselt.« Meine Tränen tropften auf den Teppichboden.

Ein wenig mütterlich, aber irgendwie auch verlegen tätschelte mir Dr. Grant den Rücken. »Es tut mir leid, Angie. Ich dachte, wir hätten das Richtige getan. Aber keine Angst. Wir werden es schon herausfinden, so oder so. Ohne Engels Hilfe dauert es einfach nur länger. Möchtest du es mit Hypnose versuchen?«

»Vielleicht am Montag. Heute würde ich am liebsten nur reden. Ich möchte mich jetzt nicht so gern aus meinem Kopf entfernen.«

Also sprachen wir darüber, ob ich Kleine Frau und Engel vermisste. Und wenn man von den Tränen ausging, die in meinen Ärmeln versickerten, dann lautete die Antwort wohl Ja.

Kate passte mich direkt nach meiner Erdkundeprüfung ab. »Du siehst ja furchtbar aus«, sagte sie so unverblümt, wie es wirklich nur eine beste Freundin tun konnte. »Ärger im Paradies?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Zwillinge, die vor ihren Spinden standen und einen Stapel Bücher gegen den anderen austauschten.

»Was? Ach, du meinst Abraim? Ärger? Nein. Er ist wunderbar. Es ist wunderbar. Wir sind wunderbar«, stotterte ich. »Wir haben uns am Wochenende zweimal getroffen.«

»Und, habt ihr Fortschritte gemacht?« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und stupste mich dabei mit dem Ellbogen an.

Ich wurde rot und dachte an seine warmen Hände, die während unseres Abschiedskusses unter dem Pullover meinen Rücken erkundet hatten. Ich spürte noch immer, wie jede seiner Fingerspitzen sanfte Kreise zog.

Kate sah meinen Gesichtsausdruck und lachte schnaubend. »Schon gut. Ich kenne die Antwort bereits.« Sie blickte sich um und sah die Zwillinge auf uns zukommen. »Siehst du deshalb so erschöpft aus? Zu viel Liiiiiiiebe?«

»Schön wär’s«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Die wilde Schauklerin ist wieder da.« Sie hatte mich sowohl Samstag- als auch Sonntagnacht aus dem Bett gezerrt und mich mit Schaukelmarathons gequält. Dabei hätte ich vor den Prüfungen eigentlich Ruhe gebraucht.

»Was? Ich dachte, ihr hättet das alles so gut hingekriegt.«

»Das dachte ich auch.« Ich hob theatralisch die Schultern. »Aber so ist es nicht. Wie es scheint, sind die Dämonen der Vergangenheit noch nicht fertig mit mir. Ich bin nach wie vor besessen.«

»Mann, das ist ja bitter. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um dir zu helfen.« Sie schenkte mir ein hilfloses, trauriges Lächeln. »Wollen wir später zusammen laufen gehen? Danach ist mein Kopf immer ganz klar. Ich meine … Oh, wie blöd von mir. Ich wollte nicht …«

Wenn es nur so einfach wäre. »Pssst. Die Jungs.« Mit einer Handbewegung bedeutete ich ihr, still zu sein, bevor die Zwillinge in Hörweite waren.

Obwohl der Austausch von Zärtlichkeiten in der Schule verboten war, gab Ali Kate einen Kuss. Abraim hob die Augenbrauen und küsste mich nur mit dem Strahlen in seinen Augen. Doch meine Lippen prickelten trotzdem.

»Wie ist deine Prüfung gelaufen?«, fragte er.

»Die war leicht«, erwiderte ich. »Nicht mal spannend genug, um mich wach zu halten.« Ich gähnte herzhaft. »Gott sei Dank bin ich für heute durch. Allerdings stehen mir morgen zwei schwierigere Prüfungen bevor. Geschichte und Englisch. Ich muss noch jede Menge Lernkram wiederholen.«

»Sollen wir dich nach Hause fahren?«, fragte Ali. »Wir haben auch Schluss und könnten dich mitnehmen.«

Ich blickte auf die Uhr in der Eingangshalle. »Meine Mom holt mich in einer Stunde ab. Ich muss noch wohin.«

Kate tätschelte mir den Arm und schaute mich bedeutungsvoll an. »Gehst du Dämonen austreiben?«, fragte sie kaum hörbar.

Ich verspürte ein jähes Engegefühl in der Brust, und einen Augenblick lang dachte ich schon, ich hätte einen Herzinfarkt. Ich keuchte vor Schmerz, und mir wurde schwarz vor Augen. In meinem Kopf drehte sich alles, und meine Beine gaben unter mir nach.

Kate packte mich fester und hielt mich aufrecht. »Angie, was ist los?«

Abraim stützte mich von der anderen Seite. »Hey, alles in Ordnung mit dir?«

»Wenn ich ohnmächtig werde, lass mich bitte nicht fallen«, murmelte ich ihm zu. Er drückte mich fest an seine Brust, und ich versuchte gleichmäßig zu atmen und mich darauf zu konzentrieren, bei Bewusstsein zu bleiben. Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Mein Blick wurde wieder klar, und ich sah die besorgten Gesichter von Ali und Kate vor mir.

»Puh, das war wirklich komisch. Tut mir leid, Leute. Ich hatte einen fiesen Krampf im Bein und hab keine Luft mehr gekriegt.« Oder so ähnlich.

Die Jungs warfen mir erschrockene und mitleidige Blicke zu, und Kate suchte in ihrer Tasche nach einer Ibuprofen. Gut so, ich würde das Missverständnis bestimmt nicht aufklären. Ein Krampf in der Brust wäre viel schwerer zu begründen, und außerdem hatte er jetzt ja auch aufgehört.

Meine Freunde bestanden darauf, mich sofort nach Hause zu fahren. Abraim hielt auf dem Rücksitz schweigend meine Hand. Der Blick seiner dunklen Augen verriet mir, dass er noch einige Fragen an mich hatte, sie jedoch in Gegenwart seines Bruders nicht stellen würde. Bevor ich ausstieg, zog er mich fest an sich und küsste mich auf den Mund. Es war das erste Mal in Gegenwart von anderen. »Bitte ruf mich später an«, sagte er. »Damit ich mich vergewissern kann, dass es dir wirklich gut geht.«

In Dr. Grants Wartezimmer setzte sich Mom auf den gleichen Stuhl wie immer und griff sich eine Zeitschrift, die sie schon mehrere Male komplett durchgelesen hatte. Meine Güte, die Frau arbeitete in einer Bibliothek, also hätte sie sich doch mal ein Buch mitnehmen können, um sich die Zeit zu vertreiben. Aber vielleicht konnte sie sich ohnehin nicht konzentrierten, weil sie die ganze Zeit nur dasaß und sich fragte, was in Dr. Grants Behandlungszimmer vor sich ging. Dr. Grant unterlag der Schweigepflicht, und ich war auch nicht gerade gesprächig, obwohl fast das gesamte Gehalt von Mom für meine Therapiestunden draufging.

»Ich habe einen Plan«, verkündete ich Dr. Grant und ließ mich auf die Couch plumpsen. »Sie müssen mich einfach nur in Hypnose versetzen.«

Wir hatten so oft mit Hypnose und Fantasiereisen gearbeitet, dass es mittlerweile ein Kinderspiel für mich war, gedanklich den Raum zu verlassen und in meinem Kopf den Ort aufzusuchen, an dem ich meinen Teilpersönlichkeiten auch früher begegnet war. Einsame Seele musste ganz in der Nähe sein, und es gab logischerweise nur einen Ort, um nach ihr zu suchen.

Ich ging zurück zur alten Hütte, zu der sonnigen blauen und gelben Veranda, die völlig unverändert aussah. Doch die Eingangstür, die Tür, die nur Engel benutzen konnte, stand ein paar Zentimeter offen. Das war noch nie zuvor so gewesen.

Im Türspalt hingen Spinnweben, die sich im morgendlichen Windhauch bewegten. Ich streckte die Hand aus und zog am Türknauf. Knarrend schwang die Tür nach außen auf und schlug gegen die Hüttenwand. Drinnen bewegte sich etwas. Ein Sonnenstrahl durchbrach das Dunkel und fiel auf eine gebeugte Gestalt in der Mitte des Raums. Ein rhythmisches Geräusch drang an meine Ohren – ein Schaukeln. Kufen auf einem Holzfußboden.

Ich trat ein. In der Ecke stand eine funzelige Petroleumlampe auf dem Boden und warf einen langen flackernden Schatten auf die gegenüberliegende Wand.

»Wer bist du?«, fragte ich, und meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Sie hob langsam den Kopf, und schließlich trafen sich unsere Blicke. Das also war Einsame Seele, meine wilde Schauklerin. Ihre Wangen waren tränenverschmiert, ihr Gesicht war mein Gesicht, wirkte aber gelblich im schwachen Schein der Lampe.

Sie hielt etwas in den Armen, das sie mir jetzt entgegenstreckte. Wollte sie, dass ich es nahm? Ich trat einen Schritt nach vorn und nahm ihr das weiche Bündel ab. Eine Decke. Eine blau-weiß karierte Decke, die mir seltsam vertraut vorkam. Sie rutschte mir aus den Händen und fiel zu Boden.

»Wer bist du?«, schluchzte sie, und es klang wie ein Echo meiner Stimme. »Wo ist mein Engel?«

»Er ist weg. Und er wird nicht mehr zurückkommen.«

»NEIN!« Sie weinte und griff nach der Decke.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Er war zu gewalttätig, zu unkontrolliert. Er konnte nicht bleiben.«

»Aber wer wird dann mein Baby suchen?«, flüsterte sie. »Wo ist mein Baby?« Sie faltete die Decke so zusammen, dass sie die Form eines kleinen Kindes bekam, und barg sie an ihrer Schulter.

Oh mein Gott. Die Decke.

Sie drückte ihr Gesicht dagegen, völlig verzweifelt über ihren Verlust. »Ich habe Engel ausgeschickt, um mein süßes Baby zu suchen.«

Nein. Das konnte doch nicht sein.

»Der Mann hat es mir aus den Armen gerissen.«

»Angie, Angie.« Dr. Grant rüttelte mich an der Schulter. »Hörst du mich?« Ihre Stimme zog mich ins Hier und Jetzt zurück, doch ich kämpfte dagegen an und wollte wieder ins Dunkel gleiten.

»Das kann nicht sein!«, schrie ich. Das war Sammys Decke gewesen.

»Angie, was passiert da gerade? Komm wieder zu dir.« Dr. Grants Aufforderung verlor sich in der Ferne.

Überraschend kräftig packte mich Einsame Seele am Arm, und ich wurde von einem grauenvollen Krampf geschüttelt. Ich krümmte mich, der messerstichartige Schmerz in meinen Eingeweiden raubte mir den Atem. Plötzlich lag ich auf dem Bett, das voller Blut war. Ich schrie und wand mich, aber der schneidende Schmerz in meinem Bauch hörte einfach nicht auf. Ich schnappte nach Luft. Noch nie in meinem Leben hatte etwas so wehgetan. Vor mir hielt der Mann mit gesenktem Kopf meine Knie so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. »Jetzt musst du pressen. Ganz fest pressen, meine Liebste.« Und ich presste und presste und schrie und fühlte, wie sich der Druck langsam verlagerte.

Und dann lag ein glitschiges, schreiendes Neugeborenes in meinen Armen, und der Schmerz verflog, und das Glück, das ich beim Anblick des kleinen roten Gesichts verspürte, war unbeschreiblich.

»Es ist ein Junge«, sagte der Mann. »Gib ihm die Brust.« Er drückte den winzigen Mund an meine geschwollenen, schmerzenden Brüste.

Und ich schaukelte und schaukelte und wiegte ihn in seiner Decke. Ich fütterte und liebte ihn bis zu dem Tag, an dem der Mann sagte: »Das funktioniert einfach nicht. Du hast gar keine Zeit mehr für mich.« Und er riss mir das Bündel aus den Armen. Da zersplitterte mein Herz in tausend Stücke.

Einsame Seele ließ mich los, und die Verbindung zu ihr riss ab. Die Erinnerungskaskade war zu Ende, aber der Schock ließ meinen Schädel pochen. Ihre Finger hatten blaue Flecken auf meinem Arm hinterlassen, und ich stolperte aus dem finsteren Raum zur Tür.

Einsame Seele erhob sich, um mir zu folgen. »Ich muss herauskommen und mein Baby suchen.«

»Nein. Das kannst du nicht«, keuchte ich. »Nie wieder.«

Ich schlug die Tür zu. Ich wusste, was zu tun war. In meinem Kopf war alles möglich. Bretter und Nägel lagen genau dort, wo ich sie brauchte. Aus dem Nichts tauchte ein Hammer auf.

»Angie. Angela. Jetzt!«, rief Dr. Grant.

»Nein, noch nicht!«, rief ich ihr zu. Ich hämmerte wie besessen und nagelte die Tür mit Brettern zu, was die Hütte wieder verlassen und baufällig aussehen ließ. Grau und abweisend. Und das war gut so. Denn solange Einsame Seele dort drinnen gefangen war, durfte keiner von der Hütte wissen.

Außer mir. Denn jetzt kannte ich ihren geheimen Kummer, den Schmerz, der Einsame Seele die ganze Nacht mit leeren Armen schaukeln ließ. Und ich wusste auch, wo ihr Baby war. Ich hatte nur keine Ahnung, was ich tun sollte.