Kapitel 12 Rufmord
»Schatz, Schatz. Angie. Beruhige dich. Es ist alles in Ordnung.« Mom streichelte Angie durch ein flauschiges blaues Handtuch hindurch. »Es ist nur ein ganz blöder Zeitpunkt, das ist alles. Willkommen im Leben einer Frau.«
Als das letzte bisschen Wasser im Abfluss verschwand, zitterte Angie noch immer. Sie hatte das furchtbare Gefühl, dass noch mehr als nur ihr Körper herangereift war. Die Blutung war irgendeine Botschaft, eine Abschiedsbotschaft von Engel. Gemeinsam hatten sie in Blut gebadet. Angies Herz klopfte heftig, es reagierte noch immer auf den Adrenalinschub.
»Ich muss mit Dr. Grant sprechen.« Vielleicht konnte die Psychologin ihr dabei helfen, zu verstehen, was gerade passiert war. Was immer es auch war, es hatte nichts Gutes zu bedeuten. Da war sie sich absolut sicher.
»Ist das denn wirklich nötig?«, fragte Mom. »Wir haben sie noch nie an einem Tag behelligt, an dem du keinen Termin hattest.«
»Wenn man bedenkt, wie viel ihr Dr. Grant zahlt, würde ich es nicht behelligen nennen«, zischte Angie. »Sie hat gesagt, sie wäre für mich da, wenn ich Nachwirkungen spüre. Und jetzt spüre ich welche.«
»Schon gut. Natürlich.« Mom zögerte. »Ist es etwas, worüber du mit mir sprechen kannst?«
»Auf keinen Fall, Mom.« Sie würde ihrer Mutter doch nicht ihre schlimmsten Vermutungen mitteilen.
In der Hand die Minibinde, die Mom ihr wortlos gegeben hatte, zog Angie sich in ihr Zimmer zurück. Als sie angezogen wieder herauskam, telefonierte ihre Mutter gerade im Schlafzimmer.
»Nein, tut mir leid«, sagte sie. Als sie merkte, dass Angie zur Tür hereinschaute, legte sie einen Finger auf die Lippen. »Nein. Kein Kommentar … Wir werden heute keine öffentliche Erklärung abgeben … Ja, das stimmt. Am 18. September … Wie würden Sie sich denn fühlen? … Weil wir unsere Ruhe haben wollten. Und das ist noch immer so. Bitte rufen Sie nicht wieder an.«
Sie knallte das Telefon auf den Nachttisch. »Verdammte Reporter.«
»Was ist denn?«
Mom fuhr sich mit den Händen durch ihre Locken. »Ach, diese ganzen Fragen. Das ist heute schon der dritte Anruf.«
Angies Herz raste. »Was fragen sie denn?«
»Verrücktes Zeug«, erwiderte Mom. »Einfach lächerlich. Das willst du gar nicht wissen.«
»Doch, will ich. Heute nach der Schule musste ich sie richtiggehend abhängen. Ich will vorbereitet sein.«
Mom schnaubte ungeduldig. »Das Einzige, was du zu ihnen sagen musst, ist: ›Kein Kommentar‹.«
»Mom. Jetzt sag schon.«
Mom ließ sich in einen Sessel fallen und rieb sich heftig über die Wangenknochen. Ihre Finger hinterließen rote Streifen. »Sie wollen wissen, warum wir sie nicht früher kontaktiert haben. Warum das ›vermisste Mädchen‹ schon seit zwei Monaten wieder da ist und wir es der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt haben. Sie wollen wissen, ob wir etwas zu verbergen haben.«
Angies Herz schien für einen Moment auszusetzen. »Was denn, zum Beispiel?« Kurzzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, doch sie ließ sich nicht wegdrängen, keiner der Anderen würde jetzt ihren Platz einnehmen. Sie musste selbst damit fertigwerden. Doch sie bekam das Bild nicht aus dem Kopf: Engels Hände, von denen das Blut tropfte.
Aus dem Wohnzimmer waren aufgeregte Stimmen zu hören.
Zusammen mit Mom lief sie nach unten. Der Raum war voller Polizisten. Warum waren die immer noch hier? Brogan telefonierte mit seinem Handy, und Dad zog die Vorhänge vors Fenster. »Ü-Wagen«, sagte er. »In unserer Straße.«
»Wie absurd«, sagte Mom. »Phil, können Sie die wegschicken?«
Es läutete an der Tür. Einer der Polizeibeamten ging hin.
»Sieh zu, dass du diese verdammten Reporter loswirst, ja?«, rief Brogan ihm hinterher. Er versenkte eine Hand in seiner Jacketttasche. »Wir haben das Forensik-Team der L.A.-Rechtsmedizin um Hilfe gebeten. Sie werden alles genau unter die Lupe nehmen – die Hütte, das Grundstück – und nach Gräbern suchen.«
»Nach Gräbern!« Mom stieß einen kleinen Schrei aus.
Brogan richtete den Blick auf Angie, einen traurigen Zug um den Mund. »Angie ist es entgegen aller Wahrscheinlichkeit gelungen, zu entkommen. Wie auch immer. Das ist Ihnen doch klar.«
Angie gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken. Genau. Wie auch immer. Ein überaus eigenartiges Gefühl ergriff von ihr Besitz, und sie wich Brogans mitleidigem Blick aus, weil sie ihn nicht ertragen konnte.
Brogan verstand das falsch und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es tut mir wirklich leid, Angie. Kannst du uns vielleicht nicht doch noch irgendetwas Hilfreiches sagen, bevor der Bericht da ist? Wenn du dich dazu in der Lage fühlst, würde ich dich gern zur Hütte bringen, sobald das Forensik-Team dort fertig ist. Ich will feststellen, ob der Ort Erinnerungen in dir weckt. Oder deine inneren Informanten zu weiteren Geständnissen bewegt. Wir können alles brauchen, was dabei hilft, diesen Kerl aufzuspüren.«
Obwohl sie weiche Knie hatte und nur wegrennen wollte, versuchte Angie nonchalant mit den Achseln zu zucken. »Ich überleg’s mir. Aber ich glaube nicht, dass es was nützen würde. Ich erinnere mich an nichts.« Wörtlich genommen stimmte das. Sie erinnerte sich an nichts. Engel allerdings schon. Engel, mit dem Blut an den Händen. Engel, der darum bat, ausgelöscht zu werden, bevor seine Erinnerungen die unschuldige Angie vergiften konnten. Oh Gott. Sie würde dieses Bild nie mehr loswerden, selbst wenn sie Engel vernichten würde.
Sie wischte sich die Hände hinten an der Jeans ab.
Brogans Augen verengten sich ein wenig. »Na schön. Gut. Wir sprechen uns dann noch mal.«
»Wie gehe ich mit der Presse um?«, fragte Angie. »Heute Nachmittag hatten sie die Schule umstellt. Nun sind sie in unserem Vorgarten. Sie werden mir überallhin folgen, oder?«
»Sag ihnen gar nichts«, riet ihr Brogan. »Ruf mich an, wenn es nötig ist.« Damit ging er und nahm allen Sauerstoff im Raum mit sich.
Greg und Livvie hatten zum Generalangriff auf Angie geblasen. Der Anruf bei der Presse war nur ein erster Schuss vor den Bug gewesen. Es war der Auftakt zu einer schrecklichen Woche. Ihre Telefonnummer prangte jetzt in allen Toiletten an der Wand, bei den Jungs und den Mädchen. Es gab plastische Beschreibungen, was sie mit Jungs, Mädchen und Tieren tun oder nicht tun würde. Und dazu aberwitzige Behauptungen, was sie anmachte – allesamt erfunden, allesamt widerwärtig.
Angie gewöhnte sich an, eine kleine Spraydose mit roter Farbe mit sich herumzutragen, um diese Gemeinheiten zu übersprühen – und auch die vulgären Zeichnungen, die das Ganze oft ergänzten. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte in der Schule mehr Freundschaften geschlossen und damit mehr Leute auf ihre Seite gebracht, die sie nun verteidigen oder erkennen würden, dass diese Aktionen Rufmord waren. Doch indem sie selbst nichts von sich preisgegeben hatte, hatte sie Greg und Livvie quasi einen Freifahrtschein ausgestellt, ihren Charakter in den glühendsten Farben zu schildern.
Ihre Freundschaft zu Kate der Aussätzigen war da auch nicht gerade förderlich, doch die würde sie ganz bestimmt nicht aufgeben. Denn Kate war eine unglaubliche Stütze.
»Hast du das neueste Bild im Treppenhaus gesehen?«, fragte Angie leise und zog ihre Haare wieder und wieder durch die Handflächen. Ihr Essenstablett stand unberührt da, wie schon die ganze letzte Woche – seit die Hütte entdeckt worden war.
Kate verdrehte die Augen. »Das ist doch rein körperlich gar nicht möglich«, sagte sie. »Nicht mal für eine Artistin.«
Angie stöhnte.
»Irgendwann ist es vorbei«, versicherte ihr Kate. »Bei mir war es jedenfalls so. Im schlimmsten Fall streichen sie in den Sommerferien alles neu. Bei deinem ganzen Gesprühe sieht die Schule allmählich aus, als hätte sie Windpocken.«
»Was ich nicht kapiere, ist, warum Liv da mitmacht. Ich meine, klar, ich verstehe schon, wieso Greg sauer ist. Aber wieso verleumdet sie mich auch? Sie hat doch gewonnen. Sie hat Greg bekommen. Und außerdem … Wir waren immerhin mal Freundinnen.«
»Das ist ihre einzige Möglichkeit, damit klarzukommen, dass sie Greg zurückgenommen hat, und sich dabei nicht zu fühlen, als ob sie deine ausrangierten Klamotten trägt. Auf diese Weise verdreht sie die Tatsache, dass du ihn abserviert hast, und macht daraus, dass er dich abserviert hat, weil du Abschaum bist. Sorry – aber das sind ihre Worte.«
»Das ist doch armselig. Wann hört das endlich auf?«
»Jetzt komm, entspann dich mal«, riet ihr Kate. »Schon in ein paar Stunden beginnen die Thanksgiving-Ferien. Das wird ihnen den Schwung nehmen.«
»Das bezweifle ich«, entgegnete Angie. »Sie werden sich mit Truthahn und Kürbiskuchen vollstopfen und danach genauso fies weitermachen.«
Überhaupt, dieses dämliche Thanksgiving. Dr. Grant war bereits weggefahren, um ihre Schwester zu besuchen. Angie hatte sie eindringlich gebeten, Engel sofort zu löschen, doch Dr. Grant hatte ihr gesagt, dass erst am Montag nach den Ferien eine weitere Sitzung möglich war – früher stünden die Geräte einfach nicht zur Verfügung. Also saß Angie weiter auf heißen Kohlen. Und Brogan konnte sich jeden Moment eine Geschichte zusammenreimen, ob sie nun wahr oder falsch war.
Und so würde sie vermutlich aussehen: Ohne jeden Zweifel hatte Angie in der Hütte gelebt, überall waren Haare und Fasern von ihr. Und sie hatte ein provisorisches Messer von dort mitgebracht. Dann würde man eine Leiche mit durchschnittener Kehle oder aufgeschnittenen Pulsadern oder Messerstichen im Körper oder mit einer anderen tödlichen Verletzung finden, die man jemandem mit einem spitzen, scharfen Gegenstand zufügen konnte. Ganz genau wusste das nur Engel. Als Nächstes würden die DNA-Spuren vorliegen und eine Verbindung zwischen dem Mann und der Hütte nachweisen – und eine von Angie zu dem Mann. Das alles zusammen würde ein sehr stimmiges Gesamtbild ergeben, das nahelegte, dass Angie ihren Kidnapper getötet hatte (denn wer sollte es ihr verdenken?) und sie die Amnesie und die DIS nur vortäuschte, um dem zu entgehen, was üblicherweise mit jugendlichen Mördern geschah. Sie würden sie einem Lügendetektortest unterziehen. Sie würden sie hypnotisieren und Engels Geständnis erzwingen.
Das würde dann todsicher an die Öffentlichkeit dringen. Und selbst wenn Engels Tat als Notwehr, gerechtfertigte Tötung oder etwas Ähnliches eingestuft werden würde, sie wäre für immer stigmatisiert. Dann war Angies Leben so gut wie vorbei.
Schon bald würde alles in sich zusammenstürzen. Sie spürte förmlich, wie das Unheil seinen Lauf nahm.
Kate schnippte mit den Fingern vor Angies Gesicht. »He, du. Krieg dich ein. Du versinkst schon wieder im Selbstmitleid.«
»Das ist kein Selbstmitleid«, entgegnete Angie. »Ich blicke nur der Wahrheit ins Auge.«
»Die Jungs wollen heute Abend mit uns zusammen ausgehen, aber wenn du dich weiterhin so benimmst, als würdest du im Morgengrauen gehängt, nehme ich dich nicht mit. Sondern eine deiner anderen Persönlichkeiten. Mit welcher von ihnen kann man am meisten anfangen?«
»Das hängt davon ab, was dir Spaß macht«, antwortete Angie. »Wenn du mit Puppen spielen oder dich verkleiden willst, empfehle ich dir Petze. Sie ist sechs. Wenn du eher auf furchtbare Rache mit einem flammenden Schwert stehst, dann schicke ich dir Engel. Er ist allerdings ein Mann, also vielleicht nicht ganz das Richtige für Abraim. Und wenn dich das Kochen auf einem gusseisernen Herd reizt, dann ist Pfadfinderin dein Mädchen.«
»Ach, was soll’s«, sagte Kate. »Wir nehmen Angie. Sie sollte bloß bessere Laune haben.«
»Okay. Ich bemüh mich«, sagte Angie finster.
Doch was sie an diesem Nachmittag zu Hause erfuhr, hellte ihre Stimmung nicht gerade auf. Im Gegenteil. Ihre Eltern hatten Grandma und Junkel Bill zu Thanksgiving eingeladen.
»Mom, können wir nicht zu dritt feiern, nur die Kernfamilie?«, bettelte Angie. »Ich meine, es ist doch das erste Thanksgiving seit Langem, das ich mit euch verbringe. Können wir es nicht einfach nur unter uns genießen?«
»Es ist auch Grandmas erstes Thanksgiving ohne Grampy«, erinnerte sie Mom. »Sie braucht uns.«
»Kann Dad sie nicht abholen? Oder sie kommt mit dem Bus?«
»Angela Gracie, was ist denn in dich gefahren?«, fragte Mom. »Natürlich wird Junkel sie herbringen.«
»Aber …« Angie verstummte. Sie fand nicht die richtigen Worte, jedenfalls keine angemessenen, um auszudrücken, wie sehr sie sich vor einer weiteren Begegnung mit Junkel fürchtete. Der einzige Trost war, dass sie diesmal vorbereitet war. Er würde sie auf keinen Fall allein zu fassen kriegen. Dafür würde sie sorgen.
Um acht Uhr abends tauchte das Auto der Zwillinge in der Auffahrt auf. Angie fragte sich, wie sie entschieden, wer von ihnen beiden am Steuer saß.
»Ali ist sechsundzwanzig Minuten älter«, erklärte ihr Abraim. »Also nimmt er für sich das Recht des Erstgeborenen in Anspruch. Doch wenn ich mir als Erster die Schlüssel schnappe« – er ließ sie vor Angies Gesicht baumeln –, »gebe ich sie nicht mehr her.«
Ali und Kate saßen eng aneinandergeschmiegt in der Mitte des Rücksitzes. Wie es aussah, schien Ali nichts dagegen zu haben, chauffiert zu werden. Angie ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten und drehte den Kopf, um Hallo zu sagen.
»Sind wir guter Laune?«, fragte Kate.
»Wir arbeiten daran«, sagte Angie mit gezwungenem Lächeln.
Abraim legte ihr die Hand auf die Schulter. Mit überraschend gerader Tenorstimme imitierte er Mick Jagger: »Angie, Angie, when will those clouds all disppear?«
Angie wurde rot und musste kichern. »Oh, bitte. Das ist doch ein trauriges Lied, oder?«
»Das hängt ganz davon ab, wie man es betrachtet. Natürlich ist es auf eine Art schwermütig, aber denk doch mal an den Refrain.« Er beugte sich zu ihr und schmachtete »Ain’t it good to be aliiiiiiiive« in ihr Ohr.
»Tja, es ist zweifellos besser als die Alternative«, sagte Angie trocken.
Zerknirscht ließ sich Abraim zurück in seinen Sitz fallen. »Bitte entschuldige.«
»Was denn? Ach was.« Sie boxte ihn sanft gegen den Arm. »Keine Sorge. Wie hat schon Wie-heißt-er-noch-mal gesagt: ›Die Gerüchte über meinen Tod sind reichlich übertrieben‹.«
»Ich glaube, das war Mark Twain«, antwortete Ali vom Rücksitz aus.
Abraim sah noch immer so aus, als würde er sich für seine dämliche Bemerkung am liebsten ohrfeigen.
Endlich war es mal umgekehrt, und Angie musste jemanden aufmuntern, was sie dazu zwang, auch selbst alles positiver zu sehen. Und dadurch fühlte sie sich gleich viel besser.
Sie mogelten sich in einen Film ab achtzehn, nun ja, die Jungs mussten sich nicht reinmogeln, nur Kate und Angie … Wie durch ein Wunder hatte sich Angie mittlerweile an ihr tatsächliches Alter gewöhnt. Keine Ahnung, ob das nun an Dr. Grants kostspieliger oder Kates kostenloser Therapie lag. Deshalb war es ihr auch nicht peinlich, einen erotisch angehauchten Spionagethriller mit einem männlichen Helden anzuschauen. Tatsächlich freute sie sich sogar darauf. Abraim war unheimlich nett, für einen ersten echten Freund schlug er wahrscheinlich genau das richtige Tempo an. Und wenn die Sache nicht funktionierte, war es auch okay, er würde ja bald aufs College gehen.
So kurz nach dem Abendessen hatte Angie überhaupt keinen Hunger, doch sie teilte sich bereitwillig das Popcorn mit Abraim – so stießen immer mal wieder ihre Hände im Dunkeln zusammen. Neben ihr verpasste Kate den ganzen Film, weil sie in einen Kussmarathon mit Ali versunken war. Als das Popcorn alle war, verstaute Abraim die Tüte und zog Angie an seine Schulter. Einen Moment lang kuschelte sie sich zufrieden an ihn, dann dachte sie unvermittelt an das letzte Mal, als sie sich so an Abraim geschmiegt hatte: direkt nachdem Schlampe ihre Stripteasenummer abgezogen hatte. Hilfe! Angie errötete im Dunkeln. Was dachte er bloß von ihr? Ihm deutlich zu machen, dass sie »nicht diese Art von Mädchen war«, würde nur weitere Erklärungen nach sich ziehen. Es war wohl besser, sie erwähnte es gar nicht mehr, es sei denn, er tat es.
Nach dem Film gingen sie Eis essen, und als sie Angie schließlich zu Hause absetzten, war es fast Mitternacht. Abraim brachte sie noch zur Tür und blieb stehen, während sie unter der Fußmatte nach dem Schlüssel tastete. »Es war ein schöner Abend«, sagte sie und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Das fand ich auch.« Er gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und senkte dann die Augen. »Schön, dass du mit mir ausgegangen bist. Du hast leider den langsamen, schüchternen Bruder erwischt, aber ich hoffe, es ist trotzdem okay für dich.« Er warf einen Blick zum Auto, wo Ali und Kate schon wieder knutschten. Der arme Abraim würde den Chauffeur spielen und dabei krampfhaft am Rückspiegel vorbeischauen müssen.
Angie legte ihm die Hand auf den Arm. »Nein. Überhaupt nicht. Du bist genau richtig für mich.«
Die leichte Anspannung in seinen Schultern löste sich. »Oh, das freut mich. Das mit neulich … Also, ich habe mich gefragt … Ich hoffe, ich habe dich nicht enttäuscht.«
Mist. Jetzt fing er also doch davon an. »Das war nicht ich«, sagte Angie. »Es war quasi ein anderes Mädchen. Und du wusstest genau, was wir beide brauchten. Nur eine lange Umarmung. Deshalb bin ich froh, dass du der langsame, schüchterne Bruder bist.« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn ebenfalls auf die Wange. Er roch frisch und gleichzeitig würzig.
Selbst als sie schon lange oben in ihrem Zimmer war, musste sie noch über seinen verwirrten und erstaunten Gesichtsausdruck schmunzeln. Sie hatte ein völlig normales Date hingekriegt, ohne Blackouts, ohne Erinnerungslücken. Ein kleiner Sieg.
Sie gönnte sich das Vergnügen auszuschlafen. Und als sie endlich unter der warmen Decke hervorgekrochen war, heiß geduscht hatte und runter in die Küche kam, hatte Mom bereits den gefüllten Truthahn in den Ofen geschoben und einen Apfelkuchen zum Auskühlen auf die Arbeitsplatte gestellt. Angie spähte aus dem Fenster und stellte zufrieden fest, dass Journalisten an Thanksgiving offenbar ihre eigenen Familienverpflichtungen hatten. Es waren weder Ü-Wagen noch herumlungernde Reporter zu sehen. Alle verfolgten wohl die Paraden und Footballspiele im Fernsehen.
»Kann ich helfen, Mom?«, fragte sie. »Was machst du als Nächstes?«
»Die Füllung. Ich bereite sie immer extra zu«, erwiderte Mom. »Weißt du, manche braten sie im Ofen im Truthahn mit, so wird sie saftig; andere mögen sie lieber separat gebacken, dadurch wird sie knusprig. Und dann mache ich noch einen Cranberrycrumble.«
Angie schnappte sich die Packung und las die Anleitung auf der Rückseite: Tonnenweise Butter schmelzen. Kleine Zwiebelstückchen und Stangensellerie kurz anbraten, beides zu den gewürzten Croutons geben und Brühe hinzufügen, damit das Ganze schön sämig wird. »Ist doch total einfach«, sagte sie. »Die Füllung übernehme ich.«
»Prima, Angie«, sagte Mom. »Ich habe es ja schon immer gesagt: Wenn man lesen kann, kann man auch kochen. Aber … früher hast du dich immer gesträubt, es mal auszuprobieren.«
Ihr Blick verriet ihre Nervosität, doch Angie winkte ab. »Stimmt. Genauso war’s. Doch inzwischen habe ich jede Menge dazugelernt. Ein ungeahnter Nutzen einer Entführung, oder? Ich nehme nicht an, dass es sonst noch viele gibt.«
»Äh, nein.« Mom gab einen gequälten Laut von sich. »Und wie sieht es mit einem Obstsalat aus?«
»Zeig mir die Früchte, und ich erledige auch das.«
Mom deutete auf die Auswahl an Dosenfrüchten im Regal – Pfirsiche, Birnen und Aprikosen –, die Bananen im Obstkorb sowie zwei grüne Äpfel. »Ein Schneidebrett ist in der Schublade, und das Schälmesser liegt direkt neben dir.«
Angie fand den Dosenöffner und fing an, das Obst in Würfeln und Schnitzen in eine große Schüssel zu schneiden. Sie hörte das Läuten nicht einmal. Das Nächste, was sie mitbekam, war, dass ein großer kräftiger Jemand hinter ihr stand. Junkel. Sie erkannte seinen Geruch. Er hatte die Hände an ihrer Taille. Direkt neben ihr gab Grandma Mom einen Kuss, wobei sie achtgab, ihre Festtagskleidung nicht mit Mehl zu ruinieren.
»Es riecht wunderbar, Margie«, sagte Junkel Bill, drückte die Nase dabei aber in Angies Haare. »Hey, Angie, Baby, dreh dich um und sag Hallo.«
Angies Haut prickelte – nicht aufgrund ihrer eigenen, sondern wegen Petzes Erinnerungen, die an die Oberfläche drängten. Sie unterdrückte sie mit aller Macht. Sie würde sich selbst darum kümmern.
»Du bedrängst eine Frau mit einem scharfen Messer«, warnte sie Junkel in spielerischem Ton. »Keine gute Idee.«
Er schmunzelte und wich zurück.
Grandma sah ihn tadelnd an. »Bill, mein Lieber, hör auf, die Leute zu belästigen, und verschwinde aus der Küche. Hier sind zwei hart arbeitende Frauen am Werk. Guck dir mit Mitch das Spiel an. Ich höre das Jubelgeschrei im Wohnzimmer.«
»Ja, Ma’am«, sagte Bill mit einem leichten Grinsen. »Ich belästige Angie dann später.«
Bildete sie sich das nur ein, oder war das eine verschlüsselte Botschaft? Verdammter Mistkerl, dass er vor den anderen so eine Show abzog. Hatte er sie schon immer derart bedrängt? Sie erinnerte sich nicht mehr gut genug, um das sagen zu können.
Angie schüttelte das widerwärtige Gefühl ab, das Bills Hände auf ihrer Taille hinterlassen hatten. Sie konnte damit fertigwerden. Sie würde damit fertigwerden. Im Stillen sandte sie eine Botschaft an Petze und hoffte, sie würde sie auch empfangen. Du musst heute nicht zum Vorschein kommen. Ich werde nicht zulassen, dass etwas Schlimmes geschieht.
Sie blieb mit Mom und Grandma in der Küche, deckte mit dem besten Porzellan und den Kristallgläsern den Tisch, stellte eine Ladung Wäsche an – tat einfach alles, um nicht in Kontakt mit Bill zu kommen, bevor es unvermeidlich war.
Beim Essen fiel offenbar keinem etwas auf. War es wirklich schon immer so gewesen? Junkel starrte sie die ganze Zeit über an, und niemand schien Notiz davon zu nehmen. Sie hatte solches Mitleid mit Petze: Wie einsam musste sie sich gefühlt haben, wie verängstigt. Es war so unfair gewesen.
Angie stocherte in dem Festmahl auf ihrem Teller herum und zwang sich dazu, genug zu essen, damit sie keine Aufmerksamkeit erregte. Als Bill schließlich verkündete, dass er keinen weiteren Bissen hinunterbekäme, bot Grandma an, den Abwasch zu machen.
»Sei nicht albern, Ma«, protestierte Mom. »Angie und ich erledigen das.«
Bill kam ihnen nach. »Würde es schneller gehen, wenn ich auch beim Abtrocknen helfe?«
Mom lächelte breit. »Natürlich würde es das. Mach ruhig mit.« Sie warf ihm ein Küchenhandtuch zu. »Ist das nicht nett, Angie? Es gibt nicht viele Männer, die freiwillig beim Abwasch helfen.«
»Nein, gibt es nicht«, bestätigte Angie. Verdammt. Er war wirklich hartnäckig.
»Die Frauen werden sich die Finger nach ihm lecken«, sagte Mom schmunzelnd.
Angie kam ein kleines bisschen vom Essen hoch. Sie schluckte es wieder runter.
Bill schnaubte. »Angie ist mein Mädchen. Das weißt du doch, Margie.«
Wie üblich war Mom geschmeichelt und schlug scherzhaft mit dem Küchenhandtuch nach ihm.
Mit finsterem Blick schaute Angie auf das Spülwasser. Er konnte die anderen wirklich wunderbar einwickeln, es war zum Verrücktwerden. Wahrscheinlich hatte er das schon immer gekonnt. Die Porzellanteller klirrten im Wasser aneinander.
»Sei vorsichtig mit dem Geschirr, Angie«, warnte Mom. »Würdest du lieber abtrocknen und wegräumen?«
Nein, sie würde lieber jeden Blickkontakt zu Bill vermeiden. Und wenn sie das kostbare Porzellan abwusch, war das die perfekte Entschuldigung, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie zog die seifigen Teller durch den dünnen Strahl heißen Wassers und stellte sie in das Abtropfgestell. Abwechselnd griffen Mom und Bill nach den Tellern.
»Und, wie läuft’s in der Schule?«, fragte Bill mit völlig normaler Stimme.
»Gut«, murmelte sie.
»Gut? Das ist alles?«
»Teenager.« Angie stellte sich den Blick vor, den er Mom zuwarf, als er das sagte. In seinem Ton war ein Achselzucken zu hören.
»Angie hat einen Freund«, verkündete Mom mit Singsangstimme.
Angie hörte, wie Junkel Luft holte. Leise und bedrohlich. Doch seine nächste Frage klang ganz unschuldig. »Angie! Ist das wahr? Warum hast du mir das nicht erzählt? Ich dachte, dein Herz gehört nur mir allein.« In seiner Stimme schwang vorgetäuschter Kummer mit.
»Tja, sie ist ein bisschen schüchtern, was das Thema betrifft«, erklärte Mom, wodurch die Situation noch angespannter wurde. »Außer auf den Herbstball sind sie bisher nur einmal zusammen ausgegangen. Er heißt Abraim.« Sie sprach seinen Namen so fremdländisch wie möglich aus, mit einem rollenden R und gedehnten Silben. »Ein gutaussehender Junge. Angie hat mir erzählt, dass er sehr intelligent ist und sich unter anderem in Harvard bewirbt.«
Der Stolz in ihrer Stimme weckte in Angie den Wunsch, »Sei still, Mom. Sei einfach still!« zu schreien. Der nicht gerade hochgebildete Bill wollte bestimmt nichts über Angies schlauen Freund hören. Aber natürlich schrie sie nicht. Sie wusch nur weiter die langstieligen Weingläser ab.
Mom hob den Stapel mit den Ess- und Brottellern hoch. »Ich räume die mal weg«, sagte sie und ging in Richtung Esszimmer.
Sobald sie zur Tür heraus war, drückte sich Bill an Angies Rücken, presste sie gegen den Rand des Spülbeckens und fasste mit den Händen unter ihre Brüste. Sie erstarrte.
»Einen Freund, was?«, flüsterte er an ihrer Schläfe.
Angie spürte den inneren Druck, der sich aufbaute. Einen Anflug von Panik. Eine leise Stimme sagte Versteck dich.
»Nein«, sagte sie laut zu Petze. Und in ihrem Kopf sagte sie: Ich werde nicht weggehen. Das hat hier und jetzt ein Ende.
Bill hörte nur das »Nein« und liebkoste ihren Nacken. Seine Hände bewegten sich nach oben und drückten zu. »Hat er dich hier angefasst?«
Das verzweifelte Gefühl in ihrem Kopf wuchs. Geh. Geh jetzt! Schnell.
»Nein!«, sagte sie zu Petze. Und »Hör auf!« zu Bill.
Mom kam nur ein paar Sekunden zu spät zurück in die Küche. Bill war bereits wieder dabei, in aller Unschuld das Besteck abzutrocknen. Jetzt, wo er seine Hände weggenommen hatte, kribbelte Angies Körper auf eine Art, die sie verachtete. Grässlich. Während ihr Verstand mit aller Kraft Widerstand leistete, hatte er ihren Körper darauf abgerichtet, auf ihn zu reagieren.
Angie tauchte die bloßen Hände ins Spülwasser. Auf ihren Armen zeigten sich rote Flecken, sie sahen wie Brandwunden aus, die von Fettspritzern herrührten. Angie betastete sie vorsichtig, spürte aber nichts.
Mom klemmte sich die vier Stiele der Kristallgläser zwischen die Finger. Die Kelche stießen mit einem sanften Ping aneinander. Dann ging sie zurück zum Porzellanschrank im Esszimmer. »Erledigt ihr beide den Rest!«, rief sie über die Schulter hinweg.
Und schon war Bill wieder bei ihr, hob ihre Haare am Nacken hoch und drückte ihr einen Kuss hinters Ohr. »Sobald es geht, schleichen wir uns raus«, versprach er.
Angie erschauerte. Mit der Fleischgabel in der Hand fuhr sie herum. »Nein, das werden wir nicht«, sagte sie. »Nie mehr. Lass deine verdammten Finger von ihr.« Sie wedelte mit den spitzen Zinken vor seiner Nase.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. Er hob einen Finger an die Lippen, und seine Augen schossen zur Esszimmertür.
»Sie macht nicht mehr mit«, sagte Angie. Ihre Stimme klang tief und fremd.
»Ach, komm schon, Angie, Baby. Treib keine Spielchen mit mir. Das letzte Mal warst du doch total scharf auf mich. Oh ja, Babe.« Er packte ihre Schultern und vollführte einen kurzen Hüfttanz. »Dein kleiner Freund muss ja nicht wissen, dass du einen richtigen Mann hast.«
Angie spürte es jetzt deutlich. Unsichtbare Schwingen breiteten sich auf ihrem Rücken aus. Sie versuchte mit aller Macht die Kontrolle zu behalten, doch weil die Bedrohung immer größer wurde, war Engel alarmiert und wütend.
»Möchte jemand Kaffee zum Apfelkuchen?«, tönte Moms Stimme aus dem Wohnzimmer. »Mitch? Ma? Ich setze mal welchen auf. Wer lag nach der Halbzeit vorn?«
Angie lauschte dem Gespräch.
Aus dem angrenzenden Zimmer waren quälend normale Geräusche zu hören – Dad, der seine Mannschaft anfeuerte, Grandma, die um entkoffeinierten Kaffee bat, falls es nicht zu viele Umstände machte.
Angies Gehör war übernatürlich verstärkt, ihr Bewusstsein entfernte sich aus der Küche und zersplitterte. Ein Teil von ihr war das kleine Mädchen, das sich vor dem Mann fürchtete, der ihr geliebter Junkel war. Ich tue alles, nur bitte verbrenn mich nicht, dachte es. Ein Teil von ihr hatte weiße rauschende Flügel und hielt ein Schwert in der Hand. Und ein weiterer Teil von ihr stand daneben, sah zu und fragte sich, was seine Rolle sein sollte.
»Schon besser«, seufzte Junkel. »Das ist mein Mädchen. Das ist mein hübsches Mädchen. Du willst es doch.«
Angie kehrte in ihren Körper zurück und stellte fest, dass sie mit den Händen unter sein Hemd geschlüpft war. Sie nahm eine Handvoll Brusthaare zwischen ihre Finger und riss daran. »Ja, wie verrückt!«, schrie sie.
»Verdammt«, grunzte Bill. Er hob die Faust.
Moms Stimme drang aus der Ferne herüber. »Angie? Ist alles in Ordnung?«
Angie hob schützend die Arme vors Gesicht. Junkel packte ihre Handgelenke und drückte so fest zu, dass ihre Hände taub wurden. »Wehe … du … sagst … ein … Wort.« Sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, und sein Speichel lief ihr über die Wangen.
Wieder brach die tiefe Stimme von Engel hervor: »Ich werde das nicht zulassen.«
»Was?« Bill sah völlig verwirrt aus. Sein Zögern war eindeutig ein Fehler.
Engel wand seinen rechten Arm aus Bills Griff und ließ seinen Ellbogen auf Bills Hand niedersausen, die Angies Linke gepackt hielt. Junkel ließ los und schüttelte seinen malträtierten Arm, doch Engel packte seine Finger und bog sie nach hinten, bis ein knackendes Geräusch zu hören war.
Ungläubig starrte Bill auf seine Hand. »Was soll das, du Miststück!«, keuchte er laut genug, dass es auch nebenan zu hören war.
Er holte aus, um sie mit geballter Faust zu schlagen, doch Engel führte Angies Hand, die nach der Fleischgabel griff und sie tief in Bills Unterarm rammte. Sie spürte, wie die spitzen Zinken auf den Knochen trafen, und ein krankes Triumphgefühl erfüllte sie.
Bills Gebrüll scheuchte die anderen aus dem Wohnzimmer in die Küche. »Guckt, was sie getan hat! Guckt, was sie mir angetan hat!«, schrie er. »Sie ist völlig durchgeknallt!«
Ihre Eltern blieben wie angewurzelt stehen, als sie sich mit dem Fremden in ihrer Tochter konfrontiert sahen, mit den harten, funkelnden Augen von Engel, mit seinen stählernen Kiefermuskeln.
Doch Angie wurde ganz leicht ums Herz. Sie wusste, dass Junkel sie nie wieder anrühren würde. Sie war frei. Engel lächelte.
Dein Triumph war nur von kurzer Dauer. Einen Moment später riss dein Vater dich zu Boden. »Ruf Dr. Grant an, Margie! Nein, ruf den Krankenwagen! Sie hat einen Nervenzusammenbruch.«
Angie, du versuchtest Luft zu holen, wolltest es erklären, aber der Sturz hatte dir den Atem genommen. Du schnapptest nach Luft wie ein Fisch, der aus seinem Becken gesprungen war.
Über dir hatte Grandma bereits ein sauberes Handtuch um Junkels Arm gewickelt, um die Blutung zu stillen. »Wie gut, dass sie nicht deinen Oberkörper getroffen hat, Bill.«
Dads Brust hob sich in kurzen schnellen Atemzügen. »Gott sei Dank hat sie die Gabel und nicht das Tranchiermesser erwischt.« Er drückte deine Schultern auf die harten Bodenfliesen.
Fassungslos und unfähig, ein Wort zu sagen, lagst du da und keuchtest. In Grandmas Gesicht spiegelten sich Abscheu und Angst. Du blinzeltest flehend in Moms Richtung, die das Telefon in der Hand hielt. Die andere streckte sie nach dir aus, doch Dad hielt sie zurück.
»Bleib weg, Margie«, blaffte er mit sich überschlagender Stimme. Seine Hände bohrten sich mit erstaunlicher Kraft in deinen Körper. »Wir wissen nicht, was sie dir und dem Baby antun könnte. Ich wusste, dass das passiert. Ich wusste es … Sie war einfach zu ruhig … Sie war schon die ganze Zeit kurz vorm Durchdrehen.«
Endlich bekamst du genügend Luft. »Dad, bitte«, hast du geschnauft. »Lass es mich erklären.«
Dads Kopf fuhr herum, und zum ersten Mal sah er dir direkt in die Augen. Ihm stockte der Atem. »Engel? Was …?«
»Nein, Daddy. Engel ist weg. Ich bin es, Angie.« Du wolltest unbedingt, dass er dich verstand.
Mit der unverletzten Hand packte Bill Dad von hinten an der Schulter und blickte auf euch beide herunter. »Sie hat mich fast umgebracht, Mitch. Sie hat eine Arterie erwischt, und meine Finger sind gebrochen.« Seine Stimme klang normal, aber der Blick seiner Augen verhieß Rache. Du zucktest zurück, und die Verbindung zu Dad riss ab.
»Halt sie weiter fest, und sorg dafür, dass sie ruhig bleibt«, befahl Bill.
Dad straffte sich und drückte dich noch fester zu Boden. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, und sein Mund war ein blasser Strich in einem dunkelroten Gesicht. Er sah aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Seine Finger gruben Furchen in deine Schultern.
Kraftlos wandest du dich hin und her und versuchtest, dich seinem Griff zu entziehen
»Sie kommen sofort«, sagte Mom. »Angie, halt durch, mein Schatz. Hilfe ist schon unterwegs.« Wieder streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus, doch dann bemerkte sie Dads warnenden Blick und zog sich wieder zurück. Völlig aufgelöst schaute sie durchs Fenster in den Vorgarten. »Wir können von Glück reden, dass heute kein Fernsehteam da ist. Ein Rettungswagen wäre ein gefundenes Fressen für sie.«
»Ein Rettungswagen?«, hast du hervorgepresst. »Mir geht es gut. Ich brauche keinen Rettungswagen.« Und dann hast du mit Kinderstimme losgeplappert: »Vielleicht braucht ja Junkel, der Widerling, einen. Ja, ich hoffe sogar, dass er ihn braucht.« Petzes ganze Freude über diese Wendung des Schicksals brach sich nun Bahn. »Na, wer hat jetzt den Ärger?«, spottete sie.
»Bitte, Mitch. Lass sie los. Ich möchte sie in den Arm nehmen«, bat Mom.
»Margie, lass gut sein … Ich habe sie schon.«
»Dad, du tust mir weh«, flehtest du. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und sein Griff lockerte sich ein wenig, doch er hielt dich immer noch fest.
Bill schaute mit vorgetäuschtem Mitleid auf dich herab. »Armes Mädchen. Sie hat einen schweren psychischen Zusammenbruch. So was habe ich im Krieg auch schon erlebt. Sie weiß nicht einmal mehr, was sie sagt.«
Engel schob sich wieder in den Vordergrund. Seine tiefe Stimme übertönte das Durcheinander. »Du verlogener Scheißkerl. Du hast sie missbraucht. Jahrelang.« Mit wiedererwachter Kraft wand er sich aus dem Griff unseres Vaters und riss sich los. Blind vor Zorn sprang er auf die Füße und griff nach dem juwelenbesetzten Schwert an seiner Seite. Doch er fand nur die Gürtelschlaufen deiner Jeans. Seine dunklen Augen richteten sich auf den Messerblock neben dem Spülbecken.
»Was sagt sie?«, wollte Grandma wissen.
Engel streckte die Hand nach dem Messerblock aus.
»Achtung!«, rief Bill. »Zurück! Ich halte sie fest.«
Das Geräusch einer Sirene kam immer näher. Mom rannte zur Haustür.
Bill sprang auf dich, auf Engel, auf Petze zu, ihr drei wart ein einziges Knäuel. Er schlug dir in den Magen und drehte dir die Arme auf den Rücken. »Ein Beruhigungsmittel«, rief er den herbeieilenden Sanitätern zu. »Schnell. Geben Sie ihr was.«
Wir spürten ein stechendes Piksen im Arm und verloren das Bewusstsein.