Kapitel 14 Erneuerung

Angie kuschelte sich aufs Sofa und bereitete sich innerlich auf ein Treffen ihrer Teilpersönlichkeiten vor. Gemeinsam mit Dr. Grant hatte sie diesen Plan entwickelt. Sehr viele Dinge mussten neu geordnet werden. Angie und die beiden anderen Mädchen würden sich dort begegnen, wo sie sich schon zuvor getroffen hatten – auf der morschen Veranda in ihrer Fantasie. Petze hatte zwar nicht wie die anderen dort gelebt, doch nun, da Junkel keine Bedrohung mehr darstellte, würde sie wohl dazu in der Lage sein, mitzumachen. Zusammen mussten sie eine grundlegende Erneuerung ihrer Persönlichkeit in Angriff nehmen. Ein gemeinsames »Bauprojekt« war der perfekte Weg, um Angies einheitliches Bewusstsein wiederaufzubauen. Keine weiteren Patentlösungen, keine weiteren Verluste oder Löschungen. Pfadfinderin und Petze hatten eine Einladung erhalten: Lasst uns über eine vollständige Integration reden.

Die Astlöcher in der Wandverkleidung kamen Angie nicht länger wie bedrohliche Augen vor. Das war bestimmt ein gutes Zeichen. Die Mädchen hatten viel weniger Angst als früher.

Dr. Grant holte den Leuchtbalken hervor, um die Tiefen-Visualisierung einzuleiten; sie würde den Anfang des Treffens moderieren, doch sobald die Dinge in Gang gekommen waren, würde Angie den Großteil der Arbeit übernehmen müssen. Innerhalb von Sekunden reagierte sie auf die Laufbewegung des Lichts.

Natürlich war ich da, um dir zu helfen, Angie. Ich hörte alles, was du auch hörst. Ich sah alles, was du siehst. Ich stand daneben, beobachtete, nahm alles in mich auf und kontrollierte die Wände und Tore. Ich unterstützte dein Vorhaben. Wir würden ein glücklicheres, ruhigeres und zweifellos auch berechenbareres Leben führen, wenn wir zusammenarbeiteten, anstatt uns abzuwechseln.

Du kamst zur Veranda, hattest einen Besen in der Hand und warst bereit loszulegen. Die Sonne schien auf die Hütte, und die verwitterten Bretter und rostigen Nägel stachen einem sofort ins Auge. Zuerst hast du die Spinnweben weggewischt, die von den Dachsparren herabhingen, und dann die Spinnennetze von den Kufen der Schaukelstühle entfernt. Petze kam aus den Schatten hervor, um nachzusehen, was du dort tatest. »Willst du mir helfen?«, hast du sie gefragt. »Wir müssen sie erst saubermachen, bevor wir sie wegräumen können.«

»Wegräumen?«, fragte Petze. »Wieso? Wo gehen denn alle hin?«

»In die Sonne«, entgegnetest du. »Wir werden nicht länger im Dunkel herumsitzen. Wir können alle im Licht sein. Möchtest du nicht auch mitkommen? Möchtest du nicht die ganze Zeit mit mir zusammen sein?« Du hast sehr darauf geachtet, nicht zu zeigen, wie groß deine Angst war.

»Wird es dort Pferde geben? Echte Pferde?«, fragte Petze.

Klar. Warum nicht? In der Nähe deines Zuhauses gab es einen Stall und eine Reitschule. Wenn du freitags regelmäßig Babysitten würdest, könntest du Reitstunden nehmen und sie selbst bezahlen. »Aber klar«, versprachst du ihr. »Wenn du mit mir kommst, werden wir auf schönen Pferden reiten.«

Petze lächelte entzückt. Sie nahm den Besen und fing an, die Schaukelstühle abzustauben. »Können wir los, sobald alles sauber ist?«, fragte sie.

Ging es wirklich so schnell? Du hättest gedacht, dass es schwieriger werden würde. »Sobald wir alles in Ordnung gebracht haben«, erwidertest du.

Pfadfinderin hatte die ganze Zeit über geschwiegen, geschaukelt und genäht. Als Petze zu ihrem Stuhl kam, hob sie die Füße.

»Willst du denn nicht mithelfen?«, fragte Petze.

»Warum sollte ich?«, zischte Pfadfinderin. »Wir werden genauso verschwinden wie Schlampe und Engel.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein finsteres Gesicht.

»Nein, nein«, versichertest du ihr eilig. »Ich will nicht, dass ihr verschwindet. Ich habe beschlossen, euch mitzunehmen. Bitte. Ich will, dass ihr bei mir bleibt.« Du hieltest Pfadfinderin einen Hammer hin. »Du siehst ganz schön wütend aus. Würdest du gern ein paar Nägel einschlagen?«

Pfadfinderin erhob sich zögernd, aber sie nahm das Werkzeug und hämmerte heftig auf die rostigen Nägel ein, die aus den Wandbrettern hervorlugten. Ich brachte eine Dose kornblumenblaue Farbe aus den Schatten, die keiner jemals betrat. Du hast es bemerkt, Angie. »Das ist genau das, was wir brauchen«, hast du gesagt. Neben der Dose lagen drei Pinsel, und nachdem du die Farbe geöffnet hattest, konntet ihr drei gemeinsam die Wand der Hütte streichen – die einzige Wand, die ihr hattet. Die Farbe bedeckte das verwitterte Holz und ließ es wieder strahlen. Ihr kamt schnell voran. Schon bald war die Hüttenwand blau wie der Himmel.

Pfadfinderin trat einen Schritt zurück und bewunderte euer Werk. »Das war gute Arbeit«, sagte sie. »Wir sind ein prima Team.«

Du hast Pfadfinderins Botschaft verstanden. Sie war noch nicht bereit, mit dir zu verschmelzen, aber sie dachte darüber nach. Dr. Grant erklärte, das sei ein großer Erfolg in nur einer Sitzung. Wir waren der Integration näher als je zuvor.

Die ganze Woche über ging Angie nicht zur Schule, die täglichen Sitzungen bei Dr. Grant forderten ihre gesamte Zeit und Energie.

Sie, Petze und Pfadfinderin machten enorme Fortschritte, sowohl auf der imaginären Veranda als auch hinsichtlich ihres Verständnisses füreinander. Die Schaukelstühle waren durch Blumenkästen ersetzt worden, in die sie blühende Chrysanthemen gepflanzt hatten. Das Veranda-Geländer erstrahlte jetzt in einladendem Gelb. Die Bodendielen waren wieder befestigt und frisch lackiert worden, sodass sie eine sichere Grundlage darstellten. Die Übertragung funktionierte. Angie hatte das Gefühl, als stünde auch sie selbst auf festerem Boden.

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis Pfadfinderin bereit ist, mit an Bord zu kommen«, prophezeite Dr. Grant.

»Das wäre wirklich toll«, entgegnete Angie. »Werde ich dann auch all ihr Wissen übers Kochen und das Leben ohne Strom und fließend Wasser verinnerlicht haben?«

»Alles Gute und alles Schlechte«, erwiderte Dr. Grant. »Du solltest dich auch darauf vorbereiten, dass du dann unmittelbare Erinnerungen an die Zeit der Gefangenschaft haben wirst.«

»Sie hat mir bereits alles darüber erzählt. Und ich habe die Narben«, sagte Angie abwehrend.

Dr. Grant drehte ihren Perlohrring. »Das wird kein Spaziergang. Du hast schon viel erreicht, was wirklich großartig ist. Doch wenn du nun weitere Erlebnisse und Erfahrungen in dein Bewusstsein integrierst, solltest du dir darüber im Klaren sein, dass dich das emotional zurückwerfen könnte. Bestimmt wirst du damit fertigwerden, aber unterschätze es nicht.«

Angie seufzte. Selbst ohne Engel fühlte sie sich stark. Sie konnte damit fertigwerden. Es wurde Zeit, dass sie auch den Rest ihres Lebens in Ordnung brachte. Wie versprochen fing sie mit Reitstunden an. Ihre erste Stunde hatte sie an dem Sonntagnachmittag, bevor sie wieder zur Schule gehen sollte.

Sie gaben ihr das sanfteste Pferd im Stall. Doch sobald es eine flottere Gangart anschlug, hatte Angie das Gefühl zu fliegen. Ihre Haare, die unter der Reitkappe hervorschauten, wehten nach hinten. Ihre Knie pressten sich gegen das galoppierende Tier. »Übernimm du, Petze«, flüsterte sie und trat beiseite. Von einem Punkt ganz in der Nähe beobachtete sie das kleine Mädchen, das Angies Körper lenkte und Runde für Runde mit dem Pferd über den Reitplatz galoppierte. Das Lächeln in Petzes Gesicht war unbezahlbar. Es hatte sich gelohnt, für eine Weile die Kontrolle abzugeben.

»Du machst ausgezeichnete Fortschritte«, sagte der Reitlehrer am Ende der Stunde. »Bist du sicher, dass du noch nie geritten bist?«

»Nur in meiner Fantasie«, erwiderte Angie.

»Nun, dann musst du eine sehr ausgeprägte Fantasie haben«, sagte er.

»Das hat man mir schon mal gesagt«, sagte Angie und musste innerlich lächeln. Petze drückte ihr dankbar die Hand.

Ich war so stolz auf dich, Angie – auf dich, und auf das, was du getan hattest. Als du abends auf dem Bett saßest und Salbe auf deine schmerzenden Muskeln auftrugst, ist dir aufgefallen, dass du das Tor zu Petze selbst geöffnet hattest, ganz bewusst. Und du hattest sie auch wieder zurückgebracht. Du brauchtest mich nicht mehr dafür. Du konntest das jetzt selbst übernehmen. Ich war überflüssig.

In diesem Augenblick schäumte dein Herz über vor Kraft und Freude. Du spürtest nicht einmal, wie ich verschwand und in dem Ganzen aufging, das wir sein würden.

»Was war denn mit dir los?«, fragte Kate, als Angie am nächsten Morgen in die Schule kam. Sie hatten sich vor den Spinden getroffen. »Du siehst ja großartig aus.«

»Oh, danke vielmals«, entgegnete Angie. »Aber warum so überrascht? Hattest du was anderes erwartet?«

»Es hieß, du wärst mit Grippe zu Hause – deshalb habe ich auch nicht angerufen –, aber offenbar stimmte das nicht.« Kate zog zwei schwere Schulbücher aus ihrem Spind.

»Hey, wenn das rumerzählt wurde, dann stimmt es ja wohl auch.« Angie klopfte sich auf die Brust und tat so, als müsste sie husten.

Kate sah sie skeptisch an. »Sag schon, was steckt wirklich dahinter? Bist du wegen der Presse auf Tauchstation gegangen? Oder hast du heimlich Urlaub mit deiner Familie gemacht?«

Angie lachte. »Nicht so, wie du meinst. Ich war mit meinen anderen Ichs zusammen, wir haben das Haus in Schuss gebracht und renoviert.«

»Was zum Teufel soll das denn schon wieder bedeuten?«, wollte Kate wissen und warf sich ihren Rucksack über die Schulter.

Angie schnappte sich ihr Geschichtsbuch und schlug die Spindtür zu. »Hauptsächlich eine Menge Hypnose, Visualisierung, innere Zwiesprache und so. Wir verhandeln gerade über eine Fusion. Ist schwieriger, als es sich anhört.«

Kate schnaubte und marschierte mit schnellen Schritten den Flur entlang. »Ich hab auch gar nicht gedacht, dass es einfach klingt. Mann. Dein Leben ist wirklich kompliziert.«

»Aber am Ende meines Regenbogens wartet ein Topf voll Gold«, zitierte Angie den alten Mythos.

»Du meinst, da ist ein Silberstreif an deinem Horizont?«, sponn Kate das Ganze weiter.

Angie kicherte. »Ein Licht, das am Ende des Tunnels leuchtet, etwas in der Art. Haben die Reporter aufgehört, die Schule zu belagern?«

»Am Freitag haben sie endlich aufgegeben. Gott sei Dank nutzt sich so eine Sensation ja schnell ab. He, ich muss jetzt da rein. Wir sehen uns beim Mittagessen.« Kate verschwand in ihrem Spanischkurs.

Die Sitzungen bei Dr. Grant hatten nie den ganzen Tag gedauert, deshalb hatte Angie in der restlichen Zeit den Unterrichtsstoff durchgearbeitet. So hatte sie jetzt keine Probleme, wieder in die Kurse einzusteigen. Einige Lehrer fragten sie, ob es ihr besser ging, und sie antwortete so, als ob sie auf die Grippe anspielten.

Vor der Mittagspause fürchtete sich Angie allerdings ein wenig. Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie sich Greg und Liv gegenüber so benahm, als sei nichts geschehen. Sie war ihnen gewachsen. Sie konnte das ertragen. Denn im Vergleich zu dem, was sie ansonsten durchgemacht und überstanden hatte, waren ihre kleinen Gemeinheiten absolut lächerlich. Die Frage war nur, ob sie sie in Ruhe lassen würden.

Am Ende des Schultags schien es fast so, als wäre das der Fall. Beim Mittagessen ignorierten sie Angie, und da sie keine Kurse zusammen belegten, dachte sie schon, sie wäre noch mal davongekommen. Doch dann rief jemand ihren Namen, und Liv kam hinter ihr hergerannt.

»Du bist wieder da?«, stellte sie unverblümt fest.

»Hast du gehofft, ich würde die Schule wechseln?«, fragte Angie. »Tja, hab ich aber nicht.«

Liv verzog das Gesicht. »Wenn du glaubst, dass du …«

Weiter kam sie nicht, denn Angie unterbrach sie: »Liv, bevor du weiterredest, möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich hinter deinem Freund her war. Das war gemein und blöd, und ich war zeitweise nicht ganz ich selbst.« Das konnte man wirklich sagen! »Bitte glaub mir: Ich habe nicht den geringsten Wunsch, diese Erfahrung noch mal zu wiederholen.«

Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht trat Liv einen Schritt zurück. »Warum nicht? Was stimmt denn nicht mit ihm?«

Ach herrje. »Mit ihm ist alles okay. Er ist einfach nicht der Richtige für mich«, erklärte Angie. »Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«

»Hmmm.« Liv schien über den Wert dieser Entschuldigung nachzudenken. »Hätte ich dir das nicht auch sagen können?«

»Dazu hattest du doch gar keine Gelegenheit. Du hast ja seit dem Tag unseres Wiedersehens nicht mehr mit mir gesprochen. Ist doch so, oder?«

»Du hast nicht mit mir geredet«, feuerte Liv zurück.

Das stimmte. Was sollte sie dazu sagen? Es mit der Wahrheit versuchen? »Wahrscheinlich habe ich mich schuldig gefühlt …«

Jetzt schnitt Liv ihr das Wort ab. »Weißt du, ich hab es sofort gemerkt. Als ob es zwischen euch noch immer geknistert hätte.«

»Das war alles nur rein körperlich«, beteuerte Angie. »Und ist jetzt absolut vorbei. Gefühlsmäßig läuft gar nichts zwischen uns. Du bist diejenige, die ihm etwas bedeutet.« Wohl oder übel, dachte sie. »Er wollte nie ernsthaft mit dir Schluss machen.«

»Wirklich?« Livs Schultern strafften sich ein wenig. »Das hat er auch gesagt, aber ich wusste nicht, ob es stimmte. Du weißt ja, wie Jungs sind: Sie sagen dir das, was du hören willst.«

Allerdings! »Ja, da hast du recht. Aber in diesem Fall hat er die Wahrheit gesagt. Er steht voll und ganz zu dir, Livvie.« Nimm ihn, bitte.

Livs Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen Lächeln. »Gut. Also dann, was soll’s. Wir sehen uns.«

Mit beschwingten Schritten ging sie Richtung Parkplatz davon. Angie sah, wie sie auf Gregs Wagen zumarschierte, einstieg, ihn an sich zog und offen ihre Zuneigung zur Schau stellte, was auf dem Schulgelände ansonsten verboten war. Sie tat das sehr ausführlich.

Angie prüfte ihre Gefühle. Bedauern? Eifersucht? Keine Spur.