Kapitel 19 Feuersbrunst
Wie? Wie hatte sie entkommen und so schnell meinen Platz einnehmen können?
Nachdem ich Detective Brogan um Hilfe gebeten hatte, verklang meine Stimme. Ich wusste jetzt, dass Einsame Seele die Kontrolle übernommen hatte. Würde er den Unterschied bemerken? Würde sie sich verraten?
Fast panisch lief ich in der Hütte auf und ab. Es war beklemmend eng. Ich bekam kaum Luft, was albern war, denn ich musste ja gar nicht atmen. Sie atmete für uns.
Probehalber kniff ich mich selbst. Es tat weh. Natürlich tat es weh, denn ich erwartete ja, dass es wehtat. Und deshalb atmete ich auch weiter, weil ich es von mir erwartete, zu atmen.
Sechs Schritte hin, sechs Schritte zurück. Wieder und wieder. Den Schaukelstuhl mied ich absichtlich. Auf keinen Fall würde ich mich da reinsetzen und tatenlos abwarten, bis Einsame Seele beschloss, dass ich wieder das Kommando übernehmen konnte. Was war, wenn sie mich für weitere drei Jahre in meinem eigenen Körper wegsperrte? Oh mein Gott. Was war, wenn sie mich für immer hier in meinem eigenen Inneren zurückließ?
Ich stellte mir all die Dinge vor, die sie jetzt vielleicht plante: sich Sammy schnappen und weglaufen, die Schule schmeißen, unverzeihliche Sachen zu Mom und Dad sagen, Dr. Grant abservieren – die einzige Person, die bemerken könnte, was passiert war. Wenn mir diese Dinge einfielen, dann würde sie ganz sicher auch draufkommen.
Meine Schritte nahmen den Rhythmus eines Herzschlags oder eines Uhrentickens an, und ich stellte fest, dass ich jedes Zeitgefühl verloren hatte. Zeit hatte hier drin keine Bedeutung mehr. Es konnten Minuten, Stunden, sogar Tage vergangen sein, seit sie meinen Platz eingenommen und mich eingesperrt hatte.
Wieder rüttelte ich an der Tür, hämmerte dagegen und brüllte, bis meine imaginäre Stimme heiser war. Keine Reaktion. Ich starrte auf meine Hände und versuchte mit der Kraft meiner Gedanken eine Axt herbeizurufen, damit ich mir den Weg freihacken konnte. Es funktionierte nicht. Vielleicht funktionierten meine geistigen Beschwörungskünste nur, wenn ich das Geschehen lenkte.
Mein Herz zog sich vor Bitterkeit zusammen. Wie konnte Einsame Seele mir das antun?
Und dann kam mir die furchtbare Erkenntnis, dass ich es ihr doch zuerst angetan hatte.
Wie dumm. Wie unglaublich dumm von mir zu glauben, ich könnte einen so mächtigen Teil von mir einfach wegsperren, nachdem Einsame Seele die Freiheit bereits gekostet hatte. Nachdem sie Sammy gesehen und Brogan bestätigt hatte, dass der süße kleine Junge ihr gestohlenes Kind war.
Ich lief weiter hin und her, machte jetzt aber sieben Schritte, sodass ich beim Hin- und Rückweg gegen die Wand stieß. Der Aufprall nährte meinen Zorn und gab mir Kraft. Und ich brauchte Kraft, denn der Schaukelstuhl sah so verlockend aus.
Ich könnte mich hineinfallen lassen und schaukeln, und es würde sich anfühlen, als bliebe die Zeit stehen. Nie würde sich etwas in diesem in Dämmerlicht getauchten Raum verändern. Ich könnte schaukeln und mein Leben betrauern und warten. Ich würde die einsame Seele sein, und sie würde zu Angie werden.
Ich tat einen Schritt auf den Stuhl zu. Was war so schlimm daran, nur für einen kleinen Augenblick auszuruhen?
Hier drin war es sehr still. Bis auf das imaginäre Geräusch meiner Schritte und mein unnötiges Atmen hörte man nichts. Es gab nicht den kleinsten Lufthauch. Die Petroleumlampe brannte mit kleiner, stetiger Flamme, sie flackerte nicht.
Die Flamme war wie eine Metapher für mein Selbst, für mein Bewusstsein. Ich war am Leben, aber ohne Veränderung, ohne Bewegung.
Ich marschierte in die Ecke und hob die Lampe hoch. Sie war warm – wie ich es erwartet hatte. Eine warme Metapher. Ein Licht in der Dunkelheit, eine Wärmequelle in der Kälte, ein winziger Hoffnungsschimmer. Verrückt, wie das menschliche Gehirn in allem Symbole oder Bedeutungen erkennt.
Da war ich nun, gefangen in einem abgetrennten Bereich in meinem Gehirn, in der Hand die Metapher für etwas, das mir zumindest ein bisschen Hoffnung verlieh. Warum? Warum verlieh es mir Hoffnung?
Der Funke einer Idee, wie der Funke eines Streichholzes, packte mich.
Ich warf die Lampe auf den Holzboden. Sie zerbrach in tausend Stücke, das Petroleum spritzte in jeden Winkel und setzte alles in Brand. Ich würde mir den Weg nach draußen freibrennen.
Schon standen die Wände in Flammen, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Die trockene Holzverkleidung brannte wie Zunder.
Flammen tanzten über den Boden, wie ich es von ihnen erwartete.
Rotgoldene Zungen, heiß und hungrig, leckten an allem.
Ich spürte ihre Hitze, badete in ihrem Feuerschein und wartete darauf, dass die Wände verkohlten und einstürzten.
Doch die Wände blieben stehen.
Das Feuer kroch auf die Mitte des Raums zu. Zischend ging der Schaukelstuhl in Flammen auf und verbrannte innerhalb weniger Sekunden zu Asche. Jetzt umgab mich ein Ring aus Feuer, und die Hitze nahm zu.
Ich wollte hindurchgehen, doch ein heftiger Stoß heißen Rauchs drängte mich zurück. Mein Ärmel fing Feuer. Das ist nur eine Metapher, sagte ich mir, aber nein – der Stoff brannte und fiel herab, und dann brannte meine Haut, quälend, schwarz, Blasen werfend. Ich schrie und drückte den Arm gegen meinen Körper, um die Flammen zu ersticken.
Stehen bleiben, sich fallen lassen, über den Boden rollen, ging mir das Notfallmantra durch den Kopf. Völlig sinnlos! Sogar der Boden brannte.
Flammen züngelten an meinen Hosenbeinen hoch. Der Geruch nach brennendem Stoff, Haaren und Fleisch war überwältigend. Der Schmerz unerträglich. Das musste die Hölle sein, vor der Junkel uns gewarnt hatte.
»Einsame Seele!«, brüllte ich. »Lass mich raus! Rette mich!«
Durch die Flammen rannte ich zur Tür. Zwei schwarze Pfähle, die ich kaum als Arme erkannte, schlugen kraftlos dagegen. »Bitte! So hör mich doch!«
Oh Gott. Das war’s. Die Luft zu dick, zu rauchgeschwängert, um zu atmen. Ich schloss die Augen zum Gebet.
Die Tür bewegte sich, schwang auf, und da war sie: Einsame Seele, die Augen angstvoll aufgerissen, in den Armen ein großes Deckenbündel. Sie hielt es mir hin.
»Nimm ihn!«, brüllte sie. »Ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie.«
Ich griff nach dem Bündel. Es war schwer und weinte. »Annee, Annee«, schluchzte es.
Wie elektrisiert fing mein Herz wieder zu schlagen an. Ich spürte es. Ich hörte es. Ein glühend heißer Wind fuhr mir ins Gesicht, ich war mir meines ganzen Körpers bewusst. Mit meinen realen Händen drückte ich Sam ganz fest an mich.
Rauch waberte durch die offene Tür.
»Schnell! Verschwinde!« Einsame Seele drängte sich an mir vorbei und lief auf das Inferno in der Hütte zu. Im Rauch suchte sie nach ihrem Schaukelstuhl.
Ich riss sie am Arm zurück, zog trotz ihres Protests mit aller Kraft an ihr. »Du kannst da nicht mehr rein. Es ist alles weg.«
Während ich das sagte, stürzten die Deckenbalken ein. Funken stoben von den zerbrochenen Hölzern auf. Einsame Seele wehrte sich in meinen Armen, sie wollte zusammen mit ihrem Zufluchtsort, ihrem Gefängnis, vernichtet werden.
Aber das konnte ich nicht zulassen. »Komm mit mir. Sam braucht dich. Und ich brauche dich auch. Jetzt.«
Mit einem Angstschrei fiel sie gegen mich, schob mich durch die Tür und überließ mir die volle Kontrolle. Ich tastete blindlings nach ihrer Hand, aber sie war verschwunden.
Alles um mich herum drehte sich wie verrückt, und die brennende Hütte löste sich auf. Ich befand mich in Sams Zimmer, und der Flur davor war ein einziges Flammenmeer.
Die Erinnerungen von Einsame Seele strömten in meinen Kopf. Sie war bei Sammy und las ihm vor, war ganz verzückt und völlig bezaubert von ihm. Der Geruch von Holzrauch war ihr so vertraut, dass sie gar nicht merkte, was passierte – bis die Zimmerdecke im Wohnzimmer mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf den brennenden Weihnachtsbaum herabstürzte. Dieses Getöse schreckte Einsame Seele endlich auf. Sie öffnete die Zimmertür und sah eine Feuerhölle vor sich. Das ganze Haus brannte, toste, brach um uns zusammen.
Sammy wand sich in meinen Armen. Wir mussten hier raus. Das Badezimmer war nur knapp zwei Meter von seiner Zimmertür entfernt, es war meine einzige Hoffnung, wenn wir das Feuer lebend überstehen wollten. Von draußen war das Heulen von Sirenen zu hören. Doch sie waren noch ein ganzes Stück weit entfernt. Darauf konnten wir nicht warten.
»Du musst jetzt tapfer sein, kleiner Mann«, flüsterte ich Sam zu. Dann schlug ich wieder die Decke über ihn, legte einen Arm über meine Augen und Nase, holte ein letztes Mal Luft und lief durch die Flammen zur geschlossenen Badezimmertür. Die Türklinke verbrannte mir die Finger. Ich sprang ins Bad und drehte die Dusche bis zum Anschlag auf. Eiskaltes Wasser strömte auf uns herab, und innerhalb weniger Sekunden waren wir von Kopf bis Fuß durchnässt. Der Schock ließ Sam aufheulen.
Ich hielt zwei große Handtücher unter den Strahl, bis sie klatschnass waren, dann wickelte ich Sam in diesen nassen Kokon. Mir selbst legte ich ein kleineres Handtuch über Nase und Mund. Seine Decke hing wie ein Schleier über meinem Kopf und meinem Oberkörper. Draußen vor der Tür krachte es. Das ganze Dach stürzte ein.
Es widerstrebte mir, unseren feuchten, gefliesten Schutzraum zu verlassen, doch wir mussten es tun, sonst würden wir unter den brennenden Balken begraben werden. Sam strampelte und wand sich in seiner Hülle. Ich drückte ihn fest an mich und murmelte ihm in besänftigendem Ton sinnlose Worte zu, wobei ich mein Gesicht gegen die harte Ausbuchtung in den Handtüchern presste, die sein Kopf war. »Wir schaffen das«, sagte ich. »Jetzt!«
Ich riss die Tür auf, wobei ich mir die andere Hand verbrannte. Wie es am Ende des Flurs aussah, war nicht zu erkennen, aber das spielte auch keine Rolle, denn ich wusste, um nach draußen zu gelangen, mussten wir es durch den Flur bis zur Haustür schaffen. Wenn das Wohnzimmer den Flammen bereits zum Opfer gefallen war, dann bestimmt auch die Küche und die Garage.
Den Rest bekam ich kaum noch mit: Ich rannte, fühlte, brannte, und schützte Sams Kokon so gut ich konnte mit meinem Körper – bis ich Fliesen unter meinen Füßen spürte und die große glühend heiße Messingklinke der Haustür in meiner Hand. Dann lief ich in den Vorgarten, blieb stehen, warf mich auf den Boden und rollte mit Sam über den Rasen.
Ein Feuerwehrmann fluchte laut, und eine erstickend schwere Decke fiel auf uns herab, zusammen mit einigen Körpern.
»Sie brennen nicht mehr«, hörte ich jemanden sagen. Mit dem letzten Fünkchen meines Verstands zog ich die dicken Handtücher von Sams Gesicht.
Er schaute mich böse an, holte tief Luft und tat seinen Unmut kund. »Nich, Annee! Nich baden.«
Gott sei Dank.
Der brennende Schmerz, den ich bisher von mir ferngehalten hatte, überschwemmte jetzt jeden einzelnen Nerv meiner versengten Haut. Und dann verlor ich endgültig das Bewusstsein.