Kapitel 9 Wettbewerb

Die letzten beiden Kartierungsscans waren frustrierenderweise reine Zeitverschwendung. Petze versteckte sich sehr geschickt, was gut war. Sie hatte ja auch viel mehr Zeit als die Anderen gehabt, sich darin zu üben. Und Pfadfinderin war verstockt. Sie verweigerte sich allen Einladungen von Dr. Grant, zum Vorschein zu kommen – als ob sie den nächsten Schritt nach der Kartierung schon kannte. Und vielleicht war das tatsächlich der Fall. Angie hatte keine Ahnung, in welchem Maß die Teilpersönlichkeiten ihr Leben mitverfolgten – und ihre Entscheidungen beurteilten, als wären sie Filmkritiker, die sich in einem dunklen Kinosaal Notizen machten.

Dr. Hirsch schlug vor, sofort zur nächsten Stufe der Behandlung überzugehen – zumindest bei den Teilpersönlichkeiten, die sie bereits gescannt hatten. Er zeigte ihnen auf seinem Computerbildschirm eine sich drehende 3-D-Ansicht eines perfekten Hirnscans. Mom und Dad betrachteten sie mit ehrfürchtigen Blicken, Angie mit gespannter Neugier.

»Bin ich das?«, fragte sie.

Unter einer transparenten Schale, die eindeutig die Oberfläche eines Gehirns darstellte, zeigten grellfarbig markierte Areale die Bereiche der einzelnen Persönlichkeiten im Hippocampus. »Das Rote bist du, Angie, der dominante Teil, er hat mit Abstand die größte Ausdehnung. Die violettfarbene Anhäufung ist die Teilpersönlichkeit ›Schlampe‹ – Verzeihung, ›Kleine Frau‹ –, und der gelbe Fleck dort ist die männliche Persönlichkeit in dir. Im nächsten Schritt werden wir nun die modifizierten, lichtsensitiven Gene in diejenigen Neuronen einschleusen, die nur von deinen Teilpersönlichkeiten benutzt werden.«

Angie war völlig fasziniert. Beschränkte sich das Bewusstsein, also die Frage, wer sie war, wirklich nur auf ein paar wenige Kubikzentimeter Zellen in ihrem Kopf?

»Und was passiert, wenn Sie die falschen erwischen?«, fragte Mom. »Besteht die Möglichkeit, dass Sie Angies eigentliche Persönlichkeit löschen? Dann wäre diese Behandlung natürlich absolut indiskutabel, oder, Mitch?«

»Absolut indiskutabel«, bekräftigte Dad, ohne zu zögern.

Angie atmete leise auf. Offenbar bedeutete sie Dad noch immer etwas, selbst wenn er ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte.

»Wie sicher ist dieses Verfahren?«, fragte er Dr. Hirsch mit Nachdruck.

Dr. Hirsch räusperte sich ein wenig ungeduldig. Sie waren das alles schon durchgegangen, bevor sie die Einverständniserklärung unterschrieben hatten. »Die Technologie der Optogenetik ist sehr verbreitet – sie wird zum Beispiel zur Behandlung von Neuronen eingesetzt, die bei Parkinson betroffen sind. Auch bei Epilepsie, bei Rückenmarksverletzungen und sogar bei bestimmten Formen der Blindheit wird Optogenetik angewandt. Sie zur Manipulation des Gedächtnisses einzusetzen ist allerdings noch wenig erprobt. Wir beschreiten damit Neuland. Doch wie ich schon erklärt habe, wird das Trägervirus nur in die Nähe derjenigen Gehirnzellen injiziert, in die die modifizierten Gene eindringen sollen. Wir können das mit absoluter Präzision steuern.«

Dad nickte. »Und das Virus selbst?«, fragte Mom. »Ist es harmlos?«

»Absolut«, versicherte ihr Dr. Hirsch. »Seine einzige Funktion besteht darin, Gene in eine Zelle einzuschleusen. Bei der gesamten Behandlung besteht lediglich das Risiko, dass wir die Teilpersönlichkeiten vielleicht nicht vollständig ausschalten können. Angies Kernpersönlichkeit oder ihrem Gehirn wird jedoch keinerlei Schaden zugefügt. Nicht einmal die Neuronen selbst werden geschädigt. Wir schalten nur ihre Fähigkeit aus, Signale zu senden, indem wir die Kalzium-Kanäle und die Ionenpumpen ihrer Membran verändern.«

Mom blickte verwirrt drein, und Dad fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Jetzt habe ich komplett den Anschluss verloren.«

Nur Angie verstand das Ganze dank ihres Humanbiologieunterrichts in der Siebten so einigermaßen. »Und wie werden Sie das Virus in mich hineinbekommen? Wie setzen Sie diese Notausschalter ein?«, fragte sie.

Dr. Hirsch strich sich über sein Ziegenbärtchen. »Der Begriff gefällt mir ziemlich gut. Vielleicht verwende ich ihn sogar. ›Notausschalter‹. Es werden nur drei kleine Bohrlöcher erforderlich sein.«

»Bohrlöcher!« Dad sprang auf, und sein Stuhl fiel mit einem leisen Plumps hinter ihm auf den Teppich. »In Angies Kopf? Ich kann mich nicht erinnern, dass davon schon mal die Rede war! Sie haben injizieren gesagt. Ich dachte, wir würden von einer Spritze sprechen!«

Mom sah genauso erschrocken aus. »Werden Sie ihr alle Haare abrasieren? Darauf bin ich nicht vorbereitet.« Sie zog erst ihre Ärmel und dann ihren Gesichtsausdruck glatt. »Dann müssen wir zuerst die richtige Perücke finden, damit niemand etwas bemerkt.«

Angie lehnte sich zurück und überließ es ihren Eltern, sich aufzuregen. Es lohnte sich ja doch nicht, sich deswegen verrückt zu machen. Was immer sie tun mussten, würden sie letztendlich auch tun.

Doch es stellte sich heraus, dass Angie ihre Haare fast vollständig behalten konnte. Sie würden sogar die winzigen Löcher bedecken, die sie in ihren Schädel gebohrt hatten, um einen Zugang zu ihrem Hippocampus zu legen. Das Einschleusen der Gene war zwar langwierig und mühsam, aber wenigstens viel leiser als die Stunden im Kernspin. Nun mussten sie mindestens zwei Wochen warten, damit die Gene in die Zellen eindringen und die Kontrolle oder was auch immer über die Kalzium-Kanäle übernehmen konnten. Erst dann war es möglich, sie auszuschalten.

Das dürften zwei ruhige Wochen werden, dachte Angie. Aber da irrte sie sich.

Es fiel ihr immer schwerer, morgens aufzustehen. Was sollte das Ganze überhaupt noch? Wegen des dauernden Gezeters in ihrem Kopf konnte Angie sich ohnehin nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Vor der blöden Hirnkartierung war alles bestens gelaufen. Sie hatte gute Noten bekommen und sogar damit gerechnet, nach Weihnachten in ein paar Fächern Kurse höherer Klassen belegen zu können. Jetzt herrschte Chaos. Die Teilpersönlichkeiten befanden sich im Ausnahmezustand.

Zum Beispiel zog Angie sich morgens an und machte sich auf den Weg in die Schule – um dann festzustellen, dass Schlampe sich ins Bad geschlichen und jede Menge Eyeliner und dunkelroten Lippenstift aufgetragen hatte. Pfadfinderin hatte ihren Charakter schon richtig erkannt. Immer wieder stellte Angie fest, dass ihre Oberteile über die Schulter gerutscht waren und ihre BH-Träger hervorblitzten. Und während sie schlief, schrieb Pfadfinderin die Hausaufgaben in ihrer ordentlichen Handschrift einfach noch mal ab. Sie sortierte auch ihre Ordner neu, sodass Angie nichts mehr fand. Petze ritt die ganze Nacht auf imaginären Pferden, und am Morgen pochte es in Angies Kopf, als ob sie immer wieder Huftritte dagegen bekommen hätte.

Allein Kate sorgte dafür, dass sie nicht durchdrehte. Das tägliche Mittagessen mündete in allabendlichen Telefonaten. Angie musste nur »Wenn ich jetzt nicht sofort Schokoladeneis bekomme, sterbe ich« sagen – schon kam Kate spätestens nach einer halben Stunde im uralten Drittwagen ihrer Eltern angebraust und war zu allen Schandtaten bereit.

»Du hast wirklich ganz schön viel Stress«, sagte Kate nach der dritten Eiscremenacht in Folge. »Vielleicht solltest du doch lieber anfangen zu joggen oder so was. Ich nehme bei diesen Aktionen nämlich ziemlich zu. Guck – guck dir an, was ich nur noch essen kann.« Sie deutete auf ihren welken Mensa-Salat und verbog dann einen Rotkohlschnitz, als sei er aus Gummi.

»Das tut mir leid. Ich esse eben für fünf«, erwiderte Angie vorsichtig.

Kate lachte. »Ich weiß genau, dass man dir keine Vierlinge implantiert hat. Das kaufe ich dir nicht ab.«

»Aber ich fange langsam an, mich zu erinnern«, flüsterte Angie.

Kates Lächeln verschwand sofort. »Oh, Angie.« Sie berührte sie über den Tisch hinweg. »War es mit der Amnesie besser?«

»Tja, in gewisser Weise schon«, antwortete Angie. »Weißt du, wir haben herausgefunden, dass mein Körper einen ganzen Haufen verschiedener Persönlichkeiten beherbergt hat, während mein eigenes Bewusstsein sich für drei Jahre verabschiedet hat.«

Kate riss die Augen auf. »Einen ganzen Haufen? Machst du Witze?« Sie musterte Angie forschend. »Nein. Machst du nicht. Wie abgefahren und … und cool.«

»Cool.« Angie entfuhr ein ironisches Lachen. »Mehr oder weniger. Tatsächlich sind sie diejenigen, die sich daran erinnern können, was passiert ist. Und jetzt haben sie beschlossen, ihr Wissen mit mir zu teilen. Doch das ist kein Spaziergang.«

»Puh.« Kate lehnte sich mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl zurück. »Dafür hast du wirklich jede Menge Schokoladeneis verdient. Heute Abend zahle ich.« Sie zögerte. »Willst du … Willst du darüber reden? Ich meine, mit einem normalen Menschen, nicht mit einem Arzt?«

»Irgendwann. Bald. Im Moment bin ich noch dabei, herauszufinden, wie ich mit der Entführung, der Gefangenschaft und dem anderen Kram umgehen soll. Und auch mit den drei Mädels und dem Typen, die meinen Körper mit mir teilen.«

»Hey, wir alle haben Probleme«, sagte Kate.

»Aber meine haben ihre eigenen Interessen«, sagte Angie. »Ich weiß nicht, wie ich sie unter Kontrolle halten kann.«

»Das sieht man«, sagte Kate. »Ich meine, wer von ihnen hat heute deine Klamotten ausgesucht?«

»Oh nein!« Angie wusste noch genau, dass sie sich ihre bestickte Jeans und den roten Pullover, den sie gewöhnlich mit einem schwarzen Shirt kombinierte, rausgelegt hatte. Jetzt trug sie dank Pfadfinderin eine geblümte pfirsichfarbene Bluse und einen breiten Haarreif. Für die enge schwarze Stretchhose und die spitzen Absätze war vermutlich Kleine Frau bzw. Schlampe verantwortlich, und Petze hatte ihr ein aberwitziges Glasperlen-Armband umgebunden. »Können sie sich nicht wenigstens untereinander absprechen?«, heulte Angie auf. »Ich sehe wie ein Flittchen vom Lande aus!«

»Jetzt mal ernsthaft«, sagte Kate. »Kannst du ihnen nicht vielleicht einzelne Tage in der Woche zuweisen?«

»Wie denn?«, fragte Angie.

»Häng einen Kalender in deinem Zimmer auf, und trage ihre Anziehtage ein oder so was Ähnliches.«

»Das ist doch total durchgeknallt«, widersprach Angie.

»Und das hier nicht?«

»Mein Gott. Du hast recht.« Zumindest war es ein durchaus pragmatischer Vorschlag.

Von Dr. Grant bekam Angie im Moment keinerlei pragmatische Ratschläge. Es war, als wäre die Ärztin von der neuen Behandlungsmethode, von diesem Experiment an ihr geradezu besessen. Anstatt mit der Therapie fortzufahren, versuchte sie mit aller Macht, die Teilpersönlichkeiten aus ihrem Versteck zu locken. Angie merkte, wie frustriert sie war. Fünf strapaziöse Termine im Kernspintomografen, trotzdem hatten sie nur zwei Teilpersönlichkeiten kartieren können. Nun, der Fairness halber musste man sagen, dass Angie Petze befohlen hatte, sich zurückzuhalten. Aber Pfadfinderin – was hatte sie für ein Problem? Und Schlampe benahm sich völlig daneben. Es war, als wollten sie es nicht zulassen, dass sie gesund würde.

Sie brauchten einen weiteren Durchbruch.

»Ich frage mich, ob Kleine Frau die Anderen daran hindert, an die Oberfläche zu kommen«, sinnierte Dr. Grant. »Ihre Persönlichkeit ist sehr stark. Sie ist daran gewöhnt, dass die Nacht nur ihr allein gehört. Jetzt ist sie zur Seite gedrängt worden. Ich frage mich, ob wir weitermachen und sie so schnell wie möglich löschen sollten, um für die Anderen Platz zu schaffen.«

Angie wurde es ein wenig flau im Magen.

Die Psychologin bemerkte ihr Zögern. »Du kennst ihre Geschichte jetzt. Und die Polizei hat ihre Aussage. Sie hat eindeutig den größten Teil deines Traumas durchlitten.« Dr. Grant ahnte noch immer nichts von Petzes Geheimnis. »Meinst du denn nicht, es wäre eine Wohltat, wenn das aus deinem Bewusstsein gelöscht würde? Im wahrsten Sinne des Wortes?«

»Kann schon sein.« Angie zupfte an der frischen Brandnarbe auf ihrem Arm.

»Ich will dich nicht drängen, Angie. Ich hoffe, du weißt das«, sagte die Ärztin. »Es ist nur eine Möglichkeit.«

»Und was ist die andere?«, fragte Angie.

»Die Alternative sieht wie folgt aus: Wir können ganz konventionell mit der Therapie weitermachen. Wir würden daran arbeiten, die Wand zwischen dir und Kleiner Frau einzureißen. Wir würden sie dazu bringen, ihre Erinnerungen auf dich zu übertragen. Dadurch würdest du ihre Gefühle selbst noch einmal durchleben. Der nächste Schritt wäre dann die Verarbeitung dieser Gefühle, die für dein jüngeres Ich zu belastend waren. Und irgendwann müsstest du dann versuchen, dich mit ihr zu einigen, sodass sie ihre Eigenständigkeit aufgibt und mit dir verschmilzt.«

Verschmelzen? Mit der Schlampe? »Aber dann wäre ich doch ganz verändert, oder?«

»Leben bedeutet Veränderung«, sagte Dr. Grant.

Angie spürte, wie jemand sie beiseiteschob. »Das kannst du dir verdammt noch mal einrahmen und an die Wand nageln, Lynn.« Die groben Worte waren tatsächlich aus Angies Mund gekommen.

»Tja, hallo mal wieder, Kleine Frau«, sagte die Ärztin.

»Egal wie, du willst mich tot sehen, stimmt’s?«, fragte Kleine Frau/Schlampe, während Angie Millionen von Kilometern entfernt war und sich bemühte, alles mitzubekommen. »Kein einziger gottverdammter Mensch schätzt mich. Nicht hier drin und nicht draußen.«

Dr. Grant streckte die Hand aus. »Ich schätze dich«, sagte sie. »Aber ich glaube, dass du unglücklich bist und dass du dieses Unglücklichsein auf Angie überträgst.«

»Dann sorge ich eben dafür, dass ich wieder glücklich bin. Auf meine Art«, erwiderte Kleine Frau und schlug die Hand der Psychologin weg.

Als Angie wieder bei sich war, brannte ihre Hand noch immer. »Oh, Dr. Grant. Es tut mir wirklich leid.«

Die Augen der Psychologin leuchteten. »Konntest du das tatsächlich hören?«

Angie nickte, ihre Wangen waren rot angelaufen.

»Dann machen wir Fortschritte. Die Wände werden dünner.«

Nein! Angie brauchte diesen Schutzwall. »Ich mag sie nicht. Ich mag ihr Verhalten nicht. Ich mag ihre Kleider nicht. Ich mag ihre Stimme nicht. Ich will nicht, dass sie in mir ist. Schaffen Sie sie weg. Löschen Sie sie aus. Bitte.«

Ein durchdringendes Geheul gellte mit einem Mal durch ihren Schädel, und sie schlug sich die Hände gegen den Kopf. Angie spürte, wie sie ins Dunkel gezogen wurde, da war wieder diese Hütte hinter ihr. Kräftige Arme versuchten sie gewaltsam in den Schaukelstuhl zu setzen, aber sie wehrte sich mit aller Kraft. Plötzlich sah sie wieder das Zimmer der Psychologin vor sich.

»Angie. Angie. Ist alles okay?«

»Ja, schon gut«, sagte Angie atemlos. »Ich habe wieder die Kontrolle, aber bitte sehen Sie zu, dass die Löschung so bald wie möglich stattfindet.«

»Ich lasse dir noch ein wenig Zeit zum Nachdenken«, entgegnete Dr. Grant. »Es ist ein großer Schritt. Und er ist irreversibel.«

Aus der Ferne hörte Angie, wie jemand sagte: Auch du musst irgendwann mal schlafen, Hübsches Mädchen.

Es war drei Uhr morgens, und der Satz verfolgte Angie noch immer. Sie saß aufrecht im Bett, alle Lampen waren an, und sie hatte Angst, die Augen zu schließen. Obwohl sie vor lauter Anstrengung brannten, blinzelte sie kaum, denn schon jetzt dauerte jedes Blinzeln ein bisschen länger. Doch schließlich weigerten sich ihre Augenlider, sich nach dem Blinzeln wieder zu öffnen, und Angie glitt in das seltsame Stadium zwischen Wachen und Träumen hinüber.

Die Engelsfigur auf der Kommode wurde lebensgroß. Das weiße Porzellan verfärbte sich – blasse pfirsichfarbene Haut, ein Hauch von Rosa auf den Wangenknochen, schwarzes lockiges, wallendes Haar, dunkle Augen, in denen der Widerschein eines Feuers zu sehen war. Mann? Frau? Es war schwer zu sagen. Er oder sie trat einen Schritt nach vorn, hielt dabei aber eine Hand hinter dem Rücken verborgen. Die Flügel mit ihren dichten weißen Federn rauschten, waren unfassbar groß – viel größer, als die Zimmerwände und die Decke es erlaubten.

»Wer bist du?«, fragte Angie.

»Hab keine Angst. Ich bin Engel, die Antwort auf ein Gebet.«

»Mein Gebet?«

Der Engel schüttelte den Kopf. »Nein, nicht deins, Angie. Das Gebet einer Anderen.«

»Was willst du?«, flüsterte sie.

»Frieden.«

»Wollen wir das nicht alle?«, sagte Angie und lachte kurz auf.

»Gerechtigkeit. Rache. Vollendung.« Engel zog die Hand hinter dem Rücken hervor und schwang ein langes silbernes Schwert. Von seiner Spitze züngelten Flammen in den Nachthimmel, wo eigentlich die Zimmerdecke sein sollte.

Gott sei Dank ist die Decke verschwunden, dachte Angie in ihrem Wachschlaf. Brandflecken wären wirklich sehr schwer zu erklären gewesen.

Als der Wecker klingelte, schreckte Angie aus dem Schaukelstuhl auf. Sie hatte nicht einschlafen wollen. Mit einem kurzen Rundblick durchs Zimmer vergewisserte sie sich, dass alles noch an seinem Platz war. Es warteten weder neue Briefe noch seltsame Geschenke auf sie. Allerdings stand sie unter dem seltsamen Eindruck eines Traums über schlagende Flügel, doch im Tageslicht verflog diese Erinnerung rasch.

Völlig übernächtigt machte sie sich für die Schule fertig. Bevor sie aus dem Haus ging, überprüfte Angie zweimal ihre Kleidung und ihr Make-up. Niemand hatte sich an ihr zu schaffen gemacht.

Bis zur Schule waren es nur anderthalb Kilometer, deshalb hatte sie keinen Platz im Schulbus bekommen. Seit ihrer Rückkehr hatte Mom darauf bestanden, sie jeden Morgen zur Schule zu fahren – als ob der fünfzehnminütige Marsch ihre unschuldige Tochter tödlichen Gefahren aussetzen würde. Tja, dafür war es ein bisschen zu spät.

An diesem Morgen musste Mom allerdings schon ganz früh zur monatlichen Personalversammlung der Bibliothek, also bat Angie sie darum, einfach zu Fuß zur Schule gehen zu dürfen. Es wehte ein scharfer Wind, doch in ihrer neuen Daunenjacke war sie bestens gerüstet.

Sie war nicht die Einzige, die schon auf den Beinen war. Mrs Harris ging mit dem Kinderwagen spazieren. Sie winkte Angie zu und kam an ihre Seite. »Wie geht es denn deiner Mutter zurzeit?«, fragte sie. Ihr Ton machte deutlich, dass sie auf Moms Schwangerschaft anspielte.

Angie zuckte mit den Achseln. »Sie redet nicht viel darüber. Ich glaube, die morgendliche Übelkeit ist vorbei. Es ist schon verrückt, in ihrem Alter. Ich meine …«

Sie verstummte, weil ihr klar wurde, dass Mrs Harris im selben Alter war wie Mom.

Mrs Harris lachte. »Sie ist wirklich mutig. George und ich haben es auch jahrelang versucht. Schließlich erkannten wir die Zeichen und haben Sammy adoptiert. Er ist solch ein Segen.«

Sie zog die Decke zurück und enthüllte einen schlafenden Engel. Lange blasse Wimpern bürsteten seine speckigen Wangen. Seine Lippen waren gekräuselt, ein kleines Bläschen hing daran. Angie fand, er war das Schönste, was sie je gesehen hatte.

»Wie alt ist er?«, fragte sie. »Es wäre doch toll, wenn er und Moms Baby Spielkameraden würden.«

»Er wird bald zehn Monate«, erwiderte Mrs Harris. »Er krabbelt schon tüchtig, und bald wird er seine ersten Schritte machen. So ruhig wie jetzt ist er fast nie, glaub mir.«

»Brauchen Sie vielleicht ab und zu einen Babysitter?« Die Frage war ihr entschlüpft, ohne dass Angie darüber nachgedacht hatte. Sie hatte doch gar keine Ahnung vom Babysitten, hatte in der Schule noch nicht mal den Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Aber es würde bestimmt eine gute Übung sein, wenn Mom ihr dann später ihren kleinen Bruder oder ihre Schwester aufhalste.

Mrs Harris lächelte. »Danke für das Angebot, Angie! George und ich würden gern mal einen Abend ausgehen, sosehr wir den Kleinen auch lieben. Vielleicht können wir etwas Regelmäßiges vereinbaren. Ich erinnere mich noch gut, wie willkommen mir in deinem Alter ein kleines Zusatzeinkommen war.«

»Sammy«, sagte Angie und sah dem kleinen Jungen beim Atmen zu. Das Bläschen an seinen Lippen zitterte.

»Samuel bedeutet ›von Gott erbeten‹. Wir haben gebetet, und er hat uns wirklich erhört.«

»Wissen Sie etwas über ihn? Er sieht ja recht amerikanisch aus.« Die anderen adoptierten Kinder, die Angie kannte, stammten aus Mittelamerika und China.

»Es war eine private Adoption. Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben, und der Vater war viel zu mitgenommen, um ihn allein großzuziehen.«

»Das ist sehr traurig. Der arme kleine Kerl.« Angie konnte kaum ihre Augen abwenden. »Aber er hat Glück, dass er Sie und Dr. Harris hat. Ich hoffe, Moms Baby wird auch so süß. Oh, Mist. Ich muss in die Schule. Rufen Sie mich einfach an, ja?«

Angie beschleunigte ihre Schritte und ließ die Sackgasse hinter sich. Wegen des kleinen Plauschs würde sie zu spät kommen, doch das war es wert, wenn ihr das einen regelmäßigen Job verschafft hatte. Ein Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Ein blaues Auto fuhr langsam über die Kreuzung.

»Soll ich dich mitnehmen?« Greg hatte den Kopf durchs Fenster gestreckt.

Angie zögerte. Was zwischen ihnen gelaufen war, war ihr sehr unangenehm, und das war noch untertrieben.

»Komm schon. Spring rein. Draußen ist es eiskalt.«

»Danke.« Angie überquerte die Straße, öffnete die Beifahrertür, stieg ein und verstaute ihren Rucksack zwischen ihren Füßen. Dann beugte sie sich vornüber und betrachtete die Unterseite ihrer Fingernägel.

Greg ließ das Stoppschild hinter sich. »Wie läuft es denn so? Wir haben uns lange nicht mehr gesprochen. Ich hab fast das Gefühl, du bist mir aus dem Weg gegangen.«

Angies Verlegenheit verwandelte sich in Ärger. »Natürlich haben wir uns nicht gesprochen. Es gab ja auch nichts zu sagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Liv nichts mehr mit mir zu tun haben will.«

»Ich habe ihr gar nichts erzählt«, sagte Greg leise. »Glaubst du etwa, ich bin verrückt?«

»Oh. Tja, danke. Ich, äh, ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich meine, ich war nicht …« Ihr fiel einfach keine Erklärung ein, jedenfalls keine, die glaubwürdig klang.

»Ange, schon okay. Wirklich. Du kannst mir gern Bescheid sagen, wenn es dich wieder überkommt.« Greg nahm die rechte Hand vom Steuer und legte sie auf ihr Knie.

Wie bitte? »Wie bitte?«

»Es war … vielleicht ein bisschen blöd von mir, mittendrin aufzuhören.«

Jetzt war Angie völlig verwirrt. »Aber es war doch richtig. Wenn du und Liv …«

»Tja, sind wir aber nicht«, unterbrach er sie. »Ich meine, wir sind nicht offiziell ein Paar oder so. Wir haben nur Spaß zusammen. Nur dass es eben nicht solchen Spaß macht.«

Er fuhr an den Rand und stellte den Motor ab. Sie waren jetzt nur noch ein paar Straßen von der Schule entfernt. »Ange«, sagte Greg und nahm ihre Hand, »ich habe dich wirklich sehr vermisst. Dann tauchst du für zwei Sekunden in meinem Leben auf, um gleich danach wieder zu verschwinden. Können wir nicht mal schauen, ob es zwischen uns immer noch funkt?«

»Aber was ist dann mit Li…«

Greg brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. Angie schloss die Augen und hörte wieder das Rauschen des Strömungskanals, spürte die Hitze einer lange vergangenen Sonne. Die fehlenden drei Jahre fielen von ihr ab, und sie war wieder dreizehn und im unwiderstehlichen Sog der ersten Liebe. Angie seufzte an seinem Mund. Greg legte die Arme um sie und zog sie in seltsam verdrehter Haltung näher zu sich heran. Der Schaltknüppel stach ihr in die Rippen. »Autsch«, murmelte sie.

»Das ist ganz schön unbequem, was?«, bemerkte er. Seine Augen wanderten zum Rücksitz. Angies Augen wanderten zur Uhr. Ihnen blieben noch fünfzehn Minuten, dann fing die Schule an. Lohnte sich das? Ja, zum Teufel, drängte sie eine innere Stimme. Na schön, die gute Frau Dr. Grant hatte ihr ja gesagt, sie solle auf ihre Stimmen hören! Warum also nicht?

Sie krabbelten zu beiden Seiten aus dem Wagen und trafen sich auf dem Rücksitz. »Kopf runter«, flüsterte Greg und machte sich selbst ganz flach. »Duck dich.«

Angie kicherte und zog ihn zu sich hinunter. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Beine um seine Taille. Ganz schön verwegen. Aber wie sollten sie sonst dort liegen? Es war nicht gerade ein großes Auto.

Er barg sein Gesicht an ihrem Hals und küsste sie entlang des V-Ausschnitts, bis er am Dekolletee angelangt war.

Angies Haut prickelte bei jeder Berührung. »Und, funkt es noch?«, fragte sie. Ihr Atem war flach, und sie bekam schon eine Gänsehaut, wenn sie nur in seine olivfarbenen Augen blickte.

»Wie bei einem verdammten Feuerwerk!«, lachte Greg und rieb seine Wange an ihrer. Sein Gesicht war ein bisschen stachelig, was in Angie ein seltsames Déjà-vu-Gefühl auslöste. Mit der Zungenspitze leckte sie über seine Lippen. Das machte ihn wirklich scharf. Die Küsse wurden intensiver, seine Hände glitten in ihren Ausschnitt und fanden ihren BH. Dann küsste er sie nicht mehr. Stattdessen bekam er einen konzentrierten Gesichtsausdruck und presste seine Hüfte fester gegen ihren Körper. Dort, wo ihr Shirt hochgerutscht war, kratzte Gregs Pullover auf ihrer zarten Haut. Seine Gürtelschnalle grub sich in ihre Weichteile. Sie wimmerte, was er falsch verstand, deshalb lachte er nur und drückte sich durch seine Jeans hindurch noch fester gegen sie. Unvermittelt bekam Angie es mit der Angst zu tun. Was tat sie da? Er würde sich schon bald nicht mehr beherrschen können. Nein! Die Schule fing doch an. Aber sie musste einfach, sie musste ihn näher bei sich haben, wollte noch mehr von ihm. Kleine Tierlaute in ihrer Kehle flehten ihn an. Sein Atem ging stoßweise. Er stöhnte ein Wort, das vielleicht ihr Name gewesen sein könnte. Dann war er mit ihr fertig, lehnte sich zurück und ließ seinen Kopf an die Fensterscheibe sinken. »Oh, Mann«, keuchte er. »Oh, Mann.«

Angie war kalt, sie fühlte sich entblößt, ihr Oberteil war bis zum Hals hochgeschoben. Ihr Körper war verwirrt, er pochte, verlangte noch immer nach etwas, das unerreichbar war. »Was …?«

Greg schlug gegen den Autohimmel und jubelte: »Angela Gracie, du bist ein absoluter Geheimtipp. Du siehst vielleicht wie ein Hausfrauengolf aus, doch unter der Haube bist du ein heißer, turboschneller Porsche. Was für ein hammermäßiger Ritt.«

Hielt er das etwa für ein Kompliment? Angie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Er vergrub seine Hände in ihren Haaren. »Und das, obwohl wir angezogen waren. Ich wusste, dass zwischen uns noch immer was ist.«

»Heißt das … Heißt das, dass du es Liv jetzt erzählst? Das mit uns?«, fragte Angie mit dünner Stimme.

Gregs Gesicht bekam einen leicht verwirrten Ausdruck. »Oh, äh, na ja. Ich … Lass mir ein bisschen Zeit, damit ich mir überlegen kann, wie. Ich will nicht, dass sie traurig ist. Das verstehst du sicher. Das ist ja gerade das Tolle an dir. Du weißt, wie Liv ist.« Er küsste Angie auf die Nase.

»Jetzt komm. Setz dich wieder vorn rein. Wir sind echt spät dran.« Er warf ihr ein breites Grinsen zu, das ihr bis in die Zehenspitzen fuhr.

Angie erhob sich vom Rücksitz und glättete ihre Kleider, bevor sie die Tür öffnete, um auszusteigen. Greg mochte sie noch immer, das war gut. Das Problem war, sie wusste nicht, ob sie sich großartig oder bescheuert fühlen sollte. Und ihr Körper verlangte nach ihm.