Kapitel 6 Verdrängung

Angie saß auf dem Bett und versuchte das verbogene Metallschloss wieder zu richten. Auf keinen Fall konnte sie den Eintrag von Pfadfinderin Dad zeigen. Er würde entweder durchdrehen oder ins Koma fallen. Aber vielleicht Mom. Es schien, als wolle sie ihr wirklich beistehen und mehr tun, als sie nur zu den Terminen mit Dr. Grant zu fahren. Angie wusste, wie sehr ihre Mutter sie liebte, selbst wenn alles noch so blöd lief. Würde sie Pfadfinderin auch lieben? Oder die Anderen, wenn Angie erst einmal Kontakt zu ihnen aufgenommen hatte? Vielleicht sollte sie Mom eine Chance geben, alles zu verstehen.

»Mom?«, rief sie. Keine Antwort. Sie rannte runter in die Küche. Alle Lichter waren aus, und es roch nicht nach Frühstück. »Mom?«, rief sie noch einmal beim Reingehen. Keiner da. Sie sprintete wieder die Treppe hoch zum Schlafzimmer ihrer Eltern und klopfte an die offen stehende Tür. »Mom? Bist du dadrin?« Die Schlafzimmertür schwang nach innen auf.

»Sie ist im Supermarkt!«, brüllte Dad aus seinem Arbeitszimmer. »Kauft alles für Mas und Bills Besuch ein.«

»Okay. Danke!«, schrie Angie zurück. Sie wollte gerade nach der Türklinke fassen und die Tür schließen, als sie ein großes, mit braunem Leder bezogenes Buch auf dem Nachttisch entdeckte. Auf Moms Seite. Interessant.

Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, dann schlich sie ins Zimmer und griff nach dem Buch. Tatsächlich war es ein Album. Mom legte liebend gern Alben an. Vielleicht würde Angie mit seiner Hilfe erfahren, was ihre Eltern während der letzten drei Jahre getrieben hatten – welche Urlaube sie verpasst hatte und was sonst noch so. Sie hob den Buchdeckel an, zögerte dann aber. Und wenn das nun Moms Tagebuch war? Ein Gefühl von Schuld ließ sie erschauern, das sie schnell abschüttelte. Schließlich hatte Mom ihr Tagebuch auch gelesen. Es war also nichts weiter als ausgleichende Gerechtigkeit. Geräuschlos schloss sie die Tür, holte tief Luft und schlug das Buch auf. Ihr Blick fiel auf …

Seite eins. Ein Zeitungsartikel vom 3. August mit der Überschrift: PFADFINDERIN AUS ZELTLAGER IM ANGELES NATIONAL FOREST VERSCHWUNDEN. Daneben prangte ihr stark vergrößertes Foto aus der siebten Klasse. Mit Pickeln und allem Drum und Dran.

Seite zwei. 6. August, Überschrift: RANGER DEHNEN DAS SUCHGEBIET WEITER AUS, UM VERMISSTEN TEENAGER ZU FINDEN. IN DER GEGEND WURDEN PUMAS GESICHTET. In eine Karte des Lagerplatzes waren Kreise eingezeichnet, die wie Zielscheiben aussahen.

Angie berührte die steife, vergilbte Seite. Auf ihren nackten Armen bildete sich eine Gänsehaut. Mom hatte alle Zeitungsartikel über sie aufbewahrt. Angies Füße kribbelten, und in ihrem Magen rumorte es, dennoch blätterte sie um auf …

Seite drei. 17. August: PFADFINDERGRUPPE HÄLT MAHNWACHE FÜR VERMISSTES MÄDCHEN. Das Farbfoto auf dem Zeitungsausschnitt zeigte Livvie, Katie und Mrs Wells mit traurigen Gesichtern, die von unten durch Kerzenlicht angestrahlt wurden. Hinter ihnen verschwammen Hunderte Lichtpunkte. Ziemlich rege Beteiligung, aber gebracht hatte es ja wohl nicht sehr viel.

Seite vier. 15. September: BERGRETTUNGSTEAM VON SAN DIMAS VERLEGT GROSSRÄUMIGE SUCHE NACH VERMISSTEM MÄDCHEN IN GRÖSSERE HÖHEN. BELOHNUNG FÜR INFORMATIONEN AUSGESETZT.

Seite fünf. 22. November: EXTREM FRÜHER SCHNEEFALL IN DEN SAN-GABRIEL-MOUNTAINS MACHT WEITERE SPURENSUCHE UNMÖGLICH. RANGER BRECHEN SUCHE NACH VERMISSTEM MÄDCHEN AB. Wow. Gute drei Monate. Dann hatten sie die Suche eingestellt. Ungefähr hundert Tage und das war’s dann.

Seite sechs. 4. Dezember: LA CAÑADA HIGHSCHOOL HÄLT GEDENKFEIER FÜR VERMISSTE SCHÜLERIN AB. Angie las den Artikel so unbeteiligt, als ginge es um jemand anderen. Ein paar Minuten lang suchte sie bekannte Gesichter von Lehrern, Eltern und Freunden auf den Fotos.

Seite siebzehn. 3. August: JAHRESTAG VON ANGELA CHAPMANS VERSCHWINDEN IST TAG DER TRAUER IN DER GEMEINDE VON LA CAÑADA.

Mit zitternden Händen blätterte Angie das restliche Album durch, las jede einzelne vergilbte, ausgeblichene Seite, bis …

Seite zweiundvierzig. Kein Zeitungsartikel. Nur ein wunderschönes Foto: Bäume mit leuchtend orangefarbenen und roten Blättern wölbten sich über eine Rasenfläche. Graue und weiße Rechtecke in der Ferne gaben dem Ganzen eine surreale Note. Im Vordergrund zog ein Topf mit weißen Chrysanthemen den Blick auf sich. Was hatte das Foto in diesem Album zu suchen?

Angie blinzelte. Was ist das, Mom? Ein Park? Ein … Ein Friedhof? Ja genau. Sie hatten die Suche eingestellt und sie für tot erklärt. Wie unbequem von ihr, dass sie genau in dem Moment wieder aufgetaucht war, als Mom und Dad ihr neues Leben ohne sie bereits geplant hatten!

Mit zitternden Händen legte sie das Album zurück, öffnete die Tür und ging wie ein Zombie in ihr Zimmer. Wie eine lebende Tote. Genau das war sie.

Sie dachte an den Brief von Pfadfinderin und dass sie ihn beinahe Mom gezeigt hätte. Verdammt. Sie musste wirklich ganz allein mit allem zurechtkommen.

Da war dieses Schlaflied, dass Grandma Angie immer vorgesungen hatte, als sie klein war und in dem es hieß: »So schenk’ ich dir ein Schaf, mit einer goldenen Schelle fein, das soll dein Spielgeselle sein.« Damals war Angie zu klein gewesen, um alle Wörter zu verstehen – was war bloß eine Schelle? Doch die Melodie hatte sie all die Jahre über im Kopf behalten.

Lautlos sang sie sich das Lied vor und wartete darauf, dass Grandma kam. Wieder und wieder lief sie in ihrem Zimmer im Kreis. »Schlaf, Kindchen, schlaf, der Vater hüt’ die Schaf, die Mutter schüttelt’s Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein, schlaf, Kindchen, schlaf.« Es waren seltsame Worte. Die getragene Melodie verstärkte Angies traurige Stimmung, doch noch immer weinte sie nicht.

Das düstere Gefühl verflüchtigte sich erst, als ein Chor fröhlicher Begrüßungsrufe durch den Flur schallte. Grandmas Stimme! Angies Name war zu hören.

»Ich komme!« Sie kämmte sich mit den Fingern durch die Haare, vermied es jedoch, in den Spiegel zu sehen. Es war noch immer zu erschreckend.

»Jetzt komm runter, Liebling!« Die Hände in die Hüften gestemmt, wartete Grandma am Fuß der Treppe. »Wirst du mich wohl umarmen?«

Angie warf sich in ihre Arme, dankbar, dass sie noch immer nach Lavendel und Niveaseife roch.

Nachdem sie Angie lange gedrückt hatte, hielt Grandma sie auf Armeslänge von sich weg und musterte sie: »Tja, ich fürchte, ich bin einige Zentimeter geschrumpft, seit du mich zuletzt gesehen hast«, sagte sie. »Und ich habe auch noch ein paar Falten mehr und weißere Haare bekommen. Du aber bist so hübsch wie immer.«

»Das kann man sagen«, bestätigte eine männliche Stimme. »Hübsch wie immer. Hast du noch so eine Umarmung für deinen Lieblingsonkel übrig?«

Angie sah den Sprecher an. Oben kurz geschorene Haare, unten ein kantiger Kiefer. Das unvertraute Gesicht dazwischen rutschte immer wieder aus ihrem Blickfeld. Sie blinzelte. Wie lange war es her, seit sie Junkel Bill zuletzt gesehen hatte? Er musste knapp achtzehn gewesen sein, als er in die Armee eintrat, also war sie damals zehn gewesen. Nach ihrer Erinnerung vor drei Jahren, doch tatsächlich war es fast sechs Jahre her. Diese sechs Jahre hatten den pickeligen Teenager in einen kraftstrotzenden Mann verwandelt.

Sie versuchte sein jugendliches Gesicht mit seinem jetzigen Aussehen in Einklang zu bringen und musterte ihn neugierig. Mit dickeren, kräftigeren Armen als in ihrer Erinnerung kam er auf Angie zu und presste sie an seine muskulöse Brust.

»Sieh dich an, ganz erwachsen«, sagte er in ihr Haar. Sein Körper war warm und verströmte den würzigen Duft seines Duschgels. Sein Arm streichelte ihren Rücken, und sie schauderte.

Die getragene Melodie von »Schlaf, Kindchen, schlaf« ertönte in ihren Ohren, und eine leise, hohe Stimme sang in ihrem Kopf: Dein Vater hüt’ die Schaf.

Moms Worte kamen wie aus weiter Ferne. »Ich habe in der Küche das Mittagessen vorbereitet.«

»Ich schenke die Getränke ein«, sagte Grandma und folgte ihr in Richtung Küche. »Haben schon alle Hunger?«

Angie hörte das tiefe Rumpeln in Junkel Bills Brust, als er antwortete: »Mmmm. Ich sterbe vor Hunger.«

Er hob Angies Kinn an, um sie anzusehen. »Noch hübscher, würde ich sagen.« Mit der Fingerspitze wischte er über ihre Nase, wobei er sie mit dem anderen Arm noch immer an sich drückte. Ein Lächeln umspielte seinen Mundwinkel. Da war etwas an diesem Lächeln …

Anscheinend ohne jeden Grund begann Angies Herz zu rasen. Sie entzog sich seiner Umarmung und spürte seinen Widerstand. Er hielt sie zu lange fest. »Die … Alle sind schon da …«, stammelte sie und deutete zur Küche.

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Pst«, sagte er. »Nicht petzen.« Und dabei zwinkerte er ihr zu, als ob das irgendein Insiderwitz wäre. Seine Augen blitzten auf eine eigenartige, fast vertraute Weise, und sein Gesicht verschwamm, geriet aus ihrem Fokus, wirbelnd und dunkel und zu nah an ihrem. Ihre Knie gaben nach. Kräftige Arme hielten sie ganz fest. Angie hielt den Atem an. Die Stimme eines kleinen Mädchens rief: Schnell, Angie. Versteck dich!

Sie drehte den Kopf und suchte nach dem Mädchen, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihren Augen. Sie schloss die Lider und rieb sie. Ein Stampfen ertönte in ihren Ohren, wie das Geräusch eines galoppierenden Pferdes. Hinter ihren geschlossenen Lidern erschien das Bild eines blassen Kindes mit langen blonden Haaren, die hinter ihm herwehten. Das kleine Mädchen jagte auf einem riesigen braunen Pferd davon.

»Komm zurück«, flehte Angie. »Wer bist du?«

Die leise Stimme wehte über dem Lärm galoppierender Hufe zu ihr. Ich darf es nicht erzählen. Nicht petzen.

Die Haustür fiel ins Schloss. Das Galoppieren hörte auf. Angie öffnete die Augen. Ihr Atem entwich in einem langen Seufzer. Sie hatte den Geschmack von Schokoladeneis auf der Zunge.

»Was für ein netter Besuch«, sagte Mom.

Angie ließ den Blick durchs Haus schweifen. Sie waren allein. »Was? Sie sind schon weg?«

»Ich weiß. Die Zeit ist wie im Flug vergangen!«, sagte Mom mit breitem Lächeln. »Und weil Grandma mir nach dem Abendessen mit dem Abwasch geholfen hat, während du mit Bill unterwegs warst, können wir beide für den Rest des Abends die Füße hochlegen.«

»Abendessen?« Angie schaute durch die Fenster. Draußen war es stockdunkel.

»Komm. Wir laden uns einen Film runter. Heute ist unser Mädelsabend.« Mom hakte sich bei Angie unter und zog sie ins Wohnzimmer. »Hast du die Cortisoncreme gefunden und auf den Ausschlag aufgetragen? Es sieht aus, als würde es schon besser.«

Angies rechter Arm war mit verblassenden rosa Flecken bedeckt. Nur einer war leuchtend rot und schmerzhaft wie eine frische Brandwunde. Flecken, die auftauchten und wieder verschwanden? Was kam als Nächstes?

»Glaubst du, es lag an den Shrimps?«, fragte Mom. »Früher hast du nie allergisch reagiert.«

»Keine Ahnung, Mom«, sagte Angie ein wenig ungeduldig. Ohne Zweifel hatte sie gegessen. Ihr Magen war voll und rumorte. Aber was? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. »Wo ist denn Dad?«

»Er erledigt Papierkram in seinem Arbeitszimmer. Hast du nicht mitbekommen, wie er wegen der großen Präsentation gejammert hat? Er hat im Moment wohl mehr Arbeit als je zuvor.«

»Tut mir leid. Ich war anscheinend ein bisschen weggetreten«, sagte Angie. Himmel! Acht Stunden lang weggetreten? Wie war das möglich?

Mom reichte Angie die Fernbedienung. »Du suchst aus.«

Sie umklammerte die Fernbedienung, um das Zittern in ihren Händen zu verbergen, und ging die nichtssagenden Filmtitel durch. Die meisten Filme waren erst ab 18, also war sie noch zu jung dafür. Außerdem wollte sie zusammen mit ihrer Mutter sowieso nichts mit zu vielen Gewalt- oder Sexszenen anschauen.

»Willst du eine Decke?«, fragte Mom. »Du hast eine Gänsehaut.« Sie griff in den Korb mit den Decken, zog zwei davon heraus und rückte ein Stück näher an Angie heran. »Und, habt ihr euch bei eurem Spaziergang auf den neuesten Stand gebracht, du und Bill?«

Sie waren spazieren gegangen? Wann? Angie breitete die grüne Chenilledecke über ihren Schoß und zögerte mit der Antwort. Als sie die Beine anzog, bemerkte sie, dass Spinnweben am Saum ihrer Jeans hingen. Ihre Knie waren braun vor Staub.

»Ihr beide habt euch immer so nahgestanden«, plapperte Mom weiter. »Er war dein Lieblingsbabysitter, und er wollte noch nicht mal Geld von uns dafür haben.«

Wenn sie zurückdachte, konnte Angie sich nicht daran erinnern, dass Bill oft da gewesen war. Nun, vielleicht doch. Sie erinnerte sich daran, wie er kam und wie er wieder ging, aber sie hatte keine Ahnung, was dazwischen passiert war. Vielleicht hatte er ihr erlaubt, lange aufzubleiben und verbotene Sachen im Fernsehen anzugucken.

Ihr Puls raste noch immer, ihr Magen war übersäuert, ihre Arme waren rot, und ihre Beine taten weh. Was stimmte nicht mit ihr?

»So ein lieber Junge«, fuhr Mom fort. »Ich weiß noch, wie sehr er dir gefehlt hat, als er eingezogen wurde. Du hast eine Woche lang nur geweint.«

Seltsam. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn überhaupt vermisst hatte.