Kapitel 13 Konfrontation
Angie erwachte in einem sauberen weißen Bett in einem sauberen weißen Raum mit grünen Vorhängen. Sie fühlte sich matt und leer. Wo war sie? Zunächst sah sie alles noch ziemlich verschwommen, doch dann fokussierten ihre Augen den Stuhl neben ihrem Bett. Dort saß eine Frau und schlief, ihr Kopf war auf die Schulter gesackt.
»Mom?« Angies Lippen waren trocken, ihre Stimme krächzte.
Ihre Mutter sprang vom Stuhl auf und ergriff Angies Hand. Erst jetzt bemerkte Angie weiche Fesseln an ihren Handgelenken. Eine Träne floss aus ihrem Augenwinkel. Sie spürte es kaum. »Was ist passiert? Was habe ich getan? Stehe ich unter Arrest?«
Mom streichelte ihre Stirn. »Nein, nein, Liebes. Du stehst nur unter Beobachtung. Etwas hat eine sehr gewalttätige Reaktion in dir ausgelöst. Wir hatten Angst, dass du dich selbst oder jemand anderen verletzen würdest. Man hat dich für einen Tag ruhiggestellt. Dankenswerterweise hat Dr. Grant den Urlaub bei ihrer Schwester abgebrochen, und sie haben eine weitere von diesen Behandlungen durchgeführt, die dir zu helfen scheinen.«
»Ist sie noch hier?« Angie musste unbedingt mit ihr sprechen.
Mom sah auf die Uhr. »Sie sagte, sie würde bald noch einmal vorbeischauen. Ich glaube, sie wollte einen Kaffee trinken. Es war eine lange Nacht.«
Angie zuckte zusammen. »Tut mir leid, Mom.«
»Nun, es wird dich bestimmt freuen, zu hören, dass die Verletzung an Bills Arm wieder heilen wird. Es sind keine Nerven oder Arterien verletzt worden, deshalb reichten zwei Stiche, Antibiotika und ein dicker Verband. Das mit den gebrochenen Fingern wird natürlich ein bisschen länger dauern, aber die Knochen werden wieder gerade zusammenwachsen, sagt der Arzt.«
Angie schwieg. Ihr Gesicht war wie versteinert.
»Angie, bist du denn nicht froh? Du hast ihm keinen dauerhaften Schaden zugefügt, und er verzeiht dir.«
»Er verzeiht mir?«, stieß Angie hervor, und alles in ihr zog sich zusammen. Frustriert zerrte sie an den Fesseln. »Zum Teufel noch mal!«
»Reg dich nicht auf, oder ich bitte darum, dass sie dir wieder ein Beruhigungsmittel geben«, warnte sie Mom.
Angie erstarrte. »Mom – der Kerl hat mich jahrelang missbraucht, jedes Mal, wenn er mein Babysitter war. Und eine Woche, nachdem ich zurückgekommen bin, hat er es wieder getan. Er ist zutiefst bösartig. Ich wusste nicht, wie ich es dir und Dad sagen sollte.«
Moms Gesichtsausdruck wurde sanfter – doch sie reagierte nicht so, wie Angie es gehofft hatte. »Du bist ja völlig durcheinander. Bill meinte, er hätte sich so was schon gedacht. In deinem Kopf hast du ihn wohl mit deinem Entführer verwechselt. Mit dem Mann, der dich vergewaltigt und missbraucht hat.« Sie legte Angie die Hand an die Wange. »Erinnerst du dich? Das war der bösartige Mann, nicht dein Onkel Bill.«
Dieser raffinierte Scheißkerl. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Nicht ihre Tränen, sondern die von Petze. Sie selbst war zu müde, um zu weinen. »Mom, versteh doch. Junkel Bill, den ich sehr mochte und dem ich vertraute, hat mich vergewaltigt und missbraucht. Jahrelang.«
Mom schüttelte abwehrend den Kopf. »Du warst doch erst sechs. Und auch er war noch ein Junge. Willst du mir wirklich erzählen, dass er dich vier Jahre lang jeden Freitagabend missbraucht hat?«
»Ja.«
Mom schüttelte noch immer den Kopf. Nichts davon drang zu ihr durch. »Und du hast nie ein Wort gesagt? Nie etwas angedeutet? Uns nie gebeten, nicht wegzugehen? Warum nicht?«
Diese Frage hatte sich Angie selbst mehr als hundertmal gestellt – bis sie Petzes Geschichte kannte. »Weil er mich hat schwören lassen, es nicht zu tun.«
»Ach Liebes. Du bist wirklich sehr durcheinander.« Mom runzelte besorgt die Stirn. »Unser Bill würde dir doch nie wehtun. Du hättest sehen sollen, welche Sorgen er sich um dich gemacht hat, sogar als er wie verrückt blutete. Dein Gehirn hat das irgendwie durcheinandergebracht, mehr nicht.«
Sie streckte die Hand aus und wollte Angie übers Haar streichen.
Angie wich zurück. Sie konnte Moms Urteil von deren Gesicht ablesen – sie glaubte ihr kein Wort. Verdammt. Warum glaubte sie ihm und nicht ihrer eigenen Tochter? Angie drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite. »Ich möchte mit Dr. Grant sprechen«, sagte sie ins Kissen. »Bitte geh.«
Aus Moms Richtung kam ein schmerzerfüllter Seufzer. Dann war sie verschwunden.
Die nächsten zehn Minuten fühlten sich wie zehn Stunden an. Die Fesseln an ihren Armen und Beinen erinnerten Angie an den Flashback der Gefangenschaft, den Kleine Frau in einem Anfall von Wut mit ihr geteilt hatte. Sie suchte in ihrem Kopf nach den Anderen, aber sie hatten sich anscheinend verängstigt in die Ecken verzogen. Es herrschte völlige Stille. Was vielleicht auch an dem Beruhigungsmittel lag.
Endlich klopfte es, und Dr. Grant kam herein. Sie nahm auf dem gleichen Stuhl wie Mom Platz. »Es war bestimmt schlimm für dich, dass deine Teilpersönlichkeiten vor deiner Familie so deutlich zum Vorschein gekommen sind. Was ist geschehen? War es eine Erinnerungskaskade?«
»Ich komme mir so dumm vor, weil ich Ihnen das jetzt erst erzähle«, erwiderte Angie. »Wenn ich früher mit Ihnen geredet hätte, wäre wahrscheinlich nichts von alldem passiert.«
»Nun, jetzt ist jetzt«, entgegnete Dr. Grant. Das war das Tolle an ihr. In ihrer Stimme lag keinerlei Wertung. Keinerlei Anklage. »Was hätte ich wissen sollen, wusste es aber nicht?«
»Können Sie mich bitte losbinden? Ich fühle mich so ausgeliefert.«
Dr. Grant schlug die Decke zurück und sah die Fesseln. »Du liebe Zeit. Natürlich. Warum haben sie das getan? Ich habe das nicht angeordnet.«
»Ich versichere Ihnen, dass Sie nicht in Gefahr sind. Hier gibt es kein spitzes Besteck.«
Dr. Grant lächelte freundlich. »Nein. Gibt es nicht.« Sie band Angies rechtes Handgelenk los. »Also. Ich höre.«
Angie spürte die Macht von Petzes Verbot. Petzen ist nicht erlaubt. Sie machte den Mund ein paarmal auf und zu, brachte jedoch kein Wort hervor.
»Angie, Kindesmissbrauch ist eine der wenigen Ausnahmen, die uns von der ärztlichen Schweigepflicht entbindet. Ich bin gesetzlich verpflichtet, es innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu melden. Möchtest du es mir trotzdem erzählen?«
Woher wusste sie das nur? »Ja. Ja, das will ich.« Und dann brach es in einem Schwall aus Angie heraus – die ganze Geschichte von Petze und Junkel.
Dr. Grant schürzte die Lippen. »Aha«, sagte sie. »Ich hatte mich schon gewundert. Jetzt ergibt das Ganze einen Sinn. Dein Bewusstsein hatte bereits einen Notausstieg. Dass es in einer ähnlichen Situation weitere Persönlichkeiten erschaffen hat, war ein natürlicher Schutzreflex.«
»Verstehe«, sagte Angie. »Sie glauben mir also?«
»Natürlich tue ich das.«
»Meine Eltern nicht«, murmelte Angie bedrückt. »Sie glauben lieber Bill und halten mich für verrückt. Ist das nicht völlig verdreht?«
»Es andersherum zu sehen, würde ihre ganze Welt ins Wanken bringen. Überleg mal, was für eine Schuld auf ihnen lasten würde, wenn sie dir glauben. Sie haben es zugelassen. Das ist eine unglaublich bittere Erkenntnis. Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei, dieses Gespräch mit ihnen zu führen.« Sie zog das Laken glatt. »Wann hast du es herausgefunden?«
Angie schluckte. »In der Woche nach meiner Rückkehr sind Grandma und Onkel Bill zu Besuch gekommen. Mir fehlten acht Stunden – fast der ganze Besuch –, aber ich wusste nicht, wieso. Ein paar Wochen später hat mir Petze eine Nachricht geschrieben und um einen Kassettenrekorder gebeten. Sobald ich einen aufgetrieben hatte, hat sie mir die ganze Geschichte erzählt.«
»Erinnerst du dich auch selbst daran?«, fragte Dr. Grant.
»Nicht direkt. Aber ich bin mir sicher, dass er Petze während der fehlenden Stunden dazu gebracht hat, meinen Platz einzunehmen. Und dann hat er sie wieder vergewaltigt.«
»Sie oder dich?«
Angie verstand die Frage sofort. »Sie. Ich hatte lediglich eine kleine Brandwunde auf dem Arm. Aber keinerlei Erinnerung.«
Dr. Grant runzelte die Stirn. »Benutzt du irgendeine Art von Verhütungsmittel?«, fragte sie vorsichtig.
Das war wie ein Schlag in die Magengrube. »Oh mein Gott, nein. Aber warten Sie mal. Ich habe erst nach Bills Besuch zum ersten Mal meine Periode bekommen. Und zwar eine ganze Weile danach.«
»Zum ersten Mal, sagst du?«
Angie wurde rot. »Ja, ich bin ganz schön ausgeflippt, weil es so unerwartet kam.«
Dr. Grant tätschelte ihr die Hand. »Nun, genau genommen hat deine Menstruation schon früher eingesetzt. Pfadfinderin hat mir mal erzählt, dass ihre Periode sehr unregelmäßig käme und sie dabei furchtbare Krämpfe hätte.«
»Ach ja? Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass ich das verpasst habe«, sagte Angie leichthin.
»Was glaubst du: Warum hast du diesmal so aggressiv auf deinen Onkel reagiert?«
Angie schnaubte. »Nun, zum einen kannte ich Petzes Geheimnis jetzt und war stinkwütend auf ihn. Ich wollte nicht, dass er sie wieder in die Finger kriegt. Und dann kam er an und war so eingebildet und selbstzufrieden und fies, dass ich hätte kotzen können. Engel hat gemerkt, wie wütend ich war, und wollte dem ein Ende machen.«
»Also war es Engel. Die männliche Beschützerpersönlichkeit. Ja, ich dachte mir schon, dass er die Kontrolle übernommen hat. Ein körperlicher Angriff passte so gar nicht zu dir.«
»Ich habe gespürt, wie er sich nach vorn drängte. Es war bizarr. Ein richtiger Machtkampf. Petze wollte, dass ich mich zurückziehe, damit sie den Missbrauch auf sich nehmen konnte. Engel wollte mich aus dem Weg haben, damit er Bill eine Lektion erteilen konnte. Und ich steckte dazwischen und versuchte, Petze zu schützen. Schließlich hat Engel gewonnen. Er hat uns alle beschützt. Er kann gar nicht anders, oder? Ich meine, dazu wurde er ja überhaupt nur erschaffen. Er ist reine Kraft. Er ist Rache. Das ist sein einziger Job.«
»Ja, genauso ist es. Deswegen wolltest du, dass er als Nächstes gelöscht wird. Ist das richtig?«
»Ich mache mir solche Sorgen, zu was er fähig ist.« Angie blickte auf ihre Hände und stellte sich vor, wie sie mit Blut befleckt waren. »Ich habe Angst vor dem, was er getan haben könnte. Ich habe … Sie dürfen ja nichts weitergeben, oder? Von dem, was ich Ihnen erzähle?«
»Nein, es sei denn, ich hätte dein Einverständnis.«
»Selbst wenn es um ein Verbrechen geht?« Angies Stimme zitterte.
»Hast du vor, ein Verbrechen zu gestehen?«
Wie Dr. Grant es schaffte, diese Frage mit einem solch freundlichen, neutralen Gesichtsausdruck zu stellen, war verblüffend.
»Nein, habe ich nicht. Aber ich wusste nicht, dass ich so gewalttätig sein kann. Und gestern haben es alle miterlebt.«
»Hm«, bestätigte die Ärztin.
»Sie hätten den Blick in den Augen meiner Grandma sehen sollen«, sagte Angie mit zugeschnürter Kehle. »Sie hatte Angst vor mir. Und Dad … Bei ihm ist es noch schlimmer. Er hasst mich. Er hasst das, was der Mann aus mir gemacht hat.«
»Es war nicht nur dein Entführer, Angie. Denk dran, es hat mit etwas anderem angefangen.«
Angie umklammerte das Laken, bis ihre Finger weiß wurden. »Nicht in einer Million Jahren würde Dad glauben, dass sein kleiner Bruder so etwas getan hat. Also werde ich Bill auch die nächsten Jahre weiterhin sehen müssen. Obwohl er vermutlich nicht so lange warten wird, um sich an mir zu rächen.«
»Das wird nicht passieren, Angie. Wir werden eine einstweilige Verfügung erwirken. Vertrau mir. Und jetzt sag mir: Wovor hast du wirklich Angst?«
Angie biss sich auf die Lippen. »Es hätte auch das Messer sein können. Es hätte seine Brust sein können. Wenn ich mich Engel nicht in den Weg gestellt hätte, hätte er meinen Onkel wahrscheinlich umgebracht. In unserer Küche an Thanksgiving. Ohne zu zögern und ohne Reue. Und …«
Angie blickte auf ihre Hände. Sie konnte es nicht sagen. »Nur Engel weiß es«, stieß sie schließlich hervor.
»Aha.« Dr. Grant seufzte. »Er wusste es, fürchte ich. Während du ruhiggestellt warst, habe ich Dr. Hirsch angerufen, und wir haben die Löschung durchgeführt, die eigentlich für Montag geplant war. Unter den gegebenen Umständen war er dazu bereit. Du musst also keine Angst mehr haben. Engel ist verschwunden.«
Angie spürte, wie ein gewaltiger Riss durch ihr Inneres ging. Sie hörte einen herzzerreißenden Schrei und spürte die Gegenwart eines Fremden.
Nach außen hin zeigte sich jedoch gar nichts. Sie drehte ihr Gesicht zur Wand, und eine Träne lief ihr übers Gesicht.
Der Krankenhausgeruch war seltsam tröstlich. Angie konnte nur an eins denken: Wenn sie selbst sich nicht daran erinnerte, würden auch die anderen es nicht aus ihr herausbekommen, nicht einmal mit einem Lügendetektor. Nicht einmal unter Hypnose. Engel hatte sich nicht offenbart und seine Schuld mit sich genommen. Sie war gerettet. Sie hatte es überstanden, und jetzt ging ihr Atem ruhiger.
»Damit wären also schon zwei Teilpersönlichkeiten verschwunden«, stellte Dr. Grant fest. »Wie fühlst du dich?«
»Ruhig. Und leer.«
»Das freut mich. Dann werde ich jetzt Termine für weitere Kartierungen vereinbaren, um auch die anderen beiden lokalisieren zu können.«
So weit hatte Angie noch gar nicht gedacht. Pfadfinderin und Petze zu löschen war wohl der nächste logische Schritt. Trotzdem kam es ihr irgendwie grausam vor. Sie taten ihr doch gar nichts.
»Dr. Grant, ich frage mich, ob wir es nicht lieber mit weiteren Therapiestunden versuchen sollten. Vielleicht sollten wir diese Integrationssache probieren, die Sie vorgeschlagen hatten. Glauben Sie, sie würden kooperieren?«
Oh ja. Das ist besser, als zu sterben!, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.