Kapitel 11 Erscheinung
Am Dienstagmorgen lauerte Greg dir auf, Angie. Du entdecktest ihn, wie er direkt hinter der Eingangstür der Schule »ganz zufällig« an der Wand lehnte und sich vor dir in Pose warf. »Morgen, meine Schöne«, sagte er.
Du warst nicht schön, das wusstest du genau. Vor allen Dingen nicht an diesem Morgen, nachdem du dich die ganze Nacht nur herumgeworfen hattest und an richtigen Schlaf nicht zu denken gewesen war. Sosehr du auch sonst den Blick in den Spiegel miedst, diesmal hattest du dich tatsächlich ganze fünf Minuten darin betrachtet und versucht, deine Augenringe zu kaschieren.
»Morgen, Greg.« Du warst überrascht, dass sein Anblick keinerlei warme, prickelnde Gefühle in dir hervorrief. Tatsächlich warst du einfach nur ein wenig genervt.
»Ich hab’s ihr gesagt«, sagte er.
Plötzlich kapiertest du gar nichts mehr. War das irgendwie wichtig?
Er trat auf dich zu, legte dir die Hände auf die Schultern und schüttelte dich ein wenig. »Hast du verstanden? Ich habe Livvie das mit uns gesagt. Ich wollte es dir gestern schon erzählen, aber du warst nicht da.«
»Was hast du über uns gesagt?«, fragtest du.
»Na ja, die Einzelheiten hab ich ihr natürlich erspart«, sagte er, kam noch näher und drückte seine Hüften anzüglich gegen deinen Körper.
Du bist einen Schritt zurückgewichen, sodass seine Hände von unseren Schultern fielen. Du hast ihn neugierig gemustert. Was an ihm hatte dich vorher so angezogen?
Er spürte deine Distanziertheit. »Was ist los, Ange?«, fragte er. »Ich hab getan, was du wolltest. Ich habe mit ihr Schluss gemacht. Junge, Junge, als ich gesehen habe, wie der Typ beim Ball seine Pfoten überall an dir hatte, bin ich fast durchgedreht. Ich hab die Botschaft verstanden. Ich hätte an seiner Stelle sein sollen, das hab ich kapiert.« Mit einem einfältigen Lächeln im Gesicht machte er einen Schritt auf dich zu.
Er war verblüfft, Angie, als du dich wegdrehtest und seiner Berührung wieder ausgewichen bist. »Nein, Greg. Die Sache ist vorbei. Vielleicht sollte es letztendlich eben doch nicht sein.«
Gut gemacht, Mädchen, jubelten wir im Stillen.
Doch da packte Greg dich von hinten am rechten Arm und drückte dir seine Finger fest ins Fleisch. »Wie bitte? Du Schlampe! Du manipulative Schlampe!« Seine Finger griffen noch fester zu.
Der Schmerz strahlte in unseren ganzen Körper aus. In deinem Kopf ertönte ein lautes Rauschen – das Geräusch von riesigen weißen Flügeln, die sich ausbreiteten –, was Gregs nächste Worte fast übertönte.
»Du wolltest wohl nur, dass ich mit ihr Schluss mache! Du hast mich reingelegt.« Er riss heftig an unserem Arm. »Du Miststück. Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.«
Mit schmalen Augen wandtest du dich langsam um und sahst ihn an. Unsere linke Hand ballte sich zur Faust. Eine schreckliche Helligkeit füllte dein Blickfeld aus. Du tratst zur Seite, zogst dich nach innen zurück, und ein anderer nahm deinen Platz ein. Engel. Kraft und Anmut ließen uns immer größer werden.
Gregs Augen weiteten sich vor Staunen.
Ohne jede Vorwarnung schlugen wir ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Unsere harten Fingerknöchel krachten gegen seinen Wangenknochen.
Überrascht schrie er auf. »Scheiße!«
Greg ließ unseren Arm fallen und wich zurück, eine Hand gegen das Gesicht gepresst. Dort, wo ihn der Ring getroffen hatte, blutete er.
Engels tiefe Stimme sackte noch eine Oktave nach unten. »Rühr sie niemals wieder an«, befahl er ihm.
»Du bist ja total durchgeknallt!«, rief Greg im Weglaufen. »Und es wird dir noch leidtun, dass du das gemacht hast.«
Wir lachten über seinen Abgang. Du auch, Angie. Du lachtest mit. Gemeinsam waren wir unschlagbar.
Angie rieb sich ihre schmerzende Hand und fragte sich, was über sie gekommen war. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie jemanden geschlagen! Dennoch fühlte es sich irgendwie gut an, dass sie Greg eins ausgewischt hatte. Es geschah ihm recht. Er hatte sie benutzt und dann beiseitegeschoben – bis ihn die Eifersucht gepackt hatte. Er verdiente noch viel mehr als nur einen Schlag ins Gesicht.
Es war Angie noch immer ein Rätsel, warum sie sich so unglaublich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Vielleicht hatte das Begehren von Kleiner Frau gepaart mit ihrer eigenen Verliebtheit diese verheerenden Auswirkungen gehabt. Angie selbst konnte nur ahnen, was sie getan hatte, um Greg zu erobern, doch dankenswerterweise würde sie sich an die intimen Details nie erinnern müssen. Bis zu ihrem Ende hatte Kleine Frau für sich behalten, was genau auf Gregs Rücksitz passiert war.
Ein Anflug von Schuld und Bedauern schmälerte diesen Moment des Triumphs. Ohne die rohe Energie von Kleiner Frau fühlte sie sich irgendwie leerer.
Sie war die Erste, die sie verlassen hatte. Jetzt musste Angie eine Entscheidung treffen. Wer war als Nächstes an der Reihe? Petze war die Bedauernswerteste von allen, sie hatte die schlimmsten Verletzungen und den größten Verrat erlitten. Es würde ein Akt der Gnade sein, die unmittelbaren Erinnerungen an Junkel auszulöschen, sodass sie Angie nie überschwemmen konnten. Oder etwa nicht? Und dann war da noch Pfadfinderin, kompetent, praktisch und begabt. Der Gedanke daran, sie zu verlieren, war Angie fast zuwider. Und was war mit Engel? Irgendwie war es cool, einen persönlichen Beschützer zu haben, einen starken Freund, der für sie eintrat – bis auf die Tatsache, dass sich dieser Freund in ihrem Inneren befand. Was bedeutete, dass sie genauso gut auch für sich selbst eintreten konnte.
Schließlich hatte sie ihre Entscheidung getroffen.
Greg und Livvie fanden ihre eigene Form der Rache schneller, als Angie es für möglich gehalten hätte. Während der Mittagspause verständigten sie die Presse. Am Ende des Schultags hatte sich bereits ein Haufen Journalisten vor dem Schulgelände zusammengerottet. Auf dem Lehrerparkplatz standen zwei Ü-Wagen. Die Nachrichtensprecher der örtlichen Fünf-Uhr-Nachrichten geiferten nach einem Interview mit dem vermissten Mädchen, das so plötzlich wieder aufgetaucht war. Sie hatten sich mit ihren Kamerateams postiert und warteten auf sie.
Als Angie am Nachmittag durch die Eingangstür der Schule hinaus in die kalte Novemberluft trat, zuckten Blitzlichter, und man hielt ihr einen Strauß von Mikrofonen ins Gesicht. Die Fragen trafen sie wie ein Kugelhagel. Wer? Wie? Wo? Wann? Warum? Und, natürlich: Wie geht es Ihnen angesichts Ihres schrecklichen Martyriums, Ms Chapman?
Sie blinzelte verwirrt, war geblendet von den Blitzlichtern. Sie spürte, wie jemand sie am Arm packte; Abraim und Ali zogen sie zurück ins Schulgebäude. »Wir kennen einen Weg, um dich heimlich hier rauszubringen«, sagte Abraim. Eilig führten die beiden Angie zu ihrem Auto, das hinter einer Seitentür parkte, die aus dem Chemielabor direkt nach draußen führte.
»Woher wusstet ihr, dass es um mich ging?«, fragte sie.
Abraim nahm ihre Hand. »Ich muss gestehen, ich habe dich nach dem Ball gegoogelt. Ich habe mich gefragt, wieso ich dich all die Jahre übersehen habe. Als mir klar wurde, dass du das legendäre vermisste Mädchen warst und dass deine Rückkehr in der Presse keinerlei Beachtung gefunden hatte, dachte ich mir, es sei vielleicht absichtlich verschwiegen worden. Bist du in einem Zeugenschutzprogramm oder so?«
Angie glitt auf den Rücksitz und kauerte sich flach hin. »Ich habe zwar eine Identitätskrise, aber nicht diese Form von Identitätskrise. Alles, was ich über die Jahre meines Verschwindens weiß, stammt aus zweiter Hand. Ich kann mich tatsächlich an rein gar nichts erinnern. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich die Fragen der Journalisten also nicht beantworten. Könnt ihr mich nach Hause bringen, ohne dass mich jemand sieht?«
»Klar. Das hatten wir ja sowieso vor.« Abraim ließ die Reifen aufjaulen und fuhr auf kleinen Nebenstraßen in Angies Wohnviertel. »Ach, du meine Güte«, sagte er, als er sich dem Haus näherte. »Du stehst unter Polizeischutz.«
Angie schoss hoch. Zwei Streifenwagen parkten in ihrer Einfahrt. Ü-Wagen waren keine zu sehen. Unvermittelt schnürte sich ihre Brust zusammen. Das Timing konnte nicht stimmen. Vielleicht war die Polizei gar nicht wegen der Presse hier, sonst wäre sie bestimmt auch vor der Schule aufgetaucht. »Lasst mich einfach hier raus. Ihr seid wirklich großartig«, dankte sie den beiden.
Sie ging ins Haus und traf auf Detective Brogan und ihre Eltern, die mitten am Tag zu Hause waren. Drei weitere Polizeibeamte standen nervös in der Küche herum. Brogan sah seriös aus in seinem Anzug.
»Hallo zusammen«, sagte Angie so unbefangen wie möglich. Nur ihr Puls war ein bisschen zu schnell. »Was gibt’s?«
»Wir haben in deinem Fall einen entscheidenden Durchbruch erzielt«, verkündete Brogan.
»Das ist ja toll!«, sagte Angie freudig – oder zumindest sollte es freudig klingen. Mit einem Mal war ihr Herz furchtbar schwer. Sie bekam kaum noch Luft. »Was … was ist denn passiert?«
»Wir haben sie gefunden«, sagte Brogan. »Wir haben die Hütte gefunden.«
Während Angie sich ihren Weg zurück in die Normalität erkämpft hatte, hatte Detective Brogan die dürftigen Spuren verfolgt, die ihre Teilpersönlichkeiten offenbart hatten. Zwar waren sie wirklich nicht besonders ergiebig gewesen, doch er war ein Mann, der nicht das Kleinste übersah, wie Angie bereits festgestellt hatte.
In den Therapiesitzungen hatte Pfadfinderin die rustikale Hütte, in der sie gelebt hatte, gut beschrieben Sie hatte sich auch an ein paar Landmarken entlang ihres Rückwegs erinnert und Dr. Grant erlaubt, die Informationen weiterzugeben. Das hatte gereicht.
Zwei Spezialbeamte der Forstbehörde, die dem Angeles National Forest zugeteilt waren, hatten schließlich die abgelegene, von Hand erbaute Hütte entdeckt. Sie lag tief in den Wäldern der tausend Quadratmeilen großen San-Gabriel-Mountains verborgen und war nicht an das Versorgungsnetz angeschlossen. Die Hütte war nicht nur weit entfernt von allen bekannten Wanderwegen, sondern auch ein ganzes Stück weg von den Zufahrtswegen der Feuerwehr, die die Berge durchkreuzten.
»Am Kamin war ein raffiniert konstruierter Filter angebracht, damit keinerlei Rauch zu sehen war«, sagte Brogan nüchtern. »Ohne das hätten wir dich vielleicht schon vor Jahren gefunden.« Das Bedauern ließ seine Stimme tiefer klingen.
»Wir haben jede Menge Spuren von dir entdeckt. Haare und Fasern. Seile und Fußeisen. Wir sind absolut sicher, dass wir die richtige Hütte gefunden haben.«
Haare von ihr und Fasern. Bruchteile von ihr selbst. Die sie zurückgelassen hatte. Statt eines freudigen Gefühls empfand Angie nur Übelkeit.
»Wenn man vom Staub und den Spinnweben ausgeht, ist dort seit Wochen niemand mehr gewesen«, fuhr Brogan fort.
Mom schnappte nach Luft. »Dann ist er also weg? Einfach verschwunden?« Sie ließ sich in einen Sessel sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
Brogan legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft.
In diesem Moment verstand Angie, was für ein Rettungsanker er für ihre Mutter während der letzten drei Jahre gewesen sein musste.
Dad fuchtelte entsetzt mit den Armen. »Das war’s? Keine Verhaftung? Kein Gerichtsverfahren? Keine Strafe?«, brüllte er dicht vor Brogans Gesicht. »Der Kerl sollte gehängt werden für das, was er getan hat!«
»Natürlich suchen wir weiter«, versicherte ihm Brogan. »Wir fahnden nach ihm. In der Hütte haben wir keinerlei persönliche Hinterlassenschaften gefunden, deshalb durchkämmen wir nun die nähere Umgebung und hoffen darauf, weitere Hinweise auf die Identität des Entführers zu finden. Nur Geduld. Ich bin mir sicher, dass wir bald auf alles eine Antwort haben werden.«
Seile und Fußeisen. Schorf und Haut. Angie drehte sich der Magen um. Mom schrie auf und griff nach ihr. Aber es war zu spät. Ihre Kleider waren bereits voll mit Erbrochenem.
»Oh«, sagte Angie, »tut mir leid.« Ihre Beine sackten unter ihr weg, und sie geriet ins Straucheln. Sie versuchte, langsam durch die Nase zu atmen und gegen den Schwindel anzukämpfen.
Brogan tätschelte ihr den Rücken und zog ein sauberes weißes Taschentuch hervor. Mit lahmer Geste hielt er es ihr hin. »Das war meine Schuld, Angie. Bitte entschuldige. Zu viele Informationen in zu kurzer Zeit. Das war wirklich unüberlegt von mir.«
Mom fasste Angie um die Taille. »Wenn das alles ist, Phil, dann bringe ich Angie jetzt nach oben ins Bad.«
Angie warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Brogan ihr traurig hinterherschaute. Seine Schultern hoben sich mit einem tiefen Seufzer. Dann kniete er sich auf den Teppich und tupfte mit seinem Taschentuch das Erbrochene auf.
Oben im Bad stellte Mom die Brause an. »Ich wasche deine Sachen aus, mein Schatz. Reich sie mir einfach heraus.«
Angie zog ihre sauer riechende Jeans und den Pullover aus und reichte beides durch den Türspalt. Dann verschloss sie die Tür ganz fest – gegen Eindringlinge, gegen die ganze Welt. Ihr Magen war noch immer in Aufruhr, es fühlte sich an, als ob in ihrem Körper eine Schlacht stattfand.
Der Spiegel war noch nicht beschlagen, und sie konnte nicht anders als hineinsehen. Sie sah sich in die Augen, nur dass sie nicht nach sich selbst Ausschau hielt. »Was wisst ihr?«, fragte Angie ihr Spiegelbild. »Ich weiß, dass ihr mir etwas verheimlicht. Warum?«
Sie dachte an die morsche Veranda, wo sich alle versammelt hatten, kurz bevor Kleine Frau gelöscht worden war. Ein paar Minuten lang hatte es zwischen ihnen keine Wände mehr gegeben. Ein Moment absoluter Ehrlichkeit. Nun hatten sie sich wieder vor ihr abgeschirmt.
»Wo seid ihr?«, flüsterte sie. »Bitte.« Jemand blickte sie aus ihren eigenen Augen an, und hinter ihrem Rücken deutete ein Schimmern im Wassernebel der Brause darauf hin, dass eine größere Person hinter ihr stand. War es eine Halluzination?
Sie blinzelte heftig, und der Nebel war wieder nur Nebel. Angie stieg über den Wannenrand, zog den Vorhang zu und ließ das heiße Wasser auf ihre Schultern prasseln. Dann setzte sie sich auf die Gummimatte, schloss die Augen und gab sich ganz dem auf sie niederregnenden Wasser hin. Wie liebkosende Arme floss die Hitze über sie hinweg, und sie hatte jetzt das starke Gefühl, dass jemand gern mit ihr reden, ihr auf einer anderen Ebene begegnen wollte. Mit zusammengekniffenen Augen tauchte sie wieder in das Bild der Veranda ein. Sie rief die Erinnerung an das Geländer, die Stützpfeiler und den rauen, gesplitterten Holzboden ab. Das Prasseln des Wassers wurde leiser. Vögel sangen, weit entfernt, Singammern und Grasmücken.
»Wer ist da?«, fragte Angie und versuchte sich zu konzentrieren.
Graues Holz, morsche Bretter. Eine Veranda. Ganz allmählich fügte sich alles zu dem Ort zusammen, den Angie kannte.
Pfadfinderin hob den Kopf und blickte mit Tränen in den Augen von ihrer Näharbeit zu dem leeren Fleck, wo der Schaukelstuhl von Kleiner Frau gestanden hatte. Petze war nirgends zu sehen. »Sie ist noch zu jung dafür«, erklärte Pfadfinderin. »Ich habe sie zum Reiten geschickt. Und ich muss jetzt auch gehen. Engel kommt gleich.«
Geräusche wie von Trompeten und Flügeln durchbrachen die Stille, und Engel erschien in all seiner furchtbaren weißen Herrlichkeit. Seine Wangenknochen waren aus Kristall gemeißelt. Seine Stirn war hoch und glatt, und darüber prangte ein Heiligenschein aus dichten schwarzen Haaren. Aus seinem Rücken wuchsen schneeweiße Flügel, und an seiner Seite hing eine juwelenbesetzte Schwertscheide. Der goldene Griff eines kurzen Schwerts ruhte dicht an seiner Taille. In seinen schwarzen Augen glommen zwei winzige Flammen. Er sah sie an, und Angie zitterte innerlich. Was machte dieses wunderschöne Geschöpf in ihrem Kopf? Ganz bestimmt hatte sie es nicht erschaffen.
»Angela, Hübsches Mädchen, du darfst mich nicht wieder rufen, damit ich dir helfe«, tadelte er sie sanft.
»Aber … Aber ich habe dich nicht gerufen«, widersprach sie. »Du bist … Du bist einfach gekommen, als ich dich brauchte.«
Mit finsterer Entschlossenheit presste er die Lippen zusammen. »Dann musst du mich zerstören.«
Angie keuchte auf. »Nein. Das könnte ich nie tun!«
»Doch, das wirst du«, sagte er mit fester Stimme. »Du musst. Du wirst das mit mir tun, was du auch mit der anderen getan hast, mit Kleiner Frau.«
»Aber du bist so stark und schön«, protestierte Angie. »Ich brauche dich. Ich will dich nicht auslöschen. Kannst du nicht bei mir bleiben? Für immer? Du bist meine innere Kraft.«
Engel schüttelte die dunklen Locken. Seine Stimme war pure Musik. »Du besitzt eigene Kraft und Schönheit und darüber hinaus auch Unschuld. Ich bin jetzt nur noch eine Gefahr für dich. Es ist viel besser, wenn ich ohne jede Erinnerung verschwinde.«
»Warum?«, wollte Angie wissen. »Wegen Greg? Das ist doch lächerlich. Er hat es verdient.«
Leuchtend stand Engel vor ihr. Diesmal griff er nicht nach seinem Schwert. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verborgen. »Angela, unser Hübsches Mädchen, hör mir zu. Pfadfinderin und Kleine Frau haben lange Zeit sehr gelitten. Dann hat die einsame Seele mich ins Leben gerufen. Es war absolut unverzeihlich, was der Mann getan hatte. Sie hat mich aus sich selbst, aus ihrem Schmerz, aus der Kraft ihrer Liebe erschaffen. Sie saß da und schaukelte in der Dunkelheit, einsam und eingesperrt. Sie schaukelte und sang und schluchzte und betete. Ich war die Antwort auf ihr Gebet, ihr Racheengel. Als ich vor ihr erschien, sagte sie nur: ›Rette uns.‹ Und ich antwortete: ›Gib mir eine Waffe, und meine Hände werden dein Werkzeug sein.‹ Sie zog ein silbern funkelndes Schwert aus der gefalteten Decke auf ihrem Schoß. ›Rette uns‹, sagte sie noch einmal leidenschaftlich. ›Schwöre es.‹
Ich hob das Schwert hoch und legte meinen Schwur ab. Mein Arm war von Kraft erfüllt. Um mich herum schien die Sonne, und in der Hitze des Tages breitete ich meine Flügel aus. Noch hatte ich keinen Herzschlag, dem ich folgen konnte, oder Augen zum Sehen. Ich war nur ein Gedanke, aber es war gut, am Leben zu sein. Meine Zeit war fast gekommen.
Ich wartete, während die anderen sein Vertrauen gewannen, damit er nicht bemerkte, wie meine schwarzen Augen ihn von innen beobachteten und die Rettung planten. Die kluge Pfadfinderin erreichte, dass er sie zeitweilig von den Fußeisen losmachte. Ich zauberte ein Leuchten auf ihre blassen Wangen – was er für das Leuchten der Verliebtheit hielt. Kleine Frau machte ihn noch glücklicher und versicherte ihn ihrer Liebe. Er schlief so tief in jener Nacht, in der ich zu ihm kam. Und was Kleine Frau dir gesagt hat, stimmt. Als ich ihre Fesseln löste, ist sie nicht aufgewacht.«
Engel verstummte, und das regenfallartige Prasseln der Brause wurde wieder lauter.
Angie spürte, wie das Gewicht ihres Körpers sie umschloss. »Was hast du getan?«, fragte sie.
Doch Engel verblasste langsam. Seine Augen waren groß und voller Reue.
»Komm zurück!«, rief Angie. »Verlass mich nicht. Bitte.« Sie streckte sich nach ihm aus, versuchte seinen Schwertgurt zu packen, um ihn festzuhalten.
»Nein!« Er breitete seine unfassbar großen weißen Schwingen aus und streckte die Hände nach vorn, um sie wegzustoßen. Blut tropfte von seinen Fingerspitzen. »Was hast du bloß getan?«, schrie Angie in Gedanken. »Oh Gott. Was?«
Die melodische Stimme war jetzt hart und spröde wie Porzellan. »Du darfst es nicht wissen. Wenn du es weißt, dann wissen sie es auch. Bevor die Fragen kommen, bevor die Wände einstürzen, muss ich sterben.«
Das Gefühl, dass jemand bei ihr war, verflog ganz plötzlich, und an seine Stelle trat Eiseskälte. Kälte umgab sie. Kälte floss herab. Angie schauderte, war sich auf einmal wieder ihrer Umgebung bewusst.
Ach ja, die Dusche. Das Wasser war kalt geworden. Sie hatte die Verbindung verloren.
Mit einem bedauernden Seufzer öffnete Angie die Augen. Einen Augenblick später schrie sie auf vor Schreck. Das Wasser, das ihre Beine umspülte, war rot vor Blut.